Retroflexion- die 2. Fallgrube unserer Kultur
Rückblick: Introjektion
Introjektion bedeutet das Verinnerlichen, man kann auch sagen: das (unfreiwillige) Herunterschlucken von Überzeugungen, Regeln, Werten, Vorurteilen, Sätzen, Meinungen.
In meinem Beitrag über Introjektion habe ich dargestellt, wie Introjekte krank machen können und was du tun kannst, um Introjekte abzumildern oder loszuwerden.
Du hast zudem erfahren, warum Introjekte (fast) notgedrungen zu dem führen, was ich in diesem Beitrag ausführlich behandeln werde, nämlich zur …
Anmerkungen zum Thema Gewalt
In meinen Beiträgen fordere ich niemals zu Gewaltanwendungen auf, weder gegen dich noch gegen andere Lebewesen!
Gleichwohl breche ich mit einer Reihe Tabus, die Gewalt, Wut oder Aggressionen betreffen. Unsere Gesellschaft - also du und ich - verlangen von einander, Gewaltimpulse zu verdrängen. Damit lassen wir uns aber gegenseitig mit derartigen Gefühlen, Vorstellungen und Impulsen alleine, insbesondere Menschen, die in sich gekehrt sind und sich nicht trauen, sich zu äußern, abzugrenzen oder zur Wehr zu setzen.
Genau damit, so lautet meine These, fördern wir nicht nur psychische und physische Erkrankungen, sondern ebenso Eruptionen von Gewalttätigkeiten.
Wie Psychotherapeuten mit Aggression und Gewalt umgehen, beschreibe ich in meinem Blog-Artikel Aggression.
Mehr dazu auf Anfrage bzw in später folgenden Artikeln …
Was ist Retroflexion?
Retroflexion bedeutet das Zurückhalten und Gegen-sich-Wenden von Energien und Impulsen.
Das können sein: ein Gefühl, eine verbale Botschaft, ein Gedanke, ein Interesse, eine physiologische Reaktion, eine Handlung, ein Bedürfnis, eine Körperäußerung, ein Bedürfnis, eine Grenzsetzung.
Sicherlich ist es für ein friedliches Zusammenleben unerlässlich, dass wir lernen, bestimmte Impulse zu kontrollieren.
Aber wir retroflektieren viel, viel, viel zu viel – und das macht uns krank!
Das entsprechende Verb lautet also: retroflektieren. Sehr früh in unserer Erziehung lernen wir, unsere emotionalen, gedanklichen und körperlichen Energien zurückzuhalten und gegen uns selbst zu richten. Wenn frau das tut, retroflektiert sie also. Vereinfacht gesagt:
Wir tun uns selbst das an, was wir dem Anderen nicht antun dürfen, können oder wollen.
Retroflexion ist nötig, um bloß keine der zahlreichen Regeln (Introjekte), die wir „geschluckt“ haben, zu verletzen. Wir tun dies ständig. Es fällt uns gar nicht mehr auf, weil wir uns so sehr daran gewöhnt haben, dass es uns ganz normal vorkommt. Und genau dies ist das Schwierige daran: diese völlig „normalen“ großen wie kleinen Retroflexionen immer wieder an uns (und anderen) zu entdecken, uns dieser bewusst zu werden.
Der Bogenschütze
Retroflektieren heißt den Pfeil oder den Spieß gegen sich selbst zu richten.
Man feuert den Pfeil, der ursprünglich dem Anderen gilt, auf sich selbst ab.
(Bild: Canva/ MM)
Welche Retroflexionen gibt es?
Ich weiß: Das alles klingt sehr theoretisch. Also gebe ich dir hier ganz unterschiedliche Beispiele. Du kannst, während du liest, gleich prüfen, welche auch auf dich zutreffen. Viele von diesen Beispielen erleben wir meist nicht als Retroflexion, weil es sich um Gewohnheiten handelt, die wir nicht infrage stellen. Bei vielen Beispielen wirst du vielleicht sogar denken: Wieso? Das ist doch ganz normal!?
„Normal“ heißt aber beileibe nicht unschädlich!
Retroflexionen bemerken wir meist nicht, weil wir so sehr an sie gewöhnt sind.
Retroflexionen können sich beziehen auf …
deine Gedanken,
deine Kommunikationen,
deine (unterlassenen) Handlungen,
deine leiblichen und physiologischen Prozesse,
deine Vorstellungen,
deine Konzepte (von der Welt, von Menschen, von dir selbst),
deine Pläne,
deine Erwartungen …
Beispiele
Ich beginne mit den offensichtlichen und katastrophalen Weisen des Gegen-sich-selbst-Wendens. Dann komme ich zu alltäglicheren Beispielen von Retroflexionen:
Jemand schlägt mit dem Kopf gegen eine Wand.
Eine Person nimmt sich das Leben.
Ein Mädchen verletzt sich selbst mit einem Cutter.
Der Mönch kasteit sich mit einer Peitsche.
Eine junge Frau isst kaum etwas und magert so sehr ab, dass ihr Leben bedroht ist.
Du liegst nachts wach und haderst mit dir: Warum habe ich mich nicht selbstsicherer verhalten?!
Oder du zermarterst dir den Kopf: Hoffentlich hat X sich nicht kritisiert gefühlt!?
Du quälst dich mit deinen Schuldgefühlen.
Wenn du nach deinem Beruf gefragt wirst, sagst du: Ich bin nur Sozialarbeiterin.
Du quälst dich, indem du darüber nachgrübelst, wie du ein Problem lösen kannst/ was du morgen alles erledigen musst/ was du X hättest sagen sollen/ warum du nicht schlagfertig genug bist.
Du findest dich unmännlich/ unattraktiv/ dick/ hässlich/ dumm/ nicht liebenswert/ unfähig/ weniger wert als andere/ faul …
Du bist mit dir unzufrieden.
Du fragst dich ganz oft: Warum kann ich X immer noch nicht?!
Du denkst über dich, dass immer du diejenige bist, der so etwas passiert!
Du haderst mit dir, klagst dich an, wirfst dir selbst etwas vor, hältst dich für schuldig …
Du schämst dich.
Du ärgerst DICH über den Autofahrer. (WEN ärgerst du?!)
Im Theater sitzt du so beengt, dass dir die Beine wehtun. Aber du verbietest dir rauszugehen, um nicht aufzufallen.
Du disziplinierst dich/ zwingst dich/ überforderst dich/ hast deine Gefühle gut im Griff.
Du hältst beim Niesen deine Nase zu (was manchmal ganz schön gefährlich sein kann).
Bei Konflikten mit deinem Partner gibst du nach, damit er dich nicht verlässt (= weil du ja meinst, weniger wert zu sein als er).
Vor Aufregung spannst du immer deine Schultern an, damit niemand mitbekommt, wie es in dir aussieht.
Weil du deinen Bauch zu dick findest, ziehst du ihn beim Sex immer ein.
Du guckst immer nur, ob deine Partnerin einen Orgasmus kriegt. Sex macht dir schon lange keinen Spaß mehr, weil du dich unter Druck setzt.
Wenn du mit anderen Leuten Treppen hochsteigst, bremst du deinen Atem. Die anderen sollen doch nicht denken: Was ist das denn für ein Schlaffi?
Beim Sport bist du rücksichtslos gegen dich selbst.
Du fährst riskant Auto und gefährdest dich (und andere).
Du unterdrückst deine Pupse und kriegst Bauchschmerzen.
Du hast Hunger, machst aber weiter, bis dir ganz komisch wird.
Du hast einen inneren Kritiker, der dich antreibt und niedermacht. Du wehrst dich nicht gegen ihn, weil du findest, dass er Recht hat.
Du schwächst deinen Organismus mit Drogen, Alkohol oder Beruhigungsmitteln.
Statt zu leben, sitzt du tagein, tagaus vor Monitoren.
Statt einen wichtigen Konflikt mit deinem Freund auszufechten und ihm unmissverständlich Grenzen zu setzen, gehst du aus dem Feld oder gibst nach. Dir geht es immer schlechter damit.
Du unterdrückst deine Gefühle, zB deine Wut, deinen Ärger, aber auch deine Liebe und deine sexuellen Bedürfnisse, damit andere dich nicht verurteilen.
Du lässt dich von deinem Chef immer wieder niedermachen, ohne dich zu wehren.
Du hältst eine unangenehme Situation aus, weil du nicht auffallen magst.
Jemand kommt dir körperlich zu nahe. Aber du sagst nichts, weil du dir sagst: Sei doch nicht immer so empfindlich!
Im Bus ist dir wegen der Klimaanlage zu kalt. Du merkst, dass du dich erkältest. Aber die anderen halten das ja auch aus, sagst du dir und machst nichts.
Ein dir wichtiger Angehöriger ist gestorben. Deine Aufforderung, zum Arzt zu gehen, hat er immer wieder ignoriert. Eigentlich bist du total wütend auf ihn. Du hältst das aber lieber zurück, weil du solche Gefühle albern und krank findest.
Eine Freundin ruft dich immer wieder nachts an und heult dir die Ohren voll. Obwohl du todmüde bist, hörst du geduldig zu, bis sie am Ende sagt: Es ist so toll, dass man so gut mit dir reden kann! Eigentlich möchtest du sie dafür anschreien!
Statt deinem Chef endlich mal die Meinung zu geigen, hältst du die Luft an und machst die Faust in der Tasche. Abends bist du dann völlig ausgelaugt.
Findest du dich hier wieder?
Und ist dir eigentlich aufgefallen, dass es in dieser Aufzählung ganz viele reflexive Verben (sich disziplinieren etc) gibt?!
Wodurch entstehen Retroflexionen?
Retroflexionen sind nötig, um nicht gegen die verinnerlichten Introjekte zu verstoßen!
Retroflexionen haben die Funktion, die verinnerlichten Introjekte zu bedienen. Wenn ein Introjekt zB besagt: Sei immer auf der Hut!, dann wirst du mittetls vieler Retroflexionen deinen Organismus immer in Alarmbereitschaft halten, also: deine Muskeln anspannen, immer hellwach sein müssen, immer alles unter Kontrolle behalten wollen.
Solltest du von dem Introjekt gesteuert werden: Wenn du an einem Mann interessiert bist, zeige ihm das bloß nicht!, wird dein Verhalten der geliebten Person signalisieren, dass er keine Chance bei dir hat. Vielleicht lässt du dann nur Liebesbeziehungen mit Männern zu, die du vielleicht „ganz nett“ findest, aber Liebesglück wirst du so wohl nicht finden.
Sehr oft entstehen Retroflexionen durch Strafe oder Strafandrohung, zB:
Wenn du jemandem von unserem kleinen Geheimnis (= sexuelle Gewalt) erzählst, wird ein Unglück geschehen!
Wenn du Kunst statt Jura studierst, kriegst du kein Geld!
Jedes Mal, wenn das Mädchen ein schmutziges Wort sagt, wäscht ihr die Mutter den Mund mit Seife aus.
Die schüchterne Schülerin wird, wenn sie beim Vorlesen stottert, vom Lehrer und der ganzen Klasse verspottet.
Wenn der Sohn ihr widerspricht, reagiert die Mutter mit Liebesentzug, indem sie 2 Tage nicht mit ihm spricht.
Wir fordern uns gegenseitig auf zu retroflektieren
Allgemein kann man sagen, dass wir Mitglieder uneres Kulturkreises uns ständig gegenseitig zum Retroflektieren „auffordern“.
Dies kann non-verbal transportiert werden, zB durch Gesten, Mimik, Blicke, Atembotschaften wie Seufzen, ein aufforderndes, mit einem Laut versehenes „Hmmm …“. Beispiele:
Wenn du Kritik an einem Freund übst, dreht er sich vielleicht stillschweigend um.
Wenn du es beim Bäcker eilig hast, räuspert sich jemand ungehalten.
Dies kann auch mit Worten erfolgen, zB:
Andere Leute wollen auch noch was!
Halt die Luft an!
Sei leise!
Kannst du das nicht auch vernünftig sagen?!
An diesem Arbeitsplatz ist immer ein Jackett zu tragen!
Mach die Faust in der Tasche!
Wenn jeder hier einfach so rülpsen würde …!
Retroflexionen werden vorgelebt, zB:
Dein Onkel hält sich beim Niesen die Nase zu (und kriegt einen puterroten Kopf).
Die Oberärztin schlingt ihren Pausensnack runter, der Assistenzarzt kopiert diesen Essensstil (und kriegt Magenschmerzen).
Immer wenn’s stressig wird, zündet sich deine Kollegin eine Zigarette an (statt sich zu wehren).
Im stickigen Seminarraum öffnet niemand das Fenster (weil man sonst den Dozenten, der so leise spricht, nicht hören kann).
Wenn dein Vater sich über seinen Chef ärgert, trinkt er erstmal 2 Flaschen Bier.
Die Ehefrau lässt sich immer wieder von ihrem Partner schlagen, ohne ihn zu verlassen; ihre Mutter hat das doch auch ertragen, weil Männer nun mal so sind!
Auf dem Elternabend spricht die Lehrerin mit belegter Stimme (statt den ewig vorwurfsvollen Vater in die Schranken zu verweisen), weil an dieser Schule Eltern immer wie rohe Eier behandelt werden.
Retroflexionen können sogar durch Lob entstehen, zB:
Wie gut, dass du nicht so anstrengend bist wie dein Bruder! (sagt die Mutter zu ihrer wohlerzogenen Tochter).
Ich bin so stolz auf dich, dass du mit 4 Jahren so anständig essen kannst! (und nicht die Ellenbogen auf den Tisch stützt).
Dein Benehmen ist vorbildlich! (sagt der Reli-Lehrer vor der gesamten Klasse zu seinem Lieblingsschüler).
Manchmal werden Retroflexionen erlernt, weil sie ein schlimmes Gefühl beenden können, zB:
Die junge Frau drückt die Zigarette auf ihrem Unterarm aus, weil dann die unerträgliche Spannung in ihrem Leib aufhört.
Exkurs:
Borderline
Ja, du hast richtig gelesen: Die Borderline-Patientin verletzt sich nicht unbedingt deshalb, weil sie sich hasst oder weil sie Schmerzen geil findet! Vielmehr braucht sie einen ungeheuer starken Schmerzreiz, um einen noch viel furchtbareren Zustand zu beenden. Es kann also durchaus sein, dass sie selbst sich damit etwas Gutes antun will!! (Falls du Chirurg bist, der manchmal diese Borderliner wieder zusammenflicken muss, denke bitte dran, dass auch diese armen Menschen eine Betäubung benötigen, wenn du nähst!)
Warum macht Retroflexion krank?
Gute und schlechte Retroflexionen
Bei vielen der oben angeführten Beispiele kann es natürlich auch sein, dass du dich ganz bewusst entscheidest, eine schwierige Situation auszuhalten oder einem Bedürfnis nicht nachzugeben. Daran kannst du eventuell wachsen, zB wenn du beim Yoga den Herabschauenden Hund oder den Schneidersitz aushältst, obwohl es schon brennt und schmerzt. Du kannst dich anspornen, dich beim Sport quälen, dich zu etwas zwingen, deine Comfort-Zone verlassen, eine Befriedigung verschieben, dich auf Kälte-Widerstandsfähigkeit trainieren, eine Kritik zurückhalten, eine Bemerkung herunterschlucken usw.
All dies kann im Sinne eines Wachstums geschehen und sich richtig und gesund anfühlen.
Voraussetzung ist aber, und darin unterscheiden sich positive Retroflexionen von ungesunden, dass …
du das Retroflektieren bewusst wahrnimmst,
du dich frei dafür entscheidest und dich nicht „im Griff“ eines ungesunden Introjektes befindest,
du dir anschließend einen Ausgleich verschaffst, indem du zB Trost einholst, eine Pause machst, auf ein Kissen schlägst, dem zurückgehaltenen Gefühl später Luft machst etc.
Das alles ist sehr oft nicht der Fall; denn:
Wenn deine Retroflexion wie ein Reflex abläuft, wenn du sie nicht bemerkst und wenn du dir deshalb keinen Ausgleich schaffen kannst, dürfte sie schädlich sein.
Woran bemerkst du eine Retroflexion?
Ein retroflektiertes Gefühl, ein retroflektierter Impuls, letztlich jede Retroflexion bewirkt, dass ein zusammenhängender Prozess, der in dir abläuft, unterbrochen wird. Man nennt diesen Sachverhalt auch
unfinished buisiness (Unerledigtes) oder
eine (nicht geschlossene) unvollendete Gestalt.
Das klingt zunächst nicht sehr aufregend. Aber unser Gehirn versucht stets, Gestalten zu schließen, also zu vollenden. Es hat die Tendenz, aus allen Reizvorlagen sinnvolle Einheiten zu erzeugen.
Wenn du zB bei Mondlicht nachts über einen Friedhof gehst, wo Licht, Wind und Schatten merkwürdige Gebilde hervorbringen, wirst du vielleicht überall Gespenster sehen. Oder wilde Hunde. Oder starke Jünglinge, die dich retten wollen – je nachdem, wie dein Gehirn „voreingestellt“ ist.
Eine unvollendete Gestalt oder etwas Unerledigtes erzeugt große Spannungen in uns, die sich sowohl gedanklich als auch emotional und körperlich äußern. Das ist ein sehr bedeutsames Thema, welches ich hier nur streife.
Ausführlicher thematisiere ich das Unerledigte in meinem Beitrag über Schlafstörungen und Grübeln.
Einige undramatische Beispiele:
Bei herrlichstem Sonnenschein holst du dir ein dickes Eis auf die Hand. Gerade als du das erste Mal lecken willst, rutscht dir die ganze Geschichte aus der Waffel und klatscht auf die Straße. Du bist jetzt nicht nur frustriert; auch dein Körper hat sich schon darauf eingestellt (Speichelfluss, Magensaft, Zuckerstoffwechsel …) und muss jetzt auf “Reset” drücken.
Du hörst ein Orgelkonzert. Der Organist beendet das Stück mit einer Septime – also einem Tonschritt unterhalb des Grundtones. Auch wenn du nichts von Septimen weißt, kannst du sicher sein, dass du den Organisten so lange schütteln möchtest, bis er den Grundton anschlägt.
Das bedeutet: Schon bei völlig unwichtigen Dingen entsteht eine unangenehme Spannung. Aber, wie gesagt: Wir schenken dem meist keine Beachtung. Also müssen wir erst lernen, Retroflexionen überhaupt wahrzunehmen.
Du kannst Retroflexionen daran erkennen, dass …
eine unangenehme Spannung, Erregung, eine Verstimmung, eine Unzufriedenheit oder ein anderes negatives Empfinden leiblich und emotional in dir spürbar wird,
du den zurückgehaltenen oder unterbrochenen Impuls auf irgendeine Weise gegen dich selbst richtest – schau dir dazu nochmals den Abschnitt Welche Retroflexionen gibt es? an.
Jetzt fragst du vermutlich: Ja und jetzt??!
Wie so oft, ist das Prinzip einfach, die Umsetzung schwer. Es erfordert einige Übung, um Retroflexion abbauen bzw, genauer gesagt, rückgängig machen zu können.
De-Retroflexion:
Was gegen Retroflexionen hilft
Theoretisch ist es also einfach: Wenn Retroflexion bedeutet, dass du den Spieß gegen dich selbst richtest (oder den Pfeil gegen dich selbst abschießt), dann heißt De-Retroflexion, dass du den Spieß wieder nach außen wendest.
Ziel der De-Retroflexion ist NICHT Ausübung von Gewalt! Vielmehr gibst du deiner Wut Raum und Erlaubnis, so dass du diese sozial geächteten Gefühle abarbeiten und LOS-WERDEN kannst!
Auch hier gilt dasselbe wie beim Loswerden von Introjekten:
Zum De-Retroflektieren gehe bitte in den SICHEREN RAUM! Das heißt in Kürze:
Im SICHEREN RAUM darfst du schlimme Sachen sagen, schreien, schimpfen, fluchen, auf ein Kissen schlagen und dabei aggressive Impulse einem anderen Menschen gegenüber ausleben. Du darfst rücksichtslos, un-verschämt sein und „niedere“ Gefühle (Neid, Rache, Hass, Missgunst …) äußern.
Der SICHERE RAUM ist in der Regel ein Zimmer bei dir zuhause, wo du ungestört bist und nicht zu sehr gehört werden kannst. Du kannst auch in den Keller, in den Schuppen, in den einsamen Wald oder an den menschenleeren Strand gehen, am besten bei starkem Wind.
Solltest du bei einem unerschrockenen Therapeuten in Behandlung sein, kann auch seine Praxis ein Sicherer Raum sein.Im SICHEREN RAUM ist der gemeinte Adressat nicht anwesend! Es kann sein, dass du hinterher entscheidest, den Konflikt persönlich mit ihm auszutragen, aber das ist dann eine neue Entscheidung.
Aggression, Wut, Gewalt: Du achtest darauf, weder dich noch jemand Anderen zu verletzen oder Sachen zu zerstören, die dir oder Anderen wichtig sind.
Schau dir bitte nochmals die mindroad-Regeln hier auf diesem Blog an!
Den Spieß umdrehen – einige Beispiele
Ich gebe dir hier einige Anregungen, was du versuchen kannst. Das Vorgehen ist experimentell, was so viel bedeutet wie: Du probierst die Methoden aus und entscheidest, ob sie für dich möglich und hilfreich sind. Das schließt aber nicht aus, dass du manche ungewohnte Dinge tun und manchmal über deinen Schatten springen kannst.
Beachte bitte: Es geht überhaupt nicht darum, den Adressaten zu bestrafen, zu überzeugen oder zu besiegen! Ziel ist ausschließlich, dass du deine psychophysischen Energien loswirst, damit sie dir nicht schaden!
Stuhldialog
Du setzt den Adressaten in deiner Vorstellung dir gegenüber auf einen Stuhl. Dann sagst du ihm alles, was du bislang zurückgehalten hast. Du darfst dabei böse Wörter sagen, schimpfen, schreien, kotzen, heulen, auf ein Kissen schlagen. Kurz: Du darfst all das tun, wovon anständige Psychoanalytiker sagen würden: Das bringt gar nichts! Das ist doch nur Ausagieren!
Pfeil und Bogen
Du hast einen Köcher mit imaginären Pfeilen auf deinem Rücken. Jeder Pfeil überträgt eine emotionale Botschaft an eine Adressatin, die dir in deiner Vorstellung gegenüber steht. Die Botschaft besteht aus 3 Teilen:
1. Ich (mir, mich) …,
2. … fühle (liebe, hasse, wünsche mir, verfluche, trete …) und
3. … dich (dir, von dir, dir gegenüber …), also zB: Ich (1) verfluche (2) dich (3)!
Jetzt legst du den 1. Pfeil auf deinen imaginären Bogen, spannst die Sehne und auch deinen Körper. Dabei atmest du tief ein. Beim Abschießen des Pfeils auf die Adressatin atmest du aus und entspannst, wobei du einen kräftigen Zisch-Laut machen kannst. Du stellst dir vor, wie der Pfeil (= deine Botschaft) in den Leib der imaginierten Person dir gegenüber eindringt.
Kissen
Du legst ein Kissen vor dir auf den Boden. Jetzt stellst du dir vor, dass die Person, die dich verletzt hat, auf dem Kissen sitzt (oder das Kissen ist). Du drischst auf sie ein, am besten mit einem Bataka oder Katana. Wenn du eine Oma hast, kannst du von ihr vielleicht einen Teppichklopfer bekommen. Bei jedem Schlag sagst, brüllst oder schreist du der Person einen kurzen Satz ins Gesicht.
Voodoo-Puppe
(Danke für die Idee, Tamara!) Stell dir vor, es gibt eine Person, von der du dich gequält fühlst, gegen die du aber macht- oder hilflos bist. Dann besorge dir eine kleine Puppe aus Stroh oder Schaumstoff. Mit einem selbstgemachten Voodoospruch bannst du das Ich dieser Person in diese Puppe. Immer wenn diese dich wieder verletzt hat, stichst du eine Nadel in sie hinein und sprichst eine Verwünschung.
Den Spieß umdrehen (aka „Zuckungen“)
Setze dich auf einen Stuhl. In einem Halbkreis um dich herum postierst du in Gedanken alle (aktuellen oder früheren) Menschen aus deinem Leben. Nun packst du mit beiden Händen einen imaginären Spieß, den du gegen deine Brust richtest – als Symbol dafür, was du gewohnt bist, dir selbst anzutun. Langsam und mit voller Bewusstheit wendest du jetzt den Spieß nach außen und „scannst“ damit die Personen um dich herum.
Wenn du das langsam machst und dir diese Personen möglichst konkret vorstellst, kann es sein, dass dein Spieß bei bestimmten Leuten beginnt zu zucken. Mit dieser Person hast du vermutlich ein unfinished buisiness, also „ein Hühnchen zu rupfen“. Stoße immer wieder mit deinem Spieß gegen diese Gestalt und sende ihr die Botschaft, die dir passend erscheint (s.o.: die 3 Teile einer Botschaft).
Hexen-Altar
Vielleicht hat vor Jahren deine Grundschullehrerin dich immer vor der ganzen Klasse lächerlich gemacht. Als Erwachsener hättest du sie gerne zur Rede gestellt, aber sie ist verstorben.
Jetzt suchst du dir eine Figur (Playmo oder so …) und stellst sie auf ein Bord, eine Fensterbank oder Ähnliches. Immer wenn du an ihr vorbeikommst, zeigst du ihr den Stinkefinger oder du machst einen drohenden Laut oder sagst einen für dich passenden Satz zu ihr, zB: Du bist eine miese Ratte! Schieb dir deinen Spott in den eigenen Arsch! (Oftmals ist es hilfreich, „verbotene“ oder unanständige Worte zu wählen, weil du oft Wut und „Ungezogenheit“ brauchst, um deine gewohnten Retroflexionen zu beenden. Also scheue dich nicht …)
Zettel-Pfeile
Du heftest ein DIN A-4 Blatt auf ein Klemmbrett und legst es quer auf einen Tisch oder deinen Schoß. Links malst du ein kleines Männchen oder Frauchen – das bist du. Ganz an den rechten Rand zeichnest du eine Figur für eine Person, die dich irgendwie verletzt hat oder mit der du ein Problem hast. Indem du mit aller Entschlossenheit Pfeile von links gegen diese Person malst, dh abschießt, sprichst (oder schreist) du eine wichtige emotionale Botschaft an sie.
Plädoyer
Du bist eine Staatsanwältin oder ein Richter. Als diese/r verliest du die Anklageschrift oder das Strafurteil gegen einen Mann, der dir etwas Schlimmes angetan hat. Du entscheidest ganz alleine, welche Strafe du für angemessen hältst.
Übrigens hat einmal eine meiner Patientinnen eine solche Anklageschrift und ihren Urteilsspruch auf einen Zettel geschrieben. Dann sind wir gemeinsam zu dem Grab ihres Stiefvaters gegangen, der sie jahrelang vergewaltigt hat („missbraucht“ klingt irgendwie so harmlos, oder?). Dort hat sie die Anklage und die Strafe laut vorgetragen. Die Strafe bestand darin, dass dieser Mann bei lebendigem Leib ganz langsam von Würmern zerfressen wird. Dann haben wir in einem Ritual diesen (anonymen) Zettel unter die Erde gehoben.
Krimi schreiben
Besonders wenn dir ein Mensch etwas ganz Furchtbares angetan hat, ist es für manche Patienten hilfreich, diesen Menschen in einem Kurzkrimi (qualvoll) sterben zu lassen. Probiere es aus …
Den richtigen Ton treffen
Du bist Lehrerin an einer Grundschule. Du kannst das ewige Kindergeschrei einfach nicht mehr ertragen. Du hast auch schon einen sehr belastenden Tinnitus. Du begibst dich an einen „lärmsicheren“ Ort (Keller, Wald, Strand, in deinen Wandschrank …). Jetzt formulierst du einen kurzen Satz, den du all diesen Kindern am liebsten an den Kopf schleudern möchtest. Dein Satz ist vermutlich ungerecht, böse oder albern … aber das ist völlig ok! Diese Botschaft ersetzt du durch einen lauten Ton, der jetzt diese Botschaft transportiert. Produziere nun mit deiner Stimme einen Ton, der genauso intensiv (laut, schrill, eindringlich, fies …) ist wie der Tinnitus-Ton, der dich quält, und schreie, brülle oder stoße ihn gegen die imaginierten Kinder aus!
Du siehst:
Es gibt unendlich viele Möglichkeiten! Kreiere deine eigenen De-Retroflexionen! Lass dich dabei von deinen Introjekten (die bestimmt auftauchen werden!) nicht kirre machen. Diese wollen dich nämlich davon abhalten, indem sie dir vorschreiben:
Du sprichst doch wohl nicht mit einem Stuhl, oder?!! Oh, wie albern ist DAS denn?!! SO etwas macht man aber nicht!!! Du bist aber ein BÖSER Mensch!! Usw …
So geht es weiter …
Jetzt hast du erfahren, auf welche Weise deine Retroflexionen bewirken, dass du all die schädlichen Introjekte weiterhin befolgst. Du hast aber auch schon gelernt, wie du Introjekte und Retroflexionen erkennen und loswerden kannst.
Im folgenden Beitrag geht es um Deflexionen. Diese beschreiben Mechanismen, mit denen wir uns von dem Drama ablenken, welches uns die Introjektionen und Retroflexionen bescheren.
Deflexion bedeutet nämlich (automatisches, unbewusstes) Ablenken, Ausweichen, Umbiegen. Deflexion bewirkt, dass wir die Fallgruben, in die wir alle geraten, meist nicht bemerken und deshalb auch nichts dagegen tun.
Wir begegnen dabei der Reporterin, dem Politiker, der Geschichtenerzählerin oder auch dem Worthülsendreher. Lass dich überraschen!