Schlafstörungen, Grübeln & Alpträume

Die Macht des Unerledigten

Einleitung

Heute betrachte ich verschiedene Symptome, nämlich Schlafstörungen, Grübeln und Alpträume, aus einer ganz besonderen Perspektive. Denn sie haben eine gemeinsame Qualität, vielleicht sogar eine gemeinsame Ursache: das Unerledigte.

Ich werde dir keine Rezepte gegen derartige Unannehmlichkeiten geben. Das ist auch gar nicht nötig: Du wirst nämlich selbst wissen, was du tun kannst, sobald dir klargeworden ist, wie ungeheuer wirksam Unerledigtes ist.

Na gut: Ein paar Anregungen wirst du am Ende wohl doch von mir kriegen.

 

Schlafstörungen etc können zu psychischen Erkrankungen führen

Bevor wir anfangen, mache dir bitte folgendes klar:
Wenn du lange Zeit schlecht schläfst und böse Träume hast, wenn du immerzu grübelst und nicht damit aufhören kannst, dann bist du irgendwann völlig fertig.
Auf diesem Hintergrund können dann psychische Krankheiten entstehen: Depressionen, Ängste, Zwänge, Sucht oder auch psychosomatische Symptome wie Herzflattern, Durchfälle, Erschöpfung uvam.

 


Unerledigtes und unfinished buisiness

Was soll das eigentlich heißen: Unerledigtes?
In der Gestalttherapie spricht man von unfinished buisiness, wenn irgendeine Geschichte noch nicht abgeschlossen werden konnte. Sie kommt dir dann in lauter unmöglichen Situationen wieder hoch und quält dich. Im extremsten Fall ist es ein unbearbeitetes Trauma, das dich immer wieder überfällt. Man spricht dann von Intrusionen oder Flash backs.

Beispiele

  • Serie … Du hast dir gerade die 1. Folge einer neuen Serie reingezogen. Am Ende des Films läuft die Sympathieträgerin, ohne es zu ahnen, in eine Falle, von der man als Zuschauer aber weiß. Hier endet der Film abrupt. Wetten, dass du weitergucken musst? Vielleicht schaust du die nächste Folge auch noch – und die übernächste? Und das, obwohl du morgen um 5:45 Uhr aufstehen musst.

  • Herr Ober! Solltest du mal gekellnert haben, weißt du genau, was die Leute an Tisch 7 verzehrt haben. Erst wenn sie bezahlt haben, „erledigt“ sich die Situation, und du vergisst alles wieder. Jetzt kannst du entspannen, und dein Gehirn schafft Platz für die nächste Aufgabe.

  • Schlag - fertig! Wenn jemand etwas Blödes zu dir gesagt hat und du nichts Schlagfertiges hast erwidern können, wirst du vielleicht die ganze Nacht damit beschäftigt sein, was du hättest sagen sollen. Dieses Erlebnis bleibt in dir wach, und du kannst nicht schlafen. Du grübelst die Situation immerzu von vorn bis hinten durch. Du schaffst es nicht, sie in deinem Kopf zu beenden, sie zu „erledigen“.

  • Da war doch was?! Du kennst doch sicher auch diese Situationen: Du bist beim Einkaufen. Du hast alles so weit erledigt, aber etwas fehlt: Irgendwas wollte ich doch noch …??! Eine undefinierbare Spannung macht sich in dir breit. Erst zuhause fällt es dir wieder ein: das Geschenk …! Die Spannung schlägt in Ärger um, aber es hilft nichts: Du musst noch mal los! Erst danach kannst du dich dann entspannen …

  • Wie heißt nochmal …? Ähnlich geht‘s dir vermutlich, wenn dir der Name … von diesem Schauspieler, wie hieß der noch mal, der aus dem Film … äh …?! partout nicht mehr einfällt. Ich musste einmal von Brest aus meinen Vater anrufen, weil mir ein Autorenname nicht mehr einfiel! Das war 1972, da musste man noch im Postamt sein Gespräch anmelden und länger als 1 Stunde warten!

  • Selbstvergessen? Irgendwie hast du in deinem frühen Leben den Satz zu schlucken gekriegt: Du bist nur dann liebenswert, wenn du dich um alle kümmerst! Da du dieses Satz nie hast loswerden können, bist du für alle immer die gute Fee (die sich aber leider selbst immer vergisst).

  • Wenn du diesen Satz nicht verstehst, bist du ziemlich …

Unerledigtes erzeugt Spannungen

Hast du es gemerkt? Kennst du solche Situationen? Wie ist es dir beim letzten Beispiel ergangen?

Du kannst an diesen Beispielen erkennen, dass Unerledigtes eine Spannung erzeugt, die gedanklich, emotional und körperlich anhält. Das gilt sogar für völlig unbedeutende Situationen und sogar dann, wenn du gar nicht weißt, dass etwas unerledigt geblieben ist. Das zeigt das folgende Beispiel:

Du hörst dir in einer Kirche ein Orgelkonzert an, und die Organistin beendet das Stück auf einem Septimen-Akkord (ein Ton unter dem Grundton). Egal ob du Ahnung von Musik hast und weißt, was da passiert ist, wirst du eine Spannung und den Drang verspüren, die Musikerin zu zwingen, die Septime aufzulösen und den Grundton zu spielen. Alternativ kannst du natürlich auch versuchen, den Grundton zu singen, oder du wirst einfach gegen den nächsten Mülleimer treten.

 

Ein bisschen Theorie: die Gestalt

  • Monster: Unser Gehirn will nichts halbfertig und unerledigt lassen. Es gliedert alles in Bedeutungs-Einheiten, in sogenannte Gestalten – daher auch der Name Gestalttherapie. Wenn die äußere Situation aber nichts Fertiges anbietet, ergänzt es das Unfertige zu solchen Gestalten. Wenn du des Nachts über den Friedhof gehst und nichts wirklich klar erkennen kannst, erzeugt dein Gehirn autonom irgendwelche Figuren: Je nach Stimmung und Vorerlebnissen siehst du also Monster, wilde Tiere, Untote – oder deine Mathelehrerin. Auch wenn du weißt, dass all das nicht wirklich da ist, kriegst du Angst.

  • Mach schon! Wenn dein Freund zu langsam redet, machst du seinen Satz in Gedanken fertig (und bist genervt?).

  • Eine Dreiecks-Beziehung zeigt die folgende Abbildung:

 

3 Punkte? Oder ein Dreieck?

Schau dir diese drei Punkte an: Was siehst du? Vermutlich kannst du “hin und her” sehen, indem du in dem einen Moment 3 Punkte und im nächsten ein Dreieck wahrnimmst. Oder siehst du eine ganz andere bedeutungshaltige Figur?

(Bild: Canva/ MM)

 
  • Ich habe fertig! Unerledigtes erzeugt nicht nur Antrieb, Motivation, Spannung, Handlung etc, sondern es strebt zudem danach, sich zu „erledigen“, fertig und vollständig zu werden, zum Abschluss zu kommen. Unser Hirn mag keine „offenen Gestalten“, zumindest nicht für länger.

  • Offene Gestalten können in vielerlei Situationen auftreten: ein ungelöster Konflikt, eine zweideutige Bemerkung deiner Partnerin, ein vergessener Schauspielername, eine unklare optische Figur, ein beschissenes Kindheitserlebnis, ein nicht zu Ende geführter Gedanke, ein abgebrochener Satz eines Anderen, eine unfertige Story, ein unerlaubtes Gefühl, ein aus Unsicherheit zurückgehaltener Redebeitrag, das Gefühl, etwas übersehen oder falsch gemacht zu haben …

  • Sicherlich kennst du auch die berühmten Kippfiguren. Eine solche habe ich für die nächste Abbildung gebastelt.

 

Auf der Kippe

Was siehst du zuerst: zwei Profile oder eine Vase? Sobald du eine sogenannte Kippfigur siehst, „entscheidet“ sich dein Gehirn für eine der beiden Sichtweisen. Vielleicht wechselt es etwas später auf die andere oder die Figuren kippen ständig hin und her.

(Bild: Canva/ MM)

 

2 Eigenschaften des Unerledigten

  1. Es erzeugt Spannung: zB erhöhter Muskeltonus, Unruhe, gesteigerter Antrieb, unangenehme Gefühle, leibliches Unwohlsein, Handlungsdruck, Erregung, Aufmerksamkeit, Wachheit, Herzklopfen, erhöhter Blutdruck. Diese Spannung kann auch ambivalent oder sogar angenehm sein: wenn du im nächsten Moment auf die Person treffen wirst, in die du dich gerade verliebt hast …

  2. Es drängt nach Erledigung bzw Beendigung, Abschluss, Vervollständigung, Auflösung, Entscheidung, Klarheit, Eindeutigkeit.

Schlafstörungen, Grübeln und Alpträume

… sind also typische Symptome des Unerledigten!

Wenn wir diese beiden Qualitäten auf Schlafstörungen, Grübeln und Alpträume anwenden, springt dir vermutlich sofort ins Auge,

  • warum du wach bleibst, obwohl du todmüde bist,

  • warum du immer weiter grübeln musst, obwohl du immer wieder dieselben Gedankenschleifen durchläufst,

  • warum du fiese Erlebnisse, Vorstellungen, Gefühle mit in deine Träume nimmst.

 

Alles was unerledigt bleibt,
kann Schlafstörungen, Grübeln und Alpträume hervorrufen!

 


Tools gegen Schlafstörungen, Grübeln und Alpträume

Was können wir tun? Wie können wir die unfertigen Dinge unseres Tages, unserer Woche, unseres Lebens zum Abschluss bringen? Hier einige Anregungen:

Grundregel 1: Vermeide Unerledigtes!

Versuche also, vor dem Schlafengehen alles Wichtige abzuschließen. Nichts sollte offen bleiben!

  • Fange nichts an, was voraussichtlich offen bleibt.

  • Gehe nicht mit einem ungelösten Konflikt ins Bett!

  • Fange vorm Schlafengehen keine neuen Themen an!

  • Wenn sich schlechte Nachrichten leicht in dir „verfangen“, solltest du abends vielleicht auf die Tagesschau verzichten!

  • Nach einer bestimmten Uhrzeit gehe ich nicht mehr zum Briefkasten. Denn die meisten Briefe, die man heutzutage bekommt, bedeuten Arbeit oder Ärger. So etwas kann ich besser morgens verdauen – und gleich erledigen.

Grundregel 2: Erledige Unerledigtes!

Sobald du wachliegst oder grübelst, solltest du 1. Unerledigtes identifizieren, 2. Unerledigtes erledigen! 3. Wenn das nicht möglich ist, gib dem Unerledigten „einen Ort“!

  • Du solltest immer einen Zettel und einen Stift (oder dein Handy mit Kalender/ Notiz-App) neben dem Bett liegen haben!

  • Wenn dir etwas Wichtiges einfällt (zB was du einem anderen sagen möchtest), schreibe es auf!

  • Wenn du einen unerledigten Konflikt mit jemandem hast, vereinbare einen Gesprächstermin! Oder schreibe in deinen Kalender, wann du es tun willst.

  • Wenn du am nächsten Tag viele Dinge zu erledigen hast, schreibe sie nach Wichtigkeit auf! Prüfe, was davon du schaffen kannst.

  • Dich überfällt ein plötzlicher Geistesblitz, eine tolle Idee, die Lösung eines Problems: Schreibe das sofort auf, damit dein Gehirn dich nicht ständig daran erinnert, dass du es keinesfalls vergessen darfst!

  • Wenn du etwas nicht gleich erledigen kannst, gib ihm einen Ort, auf den du automatisch, dh ohne daran denken zu müssen, wieder stoßen wirst. Das kann ein Kalendereintrag sein, ein Wiedervorlage-Buch, ein Zettel auf einer Pinnwand oder im Zahnputzglas, ein Weckeralarm, ein Knoten im Halstuch, eine regelmäßig aufploppende Handy-Erinnerung …

  • Wenn du vor Ärger auf jemanden nicht einschlafen kannst und dich körperlich und gedanklich hin- und her wälzt, schreibe ihm einen Wutbrief (nicht abschicken!!)! Morgen kannst du entscheiden, was davon du der Person direkt mitteilen möchtest.

  • Oder stehe auf und haue auf ein Kissen. Dabei könntest du fiese oder unanständige Sachen sagen oder schreien. Versuche, alles loszuwerden! Morgen kannst du entscheiden, was davon dann noch übrig ist. Achte dabei darauf, Andere nicht zu stören, aufzuwecken, zu erschrecken – sonst erhältst du morgen einen Wutbrief …

  • Oder schreibe eine bitterböse Geschichte über die Person – siehe Kasten:

 

Beispiel

Der Proll

In der Mittagspause machte ich einen Spaziergang am Kanal. Plötzlich kam ein kläffender Hund auf mich zu gerannt, gefolgt von einem grölenden Brocken. Mit Brocken meine ich jemanden, der besoffen ist und aggressiv und ziemlich kräftig. Er fing einen Streit an, kippte mir sein Bier ins Gesicht und bedrohte mich. Ich schaffte es, meinen Adrenalinstoß zu zügeln – und zu verschwinden.

Während meiner Nachmittags-Arbeit konnte ich ihn gut vergessen. Als ich nachts einschlafen wollte, erschien er mir in meinen Gedanken, verbunden mit allerlei Vorstellungen, was ich hätte sagen können und müssen und warum ich das denn nicht geschafft habe und wie ich das nächste Mal reagiere und was ich ihm alles an Schlechtem wünsche und – na ja, es nahm kein Ende – und ich lag grübelnd lange wach.

Die Lösung – das Erledigen – begann mit dem Gedanken:

Du Arsch! Jetzt machst du mir nicht auch noch meinen Schlaf kaputt!

Und dann fiel mir etwas ein: Ich hatte den Auftrag, für einen Sammelband einen Kurzkrimi zu schreiben, der an der Lübecker Bucht spielen sollte. Um ihn mit genügend Lokalkolorit würzen zu können, hatte ich mir den Ort des Geschehens bereits angeschaut.

Unmittelbar war mir klar, dass dieser Proll – so nannte ich ihn innerlich – sterben musste. Er sollte das Opfer eines Mordes werden. Die Todesart erschien vor meinem Geiste fast zeitgleich, ebenso die Täter: Bewohner eines Altenheimes, die er seit langem terrorisierte. Aufgeregt sprang ich auf, machte mir einige Notizen, legte mich dann hin, grinste, bedankte mich innerlich bei ihm (!) dafür, dass er sich als Mordopfer angeboten hat – und schlief unmittelbar ein.

 

Exkurs:

Prozesse statt Diagnosen!

Wenn Fachleute stets von Diagnosen sprechen – also bspw von Depressionen, Ängsten, Panik, Sucht usw –, geben sie zwar bestimmten Gruppen von Symptomen Namen, in denen sich Betroffene wieder finden können.

Das Eigentliche aber, die Prozesse, die zu dem jeweiligen Leiden führen, bekommen sie auf diese Weise nicht zu fassen. Mit Prozessen meine ich zB das erwähnte Unerledigte, das zu den unterschiedlichsten Symptomen und Erkrankungen führen kann, wie zB Schlafstörungen, Depressionen, Sucht- oder psychosomatische Erkrankungen.

Welcher Art das Leiden ist, das sich herausbildet, hängt von vielerlei individuellen Faktoren ab, zB von Umwelt- und genetischen Bedingungen, physiologischer Reagibilität, negativen Vorbildern, Vorerkrankungen, persönlichen Empfindlichkeiten und Ressourcen ...

Auf der Ebene der Prozesse finden sich, wie ich in meiner Arbeit immer wieder festgestellt habe, sehr viel bedeutsamere Gemeinsamkeiten zwischen Patienten, als wenn man Menschen durch die Brille der Diagnosen betrachtet.

Weitere Beispiele für Prozesse sind uA:

  • Introjektion, Retroflexion und Deflexion (diese Prozesse habe ich am Beispiel der depressiven Erkrankungen durchgespielt, vgl.:
    Auswege bei Depressionen

  • Atem- und Gefühls-Tabu, vgl.:
    Auswege bei Panik

 

Ich hoffe, mein Beitrag hat dich bereichert. Falls ja …

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