Introjektion - die 1. Fallgrube unserer Kultur

 

Was ist Introjektion?

Introjektion meint das Erlernen von Sätzen und Grund-Sätzen über dich, über das Leben, die Männer, die Frauen, die Ausländer, die Zukunft, die Welt, Gott, richtiges und falsches Verhalten, Moral, Pflichten usw.

Andere Begriffe für solche (Grund-) Sätze sind Regeln, Werte, Überzeugungen oder auch Normen, Ge- und Verbote oder Glaubenssätze. Auch Vorurteile entstehen meist durch Introjektion.

Regeln, Ge- und Verbote …

Normen, Vorschriften, Lebensweisheiten - all das sind letztlich so etwas wie

“Eintrichterungen”.

Ob diese gut für uns sind oder nicht, merkt man nicht immer sofort. Manchmal glaubt man, das Gelernte sei richtig und hilfreich fürs Leben, und macht es zu etwas (scheinbar) Eigenem.

(Bild: Canva/ MM)


Wenn wir derartige Sätze introjizieren, verinnerlichen wir etwas, was vorher „außerhalb“ von uns gewesen ist, zB die Meinung oder Handlung eines anderen Menschen.

Man kann auch formulieren:

Wenn wir etwas introjizieren, schlucken wir es herunter und machen es somit zu etwas Eigenem. Dieses vermeintlich „Eigene“ kann jedoch „unverdaulich“ sein und uns schwer im Magen liegen.

Das was wir in uns aufnehmen, nennen wir das Introjekt.

 

Welche Introjekte gibt es?

Hier einige Beispiele von Introjekten:

  • Das Leben meint es nicht gut mit mir!

  • Du hast zwei linke Hände!

  • Iss deinen Teller immer leer!

  • Du bist peinlich!

  • Immer passiert mir so was!

  • Du bist genauso wie deine Mutter!

  • Du kannst doch nicht einfach das größere Stück Fleisch nehmen!

  • Andere mögen mich nicht!

  • Sei immer auf der Hut!

  • Von rechts droht Gefahr! (Bei einem Patienten fiel mir auf, dass er seine rechte Schulter immer ein wenig hochzog. Ich ließ ihn die rechte Schulter ein wenig stärker anheben, dann wieder fallen lassen, wieder anspannen. Das machten wir einige Male. Schließlich meinte er, dass er irgendwie einen Schlag von der rechten Seite erwartete. Kaum hatte er dies ausgesprochen, erinnerte er sich: Sein strenger Vater hatte bei Tisch stets rechts neben ihm gesessen und sofort geschlagen, wenn sein Sohn „nicht anständig“ bei Tisch saß.

  • Sei bescheiden!

  • Wenn du das (zB über den sexuellen Missbrauch) jemandem erzählst, wirst du Schuld an dem darauffolgenden Unglück sein!

  • Alles wird schlechter!

  • Ich bin unwichtig, ich zähle nicht.

  • Nur wenn du für Andere da bist, wirst du gemocht!

  • Deine Aufgabe ist das Zuhören und Helfen!

  • Andere mögen dich nicht, also bleibe stets im Hintergrund!

  • Eine Katastrophe wird eintreten!

  • Halte Andere auf Abstand, sonst wirst du verletzt!

  • Jegliche Vorurteile gehören auch in diese Rubrik, zB: Serbische Männer sind …/ Frauen können schlechter …/ Schwarze sind immer …/ Alle Engländerinnen …/ Männer wollen immer nur …/ etc

 


Wie werden Introjekte vermittelt?

Manchmal sind es Sätze, die wir immer wieder zu hören kriegen:

  • Pass auf, dass du nicht schwanger wirst!

  • Aus unserer Familie hat noch nie einer studiert!

  • Wer A sagt, muss auch B sagen!

  • Ein Indianer kennt keinen Schmerz!

  • Guck mal, wie tollpatschig sie ist!

  • Wenn du das erzählst, was ich mit dir gemacht habe, stirbt jemand!!

  • Wenn du willst, dass eine Frau bei dir bleibt, darfst du ihr niemals sagen, was du denkst!

  • Über Tote darf man nichts Schlechtes sagen!

  • Es ist deine Schuld!

  • Wer sein Abi erst auf dem 2. Bildungsweg schafft, darf sich niemals eine Blöße geben!

  • Wenn du einen Mann für dich gewinnen willst, gehe auf Abstand!

Oftmals werden Introjekte einfach vorgelebt:

  • Deine Mutter hatte immer für jeden ein offenes Ohr, egal wie sie sich selbst gefühlt hat.

  • Dein Vater hat stets bis zum Umfallen gearbeitet.

  • Deine Lieblingslehrerin war auch Zeugin Jehovas.

  • Deine Oma hat sich selbst geohrfeigt, wenn ihr ein Missgeschick passiert ist.

  • Dein Onkel hat oft über die Dummheit der Leute geschimpft.

Sehr oft sind es winzige Gesten, die solche Überzeugungen übermitteln:

  • Dein Vater nimmt dir wortlos den Hammer aus der Hand.

  • Deinen Schulaufsatz kommentiert der Lehrer mit einem Blick zur Decke.

  • Du nimmst das größte Stück Fleisch und wirst dafür böse angeguckt.

  • Immer wenn du ein Bedürfnis oder ein Gefühl äußerst, verlässt deine Mutter den Raum.

Schädliche Introjekte können sogar durch Lob entstehen:

  • Es ist toll, dass du in deinem Alter schon so vernünftig bist! (Unausgesprochen: … und keine Bedürfnisse hast!)

  • Niemand kann so gut zuhören wie du! (… ohne etwas dafür zu bekommen!)

  • Du schaffst immer alles alleine! (… ohne Hilfe zu benötigen!)

  • Du bist die tollste Freundin, weil ich dich jederzeit anrufen kann! (… ohne auf deine Grenzen achten zu müssen!)

Zufällige Abfolgen von Ereignissen können ebenfalls Introjekte erzeugen – ein Beispiel von mir:

Ich war voller Freude, als ich meinen Studienplatz erhielt. Am nächsten Tag verstarb völlig unerwartet mein Schwiegervater. Ich merkte erst später, dass folgendes Introjekt in mir entstanden war:
Immer wenn etwas sehr Positives geschieht, folgt eine Katastrophe auf den Fuß!
Ergebnis war, dass ich eine Zeitlang darauf achtete, mich nicht zu sehr über etwas zu freuen.

Introjekte infolge widersprüchlicher Botschaften (double bind-Introjekte) können sehr zäh sein!

Der Vater sagt sehr sorgenvoll: Natürlich musst du deinen Weg gehen!
(Verbal kann eine solche Äußerung als Ermutigung gemeint sein, die Mimik drückt vielleicht eher aus, dass der Vater ein Scheitern erwartet.)

Weiter unten habe ich noch ein besonders zähes und weitverbreitetes Introjekt aufgeführt.

Wir sind Opfer und Täter!

Wir alle haben vielfältige Introjekte in uns aufgenommen. In derselben Weise, wie wir Introjekte von anderen „zu schlucken“ bekommen haben, geben wir sie auch ständig an andere weiter:

  • indem wir sie unseren Kindern vorleben

  • indem wir Anderen mit kleinen Gesten und Blicken zu verstehen geben, dass man „das“ nicht macht

  • indem wir Andere missionieren

  • indem wir die Regeln bestimmen wollen

  • indem wir „wissen“, was richtig ist

  • indem wir unsere Moral verkünden wie: Man kann doch nicht einfach …! Man muss immer …! Wie kannst du nur …?!

Gute und schlechte Introjekte

Sehr viele Introjekte sind hilfreich:
Jemand bringt dir bei, wie man strickt, was man in Japan auf keinen Fall sagen sollte, dass Ich-Botschaften günstiger sind als Du-Botschaften.

Oder gar überlebenswichtig:
Gehe nicht bei Rot über die Straße! Trinke keinen selbstgebrauten Schnaps, weil er Methylalkohol enthalten könnte!

Viele Introjekte regeln das soziale Miteinander:
Es ist wichtig, genau zuzuhören!
Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem Andern zu!
Niemand darf Gewalt ausüben!

Introjekte können auch Werte, Zugehörigkeit und Zusammenhalt vermitteln:
Wir Lübecker sind besonders kontaktfreudig!

Introjekte sind also für das Zusammenleben unerlässlich.

Inwiefern können Introjekte krank machen?

Unter welchen Bedingungen sind sie schädlich und destruktiv?

Zerstörerisch und belastend können sie dann werden, wenn sie …

  • unausgesprochen bestehen

  • unbewusst wirksam sind

  • lebensfeindliche oder ungesunde Inhalte vermitteln

  • mehrere widersprüchliche Botschaften transportieren

  • individuelle Freiheiten sowie emotionale oder körperliche Prozesse mehr als nötig einschränken

  • mit Bestrafung, Beschämung oder Abwertung einhergehen

  • nicht offen verhandelt werden können.

Du wirst in meinen folgenden Beiträgen immer wieder auf solche (ungesunden) Introjekte stoßen.

Ein typisches Beziehungs-Introjekt

Hier will ich ein besonderes Introjekt kurz vorstellen, weil es sehr häufig auftritt, die Betreffenden in ihrem Beziehungsverhalten im Griff hat, ohne dass es ihnen bewusst wäre":

Stelle dir vor, dass eine völlig überlastete Mutter ihrem kleinen Sohn immer wieder vermittelt:

Ich kann jetzt nicht! Wenn du mich wirklich liebst, dann lässt du mich jetzt in Ruhe!

Das kann sich zu so einem widersprüchlichen double bind-Introjekt auswachsen: Als Erwachsener kann er später zwar emotionale Nähe aufbauen, aber nur zu Frauen, denen er nicht zu nahe kommen kann; zB weil beide entfernt voneinander leben; weil die Frau verheiratet ist; weil sie todkrank ist und bald sterben wird; weil er sich aus Angst vor Verlust zurückzieht, sobald es verbindlich werden könnte.

Du kannst dir sicherlich ausmalen, wie ver-zwei-felt dieser Mann sich nach einer Beziehung sehnt, aber stets sich und seine Partnerin unglücklich macht.

Wie zeigen sich Introjekte?

Woran kannst du erkennen, dass gerade ein schädliches Introjekt in dir wirksam ist? Es braucht einige Übung, sie zu erkennen; denn …

  • die meisten Introjekte tauchen nicht als ausformulierte Sätze in deinem Bewusstsein auf! Dann wäre es ja relativ einfach, sie als unangemessen zu identifizieren. Du könntest dann frei entscheiden, ob du dich gemäß dieser Regel oder dieses Grundsatzes verhalten möchtest oder nicht;

  • viele Introjekte erscheinen uns so selbstverständlich, dass wir sie gar nicht infrage stellen. Du denkst zB gar nicht darüber nach, ob du in einem Seminar das Fenster schließen könntest, um nicht weiter zu frieren, weil dein Introjekt dir vorschreibt, auf keinen Fall aufzufallen!

  • sie zeigen sich oftmals nur als (leibliche) Missempfindung wie etwa: Druck im Kopf, Kräuseln der Stirn, Enge in der Brust, Verkrampfung von Nacken und Schultern, Übelkeit, Schwindel, Verwirrung, unklares Sehen, Verschwommenheit, Milchglas-Gefühl, Ängstlichkeit, unerklärliche Aufgeregtheit, Erröten, Schamgefühl, Druck etwas bestimmtes (nicht) zu tun;

  • du siehst keinen Zusammenhang zwischen deinen Empfindungen und dem gerade wirkenden Introjekt.

Was kannst du gegen schädliche Introjekte tun?

Das ist natürlich die allerwichtigste Frage. In meinen Videos über Depressionen zeige ich dir einige Methoden, die du (mit Hilfe deiner Therapeutin) ausprobieren kannst. In vielen zukünftigen Beiträgen wirst du weitere Beispiele und Methoden gezeigt bekommen, die du ausprobieren kannst.

Grundsätzlich geht es in der Therapie darum:

  • Introjekte erkennen zu lernen und

  • zu prüfen, ob du das jeweilige Introjekt ganz loswerden, es umwandeln oder es nur abschwächen möchtest.

Wenn du ein Introjekt „erwischt“ hast, kannst du folgendes versuchen:

  • Gib ihm einen Namen! Formuliere es möglichst als Satz aus. Prüfe, welche Form am besten passt, also ob es eine Frage oder ein Befehl ist, ob es ironisch klingt, ob du selbst zu dir sprichst (Ich darf mich nicht zeigen!) oder ob es in der Du-Anrede formuliert ist (Du kannst doch nicht einfach …!)

  • Von welchem Absender stammt es? Hast du es von deinem Vater? Deiner Mutter? Einer Lehrerin? Dem ersten Freund? Einer Gruppe, zB in der Berufsausbildung?

  • Gib es zurück! Du kannst es an den „Absender“ zurückschicken (aber nicht „in echt“, s. nächster Punkt!), zB:
    - Mama, es ist DEIN Unglück mit Männern, nicht meins!
    - Verschone mich mit deiner Weltsicht, ich habe eine andere!
    - DU hast mich gezeugt, mach mich nicht für dein ungelebtes Leben verantwortlich!
    - DU bist der Täter, der mich vergewaltigt hat! Ich habe keine Schuld daran!
    - Schieb dir deine Bescheidenheit in den ARSCH! Ich kann sie nicht gebrauchen!

  • Aber nicht an die reale Person! Das geht meist schief!! Stattdessen führe symbolische oder rituelle Handlungen aus. Es geht ja nicht darum, dass der Absender etwas versteht oder deine Kritik annimmt! Wenn du das möchtest, würdest du dich von dessen „Wohl und Wehe“ abhängig machen.

  • Vielmehr willst du das Introjekt loswerden (oder abschwächen), auch gegen dessen Willen oder Überzeugung!

  • Suche dir eine Zeugin oder einen Unterstützer! Das kann auch eine Therapeutin sein.

  • Suche eine für dich geeignete Methode!
    - Du könntest den Absender zB als imaginäre Person auf einen Stuhl setzen und zu ihm sprechen.
    - Oder schreibe an diese Person einen „rücksichtslosen“ Brief! Du darfst alles, wirklich ALLES schreiben, auch blutrünstige Gedanken, gerade weil niemand diesen Brief realiter erhält.
    - Das geht übrigens auch, wenn die Person nicht mehr lebt oder ihr keinen Kontakt zueinander habt (frühere Klassenkameradin, die dich gemobbt hat).
    - Oder entwickle Rituale: zB das Introjekt auf einen Zettel schreiben und verbrennen / ein Foto von dem Absender aufstellen und bei jedem Vorbeigehen eine „Formel“ zu ihm sprechen / nach jedem Zähneputzen das Introjekt (zB: Du kriegst aber auch nichts hin!!) in den Ausguss kotzen.
    - Du hast bestimmt selbst viele Ideen dazu – meine Patientinnen waren stets sehr kreativ.

  • Beachte bitte: Dies sind keine Rezepte. Es sind Anregungen für deine eigenen Experimente. Probiere aus, was für dich hilfreich ist.

So geht es weiter …

Im nächsten Beitrag präsentiere ich dir einen Vorgang, der sicherlich bei allen psychischen Erkrankungen vorzufinden ist und an ihrem Entstehen zumindest beteiligt, wenn nicht gar für die Erkrankung ursächlich ist: die Retroflexion, sprich: das Zurückhalten und Gegen-sich-Selbst-Wenden von Impulsen.

Der Zusammenhang zwischen Introjektion und Retroflexion dürfte auf der Hand liegen: Um Introjekte „bedienen“ zu können, muss man viele Gefühle und Impulse kontrollieren und zurückhalten. Oft geht es nicht, ohne sich dabei selbst zu schädigen!

Dr. phil. Michael Mehrgardt

Hallo, meine Name ist Dr. phil. Michael Mehrgardt und ich war fast 40 Jahre lang als Psychologischer Psychotherapeut tätig. Dabei musste ich viele Missstände kennenlernen, die ich auf diesem Psychotherapie-Blog offen anspreche, das Thema: Grenzverletzung in der Psychotherapie. Auf meinem YouTube-Vlog  findest du Selbsthilfe-Tipps bei Depressionen, Ängsten, Paarkonflikten & Co.

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