Der Mensch als ens sociale
Klar – das Leben ist nicht immer schön. Mehr noch: Manchmal ist das Leben richtig mies. Dann kann es sein, dass man dieses Leben nicht mehr ertragen mag, dass man einfach nicht mehr leben möchte. Diese Entscheidung trifft man allein – und doch ist man nicht allein. Jeder Mensch ist ein ens sociale – und bleibt es bis zuletzt.
Der Mensch verliert auch im Sterben nicht die Beziehung zu Dritten
Damit ist immer auch Verantwortung verbunden. Es ist eine Illusion zu meinen, der Suizid beträfe nur den Suizidalen selbst. Jede Handlung hat Konsequenzen für Dritte – auch der Suizid.
Jeder Mensch ist eingebettet in ein gigantisches, komplexes Netzwerk von Beziehungen. Wir sind alle miteinander verbunden. Wir haben – überdurchschnittlich sechs Ecken – Kontakt zu jedem anderen Menschen. Das sogenannte Jeder-kennt-jeden-Gesetz stammt noch aus einer Zeit vor den Sozialen Medien, die es dann eindrucksvoll bestätigt haben: Bereits 1967 prägte es der US-amerikanische Psychologe Stanley Milgram (vgl. auch Die Macht der Narrative)
It’s a Wonderful Life
Es gibt einen sehenswerten Film, der das auf anrührende Weise verdeutlicht: „Ist das Leben nicht schön?“ (im Original: It’s a Wonderful Life), eine US-Produktion aus dem Jahr 1946 unter der Regie von Frank Capra, basierend auf der Kurzgeschichte „The Greatest Gift“ von Philip Van Doren Stern. Dieser bekannte Weihnachtsfilm, vom American Film Institute zu den 100 besten Filmen aller Zeiten gezählt, stellt anhand des Protagonisten exemplarisch den Menschen als ens sociale vor.
George Bailey (gespielt von James Stewart) ist ein guter Mensch. Ausgerechnet am Heiligabend verliert er jedoch all seinen Lebensmut. Ein Fehler mit großer Tragweite lässt ihn am Sinn des Lebens zweifeln. Er beschließt, von einer nahegelegenen Brücke ins Wasser zu springen, um sich zu töten.
Plötzlich fällt ein älterer Herr ins Wasser, in Bailey triumphiert für den Augenblick der gute Mensch, der für Andere da ist, und er rettet den Mann, der Bailey damit am Suizid hindert, aus den Fluten. Der Gerettete stellt sich ihm als sein Schutzengel vor.
Bailey glaubt ihm zunächst nicht, sieht in ihm aber einen willkommenen Gesprächspartner, dem er sein Leid klagen kann. Als er sein Leben auf die Formel bringt, alle ins Unglück zu stürzen und es von daher wohl besser gewesen wäre, nie geboren worden zu sein, zeigt ihm der Engel, wie sich alles entwickelt hätte – ohne ihn, ohne George Bailey.
Jedes Leben ist wertvoll – für Andere
Bailey hat nun die (einmalige) Chance, den Lauf der Welt ohne ihn zu betrachten und muss feststellen, dass er in vielen Kontexten fehlt, dass er an schier allen Ecken und Enden gebraucht wird, dass zahlreiche Menschen ihn und seine Hilfe schmerzlich vermissen, dass Projekte ohne ihn scheitern, ja, dass die ganze Stadt ohne ihn eine andere, eine schlechtere wäre.
Er erfährt so seine Bedeutung für Andere und erkennt den Wert und den Sinn seines Lebens. Das ruft in ihm die Verantwortung wach und er beschließt, seinem Leben doch kein Ende zu setzen.
Der Status Quo ist wieder hergestellt, die Anderen sind nun für ihn da und helfen ihm aus seiner misslichen Lage – und der Engel erhält seine sehnlichst erwünschten Flügel.
Jenseits der wirklich anrührenden, meinetwegen auch etwas kitschigen Geschichte wird deutlich, wie mannigfaltig all jene menschlichen Beziehungen sind, die bei einem Suizid zugleich mitbeendet werden.
Bailey entdeckt, dass das Leben schön ist – weil er es nicht alleine lebt, weil Andere ihn brauchen, weil er ihnen etwas bedeutet. Wenn es einen Film gibt, den wirklich jeder Mensch mindestens einmal gesehen haben sollte, dann wohl diesen: It’s a Wonderful Life.
Mir hat er jedenfalls Mut gemacht, mit seiner unsterblichen Botschaft: Das Leben ist – trotz allem – schön, weil jeder Mensch – bei allen Schwächen und Fehlern – wertvoll ist.