Die Lust an der Gerechtigkeit – Oder: Warum es keinen Spaß macht, ein schlechter Mensch zu sein.
Kennen Sie das: Sie sehen eine bestimmte Situation, in der ein Mensch offensichtlich ungerecht behandelt wird – und ärgern sich. Sie haben mit der Situation selbst gar nichts zu tun und auch nicht mit dem Opfer der Ungerechtigkeit, trotzdem ärgert Sie das, was sie da erleben. Irgendetwas ist aus den Fugen geraten, das auch Sie betrifft. Etwas gerät ins Wanken, auf dessen Stabilität auch Sie angewiesen sind: Verlässlichkeit in einer Gemeinschaft, das Ringen um Ausgleich und die Geltung des Prinzips rational begründeter Unterschiede.
Heute kann man das sogar messen und empirisch nachweisen. In ökonomischen Entscheidungsexperimenten bestraft die Gemeinschaft Trittbrettfahrer.
Im Labor lassen sich physiologische Reaktionen nachweisen, wenn Menschen Filme gezeigt werden, die ungerechtes Verhalten thematisieren: Die Pupillen werden weit, der Blutdruck und die Herzfrequenz steigen. Wir regen uns über Ungerechtigkeiten auf, auch, wenn wir persönlich nicht in diese involviert sind. Das heißt, wenn unsere empirische Person nicht betroffen ist.
Doch unser Menschsein ist betroffen, soweit wir eben andere Menschen ungerecht behandelt sehen. Die Empathie mit dem Anderen führt bis hin zur Identifikation – das Mit-Leid ist vorprogrammiert (Stichwort: Spiegelneuronen).
Wenn wir also gerecht sind, dann deshalb, weil wir in einer gerechten Welt leben wollen, in der alle (auch wir selbst) gerecht behandelt werden. Auch dann, wenn wir keine Konsequenzen fürchten müssen, sind wir gerecht, um die universale Gerechtigkeit zu stärken. Wir geben etwa Trinkgeld auf der Durchreise, auch, wenn wissen, dass wir höchstwahrscheinlich nie wieder in diesem Restaurant essen werden.
Die Verwirklichung der Gerechtigkeit ist eines der stärksten Motive menschlichen Handelns – stärker als Furcht und Egoismus.
Platons idealer Staat
Jemand, der felsenfest von dieser These überzeugt war, ist der Philosoph Platon. In seiner Politischen Utopie Politeia beschreibt er nicht nur den idealen Staat als Verwirklichung der Gerechtigkeit, sondern begründet auch, warum dessen Ständeorganisation Gerechtigkeit garantiert.
Die Politeia ist ein sehr komplexes Werk, das mitnichten nur Platons Staatslehre enthält. Es ist die Grundlage seiner Philosophie, enthält Gedanken zur Ethik, Seelenkunde, Erziehung, Kultur, Soziologie und Eugenik. Weit über die akademische Philosophie hinaus bekannte Texte Platons sind darin enthalten, wie das Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis.
Im Kern geht es in der Politeia aber um das Problem der Gerechtigkeit und die Frage, welche Staatsverfassung am ehesten Gerechtigkeit ermöglicht.
Platon zufolge setzt sich der ideale Staat aus drei Ständen zusammen.
Für die wirtschaftliche Struktur des Staates ist der Stand der „Handwerker und Bauern“ zuständig.
Für die Sicherheit des Volkes ist der Stand der „Wächter“ da
und die politische Leitung obliegt den Philosophen.
Der jeweilige Stand eines Menschen wird durch seine Erziehung bestimmt
Ziel der Erziehung ist die Weisheit. Diese zu erreichen gelingt aber nicht jedem. Tatsächlich ist Platons ideales Erziehungssystem so aufgebaut, dass es hauptsächlich auf die Ausbildung von Philosophen ausgerichtet ist.
Die Rangordnung basiert auf den antiken Tugenden:
Besonnenheit als Tugend des Nährstands,
Tapferkeit die typische Tugend des Wehrstands
und Weisheit die des Lehrstands.
Die Gerechtigkeit als vierte Tugend entspricht der ganzen Gesellschaft.
In dem gerechten Staat nimmt jeder einzelne Stand seine Aufgabe wahr, ohne dabei die Tätigkeit der anderen Stände zu beeinträchtigen.
Platons Idealstaat liegt damit der Gedanke zugrunde, dass jeder nur eine Sache gut machen kann und sich deshalb allein darauf beschränken sollte.
Deshalb gibt es eine strikte Trennung der Stände: Nährstand, Wehrstand und Lehrstand sind gesellschaftliche Kasten ohne Aufstiegschance oder Abstiegsrisiko.
Die Basis bildet dabei die Mehrheit der Bevölkerung: der Nährstand.
Er umfasst Handwerker und Bauern, die das Volk materiell versorgen. Für den Wehrstand sollen die besten Leute ausgewählt werden, um den Staat nach innen und nach außen zu verteidigen.
Aus diesen Kreisen soll wiederum eine Elite ausgesucht werden, die den Lehrstand bildet, um den Staat zu regieren. Dabei ist die wichtigste Forderung Platons, dass die Philosophen herrschen oder die Herrscher wenigstens philosophieren sollen, da nur durch Philosophie die Idee des Wahren, Guten und Schönen erkannt und so der Staat gerecht regiert werden kann.
Das ist der eigentliche Kernsatz der Politeia. Das wird dadurch unterstrichen, dass er genau in der Mitte des Textes steht. Weil der Herrscher aber diese Idee erkannt hat und somit unfehlbar ist, unterliegt er keiner anderen Kontrolle als seiner eigenen Einsicht.
Deshalb ist Platons Idealstaat keine Demokratie, sondern eine Aristokratie.
Platon beschreibt in der Politeia eine Analogie von Staat, Tugenden und Seelenteilen in Bezug auf ihren Aufbau. Die drei Stände des Staates entsprechen den drei Tugenden ebenso wie den drei Teilen der Seele.
Die Seele kann nur intakt und somit glücklich sein, wenn alle Teile im Gleichgewicht sind, also Harmonie vorliegt. Ebenso kann der Staat nur funktionieren, wenn alle drei Stände im Gleichgewicht sind und alle Stände gemäß den ihnen entsprechenden Tugenden ihre spezifischen Aufgaben (regieren, verteidigen, erwerben) erfüllen, ohne sich in die Geschäfte des jeweils anderen Standes einzumischen.
Und dabei nimmt Platon eine klare Hierarchisierung der Stände vor, die mit dem Wert der Tugenden und der Größe der Lust korreliert. An der Spitze stehen nach Platon nicht nur die weisesten, sondern auch diejenigen Menschen mit der größten Lust an der Realisierung ihrer spezifischen Fähigkeiten.
Die alles übersteigende Lust liegt für Platon nämlich im Streben nach jener Tugend, die die Gerechtigkeit wie keine andere befördert: Weisheit. Also: Weise sein (Lehrstand) – und damit gerecht, das macht Spaß! Mehr Spaß als alles andere, etwa die Lust an der Ehre (Wehrstand) oder an der Begierde (Nährstand).
Nur der Gute, der Gerechte kann wirklich glücklich werden
Interessant ist einerseits die Absage an den Materialismus (den man vom Vater der Idealismus auch erwarten darf), andererseits die Lösung des Motivationsproblems auf einer sehr einfachen Ebene.
Platon wusste nichts von Spiegelneuronen und Empathieforschung, ahnte aber, dass wir selbst etwas „davon haben“, wenn wir gerecht sind: einen angenehmen Zustand, den er „Lust“ nennt.
Für die Antike ist das typisch: Zwischen Glück und Güte wird kein Keil getrieben (wie das später Kant tun wird), sondern sie bedingen einander. Nur der Gute, der Gerechte kann wirklich glücklich werden.
Und: Wer das Glück sucht, sollte einfach mal etwas Gutes tun. „Gut sein“ als Gesamtheit tugendhafter Lebensvollzüge und „Glücklich sein“ als Gefühlskomponente fielen in der Antike zusammen.
Auf die Frage „Geht es Dir gut?“ antwortete man „Ja, ich handle gut.“ Es geht mir gut, wenn ich gut handle!
Wahrheitsliebe als höchstes Gut
Auf die Lustarten (und die Überlegenheit der Weisheitsliebe) geht Platon ein, nachdem er die Dreiteilung seines Staates analog zur Dreiteilung der Seele entwickelt hat. Der Lehrstand, also die Philosophen, regieren das Gemeinwesen, weil sie mit dem bei ihnen besonders gut ausgeprägten Teils der Seele (der Vernunft) die Tugend der Weisheit am besten verwirklichen können, wobei ihnen ihre Weisheitsliebe hilft.
Der Wehrstand, die Wächter, verteidigen den Staat; ihre Tugend ist die Tapferkeit, getragen von einem Übermaß an Mut, motiviert durch die Ehrliebe.
Der Nährstand, also die Handwerker und Bauern, sorgen dafür, dass in der Gesellschaft die materiellen Grundbedürfnisse gesichert sind, getragen von der Tugend der Besonnenheit, zugleich jedoch die Begierde als Hauptcharakterzug nutzend, um geschäftstüchtig und produktiv zu sein – Motiv: die Lust der Begehrlichkeit.
Platon kommt zu dem Schluss, dass die Weisheitsliebe die angenehmste Lust sei, gefolgt von der Ehrliebe und der Begehrlichkeit, die bei Platon an einigen Stellen auch als Gewinnsucht erscheint und damit schon sprachlich abfällt.
Die Lust des Weisen sei rein und wahr, die Lust des Ehrliebenden und des Gewinnsüchtigen seien dagegen nichts als „Schattenrisse“.
Platon übernimmt hier das Bild aus dem Höhlengleichnis für die Klassifizierung der Lustarten: Analog zu der Annahme, nur die Philosophen sähen die Dinge so, wie sie sind (und nicht bloß deren Schatten an der Wand), erscheint ihm auch allein ihre Lust als „echt“ – eben: rein und wahr.
Als reine Lust gilt bei Platon Phänomene, die über dem körperlichen Wohlbefinden (Schmerzfreiheit) liegen, Ausdrucksformen der Ästhetik, das Schöne an Gestalt, Geruch und Klang.
Philosophen empfinden mehr “wahre” Lust
Wahr sind Lustempfindung dann, wenn sie den Menschen wirklich erfüllen und dieses Gefühl des Erfülltseins von Dauer ist. Die Überwindung der seelischen Leere durch Erkenntnisse von großer Bedeutung und Beständigkeit ist nach Platon eine wahre Lust.
Denn der Mensch erhält damit mehr Anteil am idealen Sein (dem Ideenhimmel) und richtet sein Leben auf die Ewigkeit hin aus. Das Füllen der inneren Leere mit Wissen über die äußere Welt sorgt damit für wahrhaftes Wohlbefinden und wahre Lust.
Der Philosoph mit seiner Weisheitsliebe hat demnach den größten Genuss, weil er echte Lust empfindet und daher den besten der drei möglichen Lebensentwürfe verwirklicht.
Platon quantifiziert sogar die Überlegenheit des Philosophenherrschers hinsichtlich der Lust im Vergleich zu den anderen Entwürfen und kommt zu dem Ergebnis, dass der Philosoph ein Vielfaches an Lust empfindet und 729-mal glücklicher sei als der aus dem zur Herrschaft gelangten Nährstand hervorkriechende Tyrann (Politeia, Vers 587e).
Ausblick: Lust an der Gerechtigkeit
Man muss Platon hier nicht in jedem Detail folgen.
Die platonische Herleitung des Gerechtigkeitsbegriffs über die reine und wahre Lust des Weisen ist sicher für komplexe Gesellschaften unterbestimmt.
Doch grundsätzlich ist die Begründung des Zusammenhangs von Gerechtigkeit im Gemeinwesen und individuellem Wohlergehen interessant.
Gerade in einer Zeit, in der der Gute als der „Dumme“ gilt und egoistische Ellenbogenmentalität zu herrschen scheint, kann uns Platon etwas Wichtiges mit auf den Weg geben: Wir werden so nicht glücklich.
Denn: Es macht einfach keinen Spaß, schlecht zu sein. Wenn wir hingegen die Weisheit lieben und damit der Gerechtigkeit mehr Bedeutung beimessen als unserem Ansehen und unserem Kontostand, dann können wir wirkliche Lebensfreude erfahren.