Immer mehr psychisch Kranke – Eine Mental Health Krise?
Psychische Probleme nehmen gefühlt zu: ca. jeder 3. Mensch in Deutschland fühlt sich psychisch krank (1). Vor allem 49 % der Frauen geben im AXA Mental Health Report einen schlechten psychischen Zustand an. Erkranken immer mehr Menschen psychisch? Stecken wir mitten in einer mentalen Gesundheitskrise?
Warum gibt es so viele psychisch kranke Menschen?
Ob TV, Zeitungen oder Social Media – wer sich heute durch die Nachrichten wühlt bzw. durch die Content-Flut scrollt, kann den Eindruck bekommen, die ganze Welt sei psychisch am Ende.
In Magazinen sprechen Promis über ihre Depressionen, im Radio singen Stars wie Billie Eilish über Seelenschmerz und Therapie, und in den News wird immer mal wieder die Frage nach einer „Mental Health Crisis“ aufgeworfen. Nicht zu vergessen: die sozialen Medien mit ihren Mental Health Influencern.
Mittlerweile finden sich sogar in dem ein oder anderen Bekanntenkreis Personen, die von ihrer ADHS, Depression & Co. erzählen. Zumindest vom Hören-Sagen kennen wir alle jemanden, dem psychische Probleme nachgesagt werden. Vgl. Depression: gesellschaftliche Ursachen – politische, wirtschaftliche und soziale Determinanten
Wie kommt es, dass immer mehr Menschen psychisch erkranken? Oder anders gefragt: Warum fühlen sich immer mehr Menschen psychisch krank?
Pathologisierung von Gefühlen
Es ist doch wirklich sehr auffällig, dass immer mehr Gefühle und Verhaltensweisen, die früher als ganz normal galten, heute in der Schublade „pathologisch“ landen. Da hat der “therapeutische Diskurs” (Eva Illouz) seit den 1960ern ganze Arbeit geleistet und eine Reihe neuer Etiketten erschaffen, die unser Menschenbild stark beeinflussen.
Ergebnis: Selbst Menschen in einer vorübergehenden Krise wird schnell eine Krankheit aufgeschwatzt, obwohl sie nicht krank sind. » Vom Symptom zur Diagnose – Checkliste Depression
Das liegt selbstverständlich auch an den umfangreichen Diagnosesystemen, die alles in ihrer Liste führen, was nach der Meinung einiger Experten nicht ganz rund läuft im Kopf. Das ist mehr als bedenklich – und hat dazu geführt, dass sich in den vergangenen 40 Jahren (von 1980 bis 2024) die Anzahl der Störungen in den Diagnosekatalogen verdreifacht hat.
Auf der anderen Seite sickern psychologische (und pseudo-psychologische) Begrifflichkeiten in unsere Umgangssprache, die ebenfalls Einfluss auf das Selbsterleben ausüben. Wie “toxisch“, “schizo”, “depri” oder “triggern“.
Vgl. Pathologisierung & Medikalisierung – Die kranke Gesellschaft?
Selbst Trauer ist nicht mehr normal
Wenn wir alles abwerten, was nicht ins utopisch-positive Idealbild passt, wird es sehr schwierig. Das gilt vor allem für Trauer, die in eine gefährliche Nähe zur Depression oder Trauerstörung gestellt wird.
War es früher völlig okay, dass du mindestens ein Jahr lang um einen geliebten Menschen getrauert hast, werden dir heute nur jämmerliche 2 Wochen für den Trauerprozess eingeräumt.
Damit dürften die Diagnose-Zahlen in den nächsten Jahren weiter explodieren, schließlich sind wir alle mehrmals im Leben mit solchen Verlusten konfrontiert.
Psychotherapie als Lifestyle?
So werden heutzutage Menschen therapiert, die nicht auf eine Psychotherapie angewiesen sind, und denen es von selbst wieder besser gehen würde. Im Gegenzug finden diejenigen, die ernsthaft psychisch erkrankt sind, keine Therapieplätze.
Das ist ein großes Problem! Denn bei psychischen Krankheiten besteht viel häufiger, als viele denken, Suizidgefahr. Die Suizidzahlen in Deutschland stagnierten lange Zeit und stiegen im Jahr 2023 wieder auf 10.300/pro Jahr an (2).
Obendrauf kommt noch das “Yavis”-Problem (9) = young, attractive, verbal, intelligent, successful – zu Deutsch: junge, attraktive, wortgewandte, intelligente und erfolgreiche Patienten erhalten bevorzugt eine Psychotherapie, weil die Behandlung den Fachkräften einfacher/erfolgreicher erscheint. Schwere Fälle und Akutkrisen werden hingegen gerne gemieden.
Vgl. Klassismus in der Psychotherapie und Psychotherapie Kritik – Wie wirksam ist Psychotherapie wirklich? sowie Stigmatisierung in der Psychiatrie: Ignoranz & andere Übel.
Bitte nicht falsch verstehen: Wer in einer Krise steckt, braucht Hilfe. Das ist völlig legitim. Aber im Falle von depressiven Verstimmungen oder anderen Lebens-Problemen braucht es eben keine medizinische Behandlung, sondern psycho-soziale Unterstützung in Form von Seelsorge, praktischen Hilfen, Coachings, evtl. Präventionskursen u. v. m.
Warum fühlen sich immer mehr Menschen psychisch belastet?
Die Krankenkassen verzeichnen eine steigende Anzahl von psychischen Diagnosen bei ihren Versicherten. Da sollten alle Alarmglocken schrillen, denn es muss ja Gründe geben, warum sich so viele Menschen krank fühlen.
Im Tagesspiegel heißt es dazu (3): »"Viele Menschen erleben angesichts der Weltenlage Unsicherheit und Kontrollverlust. Das kann dazu führen, den Boden unter den Füßen zu verlieren“, sagt KKH-Arbeitspsychologin Antje Judick. Auch manche Nachwirkungen der Corona-Pandemie würden sich erst jetzt zeigen. (…)«
Allerdings waren die Menschen schon immer sozialen Ungleichheiten, wirtschaftlichen Unsicherheiten, Kriegen, Naturkatastrophen und Epidemien ausgesetzt, ohne massenhaft psychisch zu erkranken. Vgl. Depression: Gesellschaft
Hoher Stresslevel in der Moderne
Daher führen Experten weitere mögliche Gründe an: Digitalisierung, Beschleunigung, Globalisierung etc. Gleichzeitig verändern sich weitere Lebensstrukturen, wie Familien und Partnerschaftsmodelle.
Dr. Carlos Schönfeldt-Lecuona vom Universitätsklinikum Ulm meint sogar:
„Heute stehen die Menschen allgemein stärker unter Stress. In Kombination mit weiteren Faktoren senkt dies die Schwelle für die Entwicklung psychischer Erkrankungen.
Die Menschen werden anfälliger für psychische Störungen und indirekt auch für körperliche Leiden.“
Vgl. Warum werden Menschen psychisch krank? – Philosophie über menschliche Vulnerabilität
Arbeitsverdichtung & Belastung
Immer wieder stehen auch die erhöhten Arbeitsbelastungen in der Kritik. Zu Recht, denn auch hier sorgen Digitalisierung und Arbeitsverdichtung nicht unbedingt für mehr Produktivität/Effizienz, sondern vor allem Druck.
Neue Technologien erfordern zudem flexible Anpassung an neue Anforderungen im Job, immer und immer wieder. » Psychosoziale Faktoren der Depression
Kindheit heute
Und was ist eigentlich mit den Normierungen, die unser gesamtes Leben durchziehen? So schreibt der Pädagoge und Soziologe Martin Textor (10):
“Eigentlich ist es ein Wunder, dass viele (Klein-) Kinder trotz all der Verschulung der frühen Kindheit, der ständigen Überwachung, der fortwährenden Überprüfung ihrer Entwicklung und der häufigen korrigierenden Interventionen noch fröhlich sind.
Hier zeigt sich die große Resilienz von Kindern"
Soziales Netz
Last but not least sind soziale Umwälzungen nicht zu unterschätzen. Einerseits sind traditionelle, unterstützende Familienstrukturen immer noch das Ideal schlechthin.
Andererseits findet sich dieses Idealbild immer seltener in der Wirklichkeit (falls es überhaupt außerhalb gehobener Schichten existierte), was wiederum den veränderten Arbeitsverhältnissen und Lebensbedingungen geschuldet ist. Ähnliches gilt auch für andere soziale Beziehungen und Netzwerke.
Informations-Überflutung & kognitive Überlastung
„Need for Cognitive Closure“ (Bedürfnis nach Abgeschlossenheit) ist ein Schlagwort aus der Sozialpsychologie. Der Begriff beschreibt das menschliche Bedürfnis danach, Handlungen oder Ereignisse abzuschließen, klare Antworten in Wissensfragen zu erlangen, Unsicherheiten auszuräumen usw. Kurz: Unfertiges und Zweideutigkeiten können mental-emotional belasten.
Eine häufige These besagt daher, dass die ständige Informationsflut an neuen Meldungen, gegensätzlichen Infos und vielfältigen Darstellungen das Bedürfnis nach Abgeschlossenheit untergraben. Wir werden mit einer Unzahl an konzentriertem Content überhäuft, den wir weder kognitiv noch emotional in so schneller Zeit verarbeiten können.
Das Resultat: Überforderung.
Doomscrolling: negative News überall
Mediale Omnipräsenz von Leid & Unglück
In den USA ist die Mitgefühlsmüdigkeit (Compassion fatigue) bei medizinischem Fachpersonal oder pflegenden Angehörigen bereits ein Thema. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Traumaforschung und ist hierzulande als “sekundäres Trauma” / sekundäre Traumatisierung bekannt. 1995 bemerkte der Psychologe Figley, dass Personal, das regelmäßig mit traumatisierten Menschen in Kontakt kam, ähnliche Beschwerden ausbildete wie die Patienten selbst.
Zur Compassion Fatigue zählen Symptome wie Gefühllosigkeit (Empathielosigkeit), Aggressivität, Anhedonie, Zynismus, Schlafstörungen, Angst, Schuld- und Schamgefühle etc.
Etwas Ähnliches lässt sich auf gesellschaftlicher Ebene beobachten: Heutzutage werden wir durch Digitalisierung und Globalisierung viel häufiger und intensiver mit Kriegen, Unglück, Katastrophen konfrontiert. Und das multimedial in Form von Bildern, Videos, Texten und Podcasts. In US-Medien ist teilweise von “Worry Burn-out“ die Rede.
Das geht nicht spurlos an einem Menschen vorbei, dauerhafte Angst mitsamt Stress erschöpft psychisch und physisch. Sie macht langfristig unempathisch, zynisch, stressanfällig u. v. m.
Was sagen die Betroffenen selbst?
Beim AXA Mental Health Report 2023 gaben die Teilnehmer an, was genau ihr psychisches Wohlbefinden beeinträchtigt.
Die Antworten:
steigende Preise und Lebenshaltungskosten (89 %)
Krieg (81 %)
Wirtschaft (76 %)
Klimawandel (67 %)
Die 18- bis 24-Jährigen betonten weitere Faktoren:
das eigene Körperbild (75 %)
gesellschaftliche Erwartungen (75 %)
sozialen Medien (ca. 60 %)
ständige Erreichbarkeit im Internet (ca. 60 %)
Während die Älteren reale Existenzsorgen belasten, leiden die Jüngeren zusätzlich unter sozialen Normen (bzgl. Aussehen, Leben und Leistung).
Quellen:
1) AXA Mental Health Report 2023
2) aerzteblatt.de: Suizidprävention: Verbände beziehen diese Woche Stellung (02.12.2024)
3) Karin Christmann: Depression, Überlastung, Stress: Immer mehr Berufstätige sind psychisch krank (Tagesspiegel, 09.08.23)
4) Stiftung Gemeindepsychiatrie Bonn-Rhein-Sieg: Psychische Erkrankungen nehmen zu (16.02.204)
5) Andrea Weber-Tuckermann: »Die Menschen werden anfälliger für psychische Erkrankungen«. Interview mit Prof. Carlos Schönfeldt-Lecuona (Universität Ulm)
6) Lothar Nickels: Psychische Erkrankungen nehmen zu (Planet Wissen)
7) Julia Lorenz, Dr. Jakob Simmank: Und immer reden die Falschen (Zeit online, 18.02.2024)
8) Gitta Jacob: „Wir reparieren immer nur die anderen“ (Psychologie heute, 04.12.2020)
9) Jenny Bargetzi, Simon Hehli: Die Pathologisierung der Gesellschaft: «Menschen werden unnötigerweise zu psychisch Kranken gestempelt» (Interview in Neue Zürcher Zeitung, 09.01.2024)
10) Martin R. Textor: Die Normierung, Pathologisierung, Kasernierung und Programmierung des Kindes (Das Kita-Handbuch, 25.04.2021)