Depression als Schutz – Welchen Sinn haben Depressionen?
Über den möglichen Schutzmechanismus von Depressionen wird immer wieder diskutiert. Kann die Depression ein Schutz sein? Aber wovor genau? Nicht nur Experten sprechen sich dafür aus, sondern auch Betroffene. Aber ist es überhaupt möglich, der Sinnleere der Depression eine Funktion oder einen Sinn abzugewinnen?
Haben Depressionen einen Sinn?
Manche glauben, sie sind ein Schutz-Mechanismus. Andere, sie dienen der Weiterentwicklung. Doch was spricht dafür, was dagegen?
Depression als Schutzmechanismus?
Könnte die Depression einen tieferen Sinn haben?
Die meisten Betroffenen fragen sich nach dem großen WARUM. Aus gutem Grund: je mehr Du von Depressionen verstehst, desto besser kannst Du Dich vor ihnen schützen bzw. sie bewältigen. Außerdem ist es eine Eigenschaft des Menschen, nach Sinnzusammenhängen zu suchen (vgl. Was ist der Sinn des Lebens heute?).
Worin könnte der Schutzmechanismus “Depression” bestehen?
Es gibt Stimmen, die Depressionen als Schutz-Mechanismus verstehen wollen. Dann gibt es wieder andere, die Depressionen als Reflexions-Booster interpretieren, so wie jede andere Lebenskrise auch.
Als Betroffene frage ich mich:
Sind Depressionen wirklich eine Krise, wie jede andere?
Welchen Sinn kann das Gefühl von Sinnlosigkeit & existenzieller Leere für einen Menschen haben?
Inwiefern kann etwas schützen, dass gleichzeitig Risiko für Suizid, soziale Ausgrenzung, andere Krankheiten ist?
Über den Sinn der Depression
Dass Depressionen einen geheimen Sinn haben, ist keine Idee der Moderne. Bereits Aristoteles war der Meinung, alle Menschen, die Hervorragendes geleistet hätten, besäßen ein melancholisches Gemüt, das krankhafte Züge annehmen könne.
Und der Renaissance-Dichter Milton reimte: "Begrüßt die göttliche Melancholie, ihr Antlitz ist so strahlend hell, für Menschenaugen bald zu grell". (Mehr zum Thema: Genie & Depression)
Auch Charles Darwin glaubte, sein schweres Leiden hätte ihm erst ermöglicht, sich für seine umfassenden geistigen Studien zurückzuziehen. Genauso wie Virginia Woolf, die ihre Depression als notwendige Bedingung für ihre Kreativität ansah.
Depression als schützende Notfall-Reaktion?
Dass Depressionen eine Schutzfunktion haben, glaubt zum Beispiel der Facharzt für psychosomatische Medizin Dr. Herbert Mück.
Der Mediziner macht dazu nicht einfach nur eine Aussage, sondern engagiert sich eigens mit einer Website namens “Rettet die Depression”:
„Wenn jemand im Rahmen eines Infektes, einer Autoimmunerkrankung oder auch eines Krebsleidens „depressiv“, also antriebslos wird – was häufig der Fall ist –, hat dies zur Folge, dass sich der Organismus zwangsweise schont und keine weiteren Energien unnötig verausgabt.“ (Mück, 2).
Die gleiche Auffassung vertreten die deutschen Psychotherapeuten Nossrat Peseschkian und Udo Boessmann:
"Ängste und Depressionen sind Alarmzeichen, die Schlimmeres verhüten sollen (...) Sie sind ein Aufbegehren des Körpers und der Seele gegen reale Gefahren, ungelöste Konflikte, untragbare Belastungen, unerfüllte Bedürfnisse und ungenutzte Potenziale (...)
Durch Ängste und seelischen Schmerzen vollziehen wir die notwendige Anpassung an die Gegebenheiten des Daseins” (7)
Und auch die Heilpraktikerin Ulrike Fuchs (8) erläutert Depressionen so:
„Dabei dient die Depression als eine Art Schutzmechanismus. Sie sagt dort „Stopp“, wo man es schon längst und sehr dringend hätte sagen müssen. Eine Depression dient also als eine Art „innere Notbremse“, die gezogen wird, um sich vor etwas zu schützen. Seien es unliebsame Gefühle oder Verhaltensweisen von unseren Mitmenschen, die wir ablehnen.“
Stimmt, die Umwelt nimmt einen großen Einfluss auf unsere psychische Entwicklung (vgl. Volkskrankheit Depression). Trotzdem ist es fraglich, ob Depressionen ein Schutz-Mechanismus sind – schon allein deshalb, weil sie so unterschiedliches und vor allem gewaltiges Leid verursachen.
Evolutionspsychologie & Zweck der Depression
In der Tradition Darwins tüfteln natürlich auch Evolutionspsychologen an Thesen, die Depressionen erklären könnten.
Denn eigentlich müssten Menschen mit Geisteskrankheiten ja nach evolutionsbiologischem Gedanken aussterben.
Warum also hat diese Krankheit überlebt?
Ihre Antwort: Sie muss einen Zweck für den Menschen haben. Schließlich verbreitet sie sich auch rasant auf der Welt.
Die Grundannahme der Evolutionspsychologie lautet:
Das Gehirn ist durch die Geschichte seiner Entstehung geprägt.
In den Mittelpunkt der Überlegungen steht das Phänomen der Gedankenspiralen – dem ständigen Grübelzwang über Probleme und Negatives.
Depression als Training der Resilienz
Forscher fragten sich entsprechend, ob das chronische Grübeln nicht doch helfe, das eigene Denken selbst zu reflektieren.
"Es schien uns nicht logisch, dass das Gehirn ausgerechnet dann versagt, wenn es am meisten gebraucht wird", sagt Paul Andrews. "Vielleicht sucht es nur besonders konsequent nach einem Ausweg." (3, 20)
Der Mediziner glaubt: "Wenn es die Depression nicht gäbe, würden wir Lebenskrisen weniger gut meistern." Er geht sogar noch weiter: "Manchmal geraten die Symptome außer Kontrolle. Doch das eigentliche Problem ist die Gesellschaft. Sie glaubt, eine Depression müsse unter allen Umständen vermieden und im Ernstfall medikamentös bekämpft werden. Wir haben vielleicht das gesellschaftliche Stigma beseitigt, das eine Depression umgibt. Stattdessen stigmatisieren wir jetzt schon die Traurigkeit." (3)
Philosophie über den Sinn der Depression
Hm, Zweck und Sinn – ist das das gleiche? Ist Sinn immer nur ein Mittel für ein anderes Ziel?
Aus philosophischer Sicht auf jeden Fall nicht! (vgl. Sinn des Lebens).
Der Philosoph und Publizist Bernd Schuppener hat Depressionen am eigenen Leib erfahren und darüber das Essay „Seelennot“ geschrieben.
Er ist natürlich nicht der erste Philosoph, der psychischen Krankheiten einen Sinn abgewinnt. Auch Kierkegaard, Nietzsche u.v.m. stellten Überlegungen an, die eine Menge erklären könnten…aber nicht müssen.
Depressionen als Sinn-Botschaft
Herr Schuppener möchte ganzheitlich philosophisch ansetzen und dabei die großen Fragen des Lebens erörtern. Du weißt schon: Seele, Tod, Ursache und so was. Er glaubt, Depressionen können einen wichtigen Sinn im Leben haben und dadurch ihre Sinnlosigkeit verlieren.
Nach dem Motto: Die Depression will Dir etwas sagen und ihre Botschaft trägt zu einem glücklichen Leben bei.
Depression als kleiner Tod
Wenn er die Depression dann als Seelennot beschreibt, wird er fast schon mystisch. Sie kann wie ein kleiner Tod sein oder korrigierend ins Leben eingreifen.
Die geschenkte Möglichkeit zur „Neuerschaffung meiner Welt“ (15, Seite 46) erkennt der Depressive aber erst danach, wenn er oder sie das Nichts durchgestanden hat.
Schuppeners Lösung klingt fast schon zu banal: Die Depression annehmen, sich in sie fallen lassen. So könne sie von alleine über die Zeit hinweg von innen heraus heilen.
Widerspruch von Depression & Sinn
Ist es notwendig, zu erwähnen, dass ich anderer Meinung bin?
Manchen Philosophen (Nietzsche, Schopenhauer) würde ich nicht zustimmen, andere (Kierkegaard, Heidegger) etwas anders interpretieren. Recht gebe ich allen, die meinen, die Depression wäre mehr als eine Gehirnkrankheit, die auf einem stofflichen Ungleichgewicht beruht.
Doch genauso wie bei Genie & Wahnsinn ausgeführt, sehe ich in psychischen Krankheiten nichts Positives. Depressionen sind eine tückische Gefahr für Leib und Seele als Ganzes:
Depressionen haben schwere Spätfolgen
Depressionen sind die Krankheit der „-losigkeiten“. Sie erzeugen gefühlte Gefühllosigkeit und existenzielle Sinnlosigkeit.
Das löst bei einigen Erkrankten Selbstmordgedanken aus.
Während manche Depressive aggressiv werden (Depression: Aggressionen in 50 % aller Fälle) – sich selbst gegenüber oder anderen – verhalten sich andere eher verängstigt (vgl. Angst & Depression) und darben unbemerkt.
So oder so: Eine Depression beeinträchtigt Deine psychische und physische Gesundheit. Sie verändert Dein gesamtes Leben zum Negativen, wenn sie nicht behandelt wird. Bewiesen wurde, dass chronische oder ständig wiederkehrende Depressionen das Gehirn verändern („entzünden“, 19).
Depressionen erzeugen gewaltiges Leid
Egal wie sich die Depression äußert – sie ist immer extrem qualvoll. Und das Leid der Depression ist viel zu schwarz und gewaltig, um es zu verstehen. Sie hindert Dich sogar am freien Reflektieren.
Als Fundament für Selbstverständnis und Selbstreflexion scheint sie mir nicht geeignet.
Depressionen sind Anstoß, nicht Bedingung zur Weiterentwicklung
Wer die positiven Aspekte von Depressionen betont, macht einen kategorialen Fehler.
Denn eigentlich wird immer vom positiven Leben nach der Depression gesprochen, nicht von der Krankheit selbst.
Ja, die Depression zwingt Dich dazu, Dich mit Deinem Leben auseinanderzusetzen.
Ja, Du kannst mit Krisen konstruktiv umgehen lernen.
Ja, häufig helfen philosophische und kreative Maßnahmen bei der Depressionsbewältigung.
Doch die Krise an sich bleibt, was sie ist – eine existenzielle Bedrohung, die nur 2 Möglichkeiten zulässt: Überleben oder Untergang.
Wie DU auf diese Krise reagierst, ist eine ganz andere Nummer.
Evtl. auch interessant für Dich: Was Dich nicht umbringt, macht Dich stärker – Wachstum nach Trauma?
Depressionen können körperliche Krankheiten auslösen
Depressionen bergen die große Gefahr, körperlich und seelisch vorzeitig zu verfallen.
Wenn Depressionen zur Auszeit und Regeneration zwingen sollen, um die Psyche wie ein Computer-System herunterzufahren, warum schädigen sie dann Körper und Seele so nachhaltig?
Menschen sind eben keine Maschinen. Unbehandelte Depressionen erzeugen chronischen Stress, der sich schädlich auf das Nervensystem, das Herz und den Blutdruck auswirkt.
Das sind die Grundsteine für ernsthafte Erkrankungen, die nicht selten in Folge einer Depression auftreten. Darunter: Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes, Demenz etc.
Selbst wenn die Depression vollständig „geheilt“ ist, zeigen Studien, dass Patienten*innen einen „Restschaden“ davontragen (18). So wurde bei schweren Depressionen zum Beispiel von bleibenden Wesensveränderungen, Aufmerksamkeitsproblemen, Gedächtnisstörungen etc berichtet.
Depressionen sind nicht nur persönliche Probleme
Depressionen haben mehrere Ursachen. Diese sind sowohl in persönlichen Faktoren als auch in äußeren Umständen zu finden.
Soziale und ökonomische Beeinträchtigungen sind massive Bedingungen, die eine Depression aufrechterhalten (17).
Verändern sich diese nicht, erleiden Betroffene meist Rückfälle oder greifen zu Alkohol, Medikamenten oder Drogen.
Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik
Depressionen sind keine Krise, wie jede andere
An Krisen hat der Mensch die Möglichkeit, zu wachsen. Keine Frage, das Leben hält spezielle Herausforderungen bereit, die nun mal dazugehören und mit denen wir umgehen müssen.
Doch eine Depression ist keine herkömmliche Krise, die sich durch Perspektivwechsel und Haltungsänderungen ins Positive wenden lässt.
Depressionen sind eine Krankheit, die Dich mit existentiellen Lebensfragen bombardiert, diese aber grotesk ins Negative verzerrt. Als Gefangene*r der Depression hast Du keine Freiheiten, alles Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Interpretieren, Analysieren etc. wird von der Depression vorgegeben.
Auch hier gilt: Wie Du mit der Krankheit umgehst, das ist eine ganz andere, höchst individuelle Sache.
Fazit: Depression als Schutz
Ehrlich, ich verstehe den Gedanken der positiven Umdeutung. Du bist frei, Dir den Sinn Deiner Erfahrungen zu konstruieren – jeder Mensch hat das Recht und die Fähigkeit dazu. Nur bitte sieh Depressionen und andere Krankheiten nicht als notwendige Bedingung für eine Lebensveränderung an.
Das käme einer Verklärung gleich. (Vgl auch Krankheitsgewinn)
Bitte nicht falsch verstehen: Es ist absolut legitim, die Krankheitsphase neben die anderen Krisen im Leben einzureihen, die alle für sich meist mit einem Erkenntnisgewinn im Nachhinein verbunden sind.
Aber eine Krankheit wie die Depression ist keine Garantie dafür, dass sie Dich zu einem besseren, weiseren oder glücklicheren Menschen macht. Überhaupt, musst Du sie erst einmal überleben.
Wie im Beitrag erwähnt: in der Philosophie nennen wir das einen Kategorie-Fehler.
Einen biologischen Zweck (=Mechanismus) zu unterstellen, das reduziert den Menschen auf seinen Körper.
Ja, determiniert ihn sogar. Und das ist leider eine sehr einseitige, defizitäre Sichtweise, die keinem menschlichen Wesen gerecht wird.
Vgl. Philosophie und Psychologie – Vgl. auch: Was ist Philosophie?
Quellen:
1) Hinderk M. Emrich: Welchen Sinn macht Depression? Das depressive Geschehen als Schutz und Botschaft
2) Tinka Wolf: Warum Depressionen auch heilsam sein können
3) Jonah Lehrer: Vom Nutzen der Schwermut
4) Joachim Bauer: Depression – die Krankheit mit dem Mangel an Sinn
5) MedizinInfo: Depression – Natürliche Reaktion oder Krankheit?
6) So Sad Today: Ihr nennt es Depressionen, ich nenne es die Wahrheit
7) dpa Redaktion: Sinnvolle und nützliche Depressionen?
8) Ulrike Fuchs: Depression – Wenn das Unbewusste eine Auszeit nimmt, um einen besseren Weg zu finden
9) Dieter Jenz: Gesunde Selbstwertschätzung als Schutzmechanismus der Seele
10) depressionenende.de: Haben Depressionen einen Sinn? Das sagt die Tiefenpsychologie
11) Bundesministerium für Bildung und Forschung: „Es ist, als ob die Seele unwohl wäre ...“ Depression – Wege aus der Schwermut. Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
12) Hinderk M. Emrich: Vom Sinn der Depression – Die positiven Perspektiven der Verzweiflung
13) Dr. Herbert Mück: rettet-die-depression.de
14) Dr. Daniel Hell: Kann Depression auch Sinn machen?
15) Bernd Schuppener: Seelennot – Essay über die Philosophie der Depression
16) scinexx: Depression entzündet das Gehirn –Entzündungswerte steigen mit Dauer der Erkrankung an
17) Neurologen und Psychiater im Netz: Auswirkungen und Folgen einer Depression
18) Dr. Volker Faust: Depressionen – Bleibt wirklich nichts zurück? Wahrscheinlich drohen vor allem kognitive Rest-Störungen (Aufmerksamkeit, Gedächtnis), besonders im höheren Lebensalter
19) Focus: Entzündet, geschrumpft, gestört – Forscher finden heraus, wie Depressionen das Hirn verändern
20) Psylex: Depression als Anpassung an komplexe Probleme? (Studie 2014)
21) Janssen für medizinische Fachkreise: Schwere Depression
22) Manfred Lütz: Neue Irre! Wir behandeln die Falschen