Was dich nicht umbringt, macht stärker – Wachstum nach Trauma?
Die Vorstellung, nach einer Krise oder einem Trauma gestärkt hervorzugehen, hat etwas Heroisches an sich. In der Psychologie spricht man vom posttraumatischen Wachstum, in anderen Kontexten von Resilienz oder (Self-)Empowerment. Ganz nach Nietzsche: “Was mich nicht umbringt, macht mich stärker”. Alles schöne Ideen, die aber nicht zu beweisen sind und keine Norm bilden.
Vgl. Was ist der Sinn des Lebens (heute)?
Ist jede Krise eine Chance?
“Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ ist ein Ausspruch von Friedrich Nietzsche, der heute gerne zitiert wird. Völlig egal, worum es geht. Als Parole zum Durchhalten und Ertragen jeder Art von Umständen scheint der Spruch hervorragend geeignet.
Aber wie ist das eigentlich in so einer Krise:
Woran lässt sich erkennen, ob Schicksalsschläge mein persönliches Wachstum fördern, gar Sinn kreieren helfen, oder meinen Untergang herbeiführen?
Was unterscheidet gesunde Widerstandsfähigkeit von ungesunder Verdrängung?
Und brauche ich die Krise wirklich zur wahren Selbstfindung?
Oder ganz anders: Handelt es sich bei dieser Art von Denken nicht vielmehr um ein neoliberalistisches Narrativ, das Menschen selbst in größter Not zur Selbstdisziplin und Selbstausbeutung antreiben soll? Vgl. auch das Gute im Menschen & die Macht der Narrative
Was ist eine (persönliche) Krise?
Eine Krise kommt meist plötzlich und stellt eine bedrohliche Herausforderung für das persönliche Sein oder Leben dar. Der Begriff stammt vom altgriech. Wort "krisis", was "Entscheidung" oder "Scheideweg" bedeutet. Gleichzeitig beinhaltet eine Krise immer eine aktive Komponente, da das Verb “kritein” auch “streiten, kämpfen, entscheiden” bedeutet.
In der medizinischen Terminologie steht der Begriff "Krise" für den Höhepunkt einer Krankheit oder eines Zustands, der eine Wendung zum Besseren oder Schlechteren nehmen kann.
Was mich nicht umbringt, macht mich nicht stärker
Krisen sind nicht immer Chancen
Auffällig erscheint mir jedenfalls die starre binäre Deutung, die im Sprachgebrauch steckt. Entweder gehe ich an einer Krise endgültig zugrunde oder ich überlebe sie und werde stärker. Dabei gibt es doch auch andere denkbare Ergebnisse, die keiner von beiden Alternativen zuzuordnen sind:
Es gibt viele Menschen, die schwere Misshandlungen und Missbrauch erlebt haben, an dieser Erfahrung aber nicht gewachsen sind – oder zumindest nicht ohne Hilfe damit leben können. (Vgl. Entwicklungstrauma)
Was ist mit den vielen Soldaten, die aus einem Krieg zurückgekehrt sind und unter posttraumatischer Belastungsstörung leiden? In den meisten Fällen haben Betroffene nicht an Stärke gewonnen, sondern empfinden sich als geschwächt und hoch belastet.
Wie sehen das wohl Eltern, die gerade ihr schwerkrankes Kind verloren haben? Es ist zweifelhaft, ob sie sich als stärker beschreiben würden. Vielleicht als achtsamer, aber nicht stärker oder besser.
Wie realistisch ist es, zu denken, dass Kinder und Jugendliche in Afrika oder im Iran gestärkt aus existenzieller Armut und Kriegen hervorgehen? Eher das Gegenteil ist wahrscheinlich.
Trend Resilienz – Positivität als Norm
Resilienz wird heute als Allheilmittel propagiert. Und zu Recht kritisiert: Experten wie Klaus Ottomeyer und Thomas von Freyberg erkennen in der weit verbreiteten Anwendung des Resilienzkonzeptes die Tendenz zur Individualisierung gesellschaftlicher Risiken und zur Übertragung sozialer Verantwortung auf den Einzelnen. Ottomeyer geht sogar so weit, von einem "Neoliberalismus in der Psychotherapie" zu sprechen. (2)
Vgl. auch: 7 Säulen der Resilienz – Kritik: gut, aber kein Allheilmittel!
Wie ein Phönix aus der Asche, sollen Patienten aus Krisen gestärkt hervorgehen
Der Mythos vom posttraumatischen Wachstum
Dennoch gibt es zahlreiche Erzählungen und Geschichten über Menschen, die es geschafft haben, schwere Krisen und Rückschläge als Chance für ihre persönliche Weiterentwicklung zu nutzen. Ich lese oder höre in diesem Zusammenhang immer wieder von innerer Stärke, Durchhaltevermögen, Dankbarkeit, Selbstverwirklichung und Sinnstiftung. Das sind mal wieder eine ganze Menge an idealen Eigenschaften oder Ergebnissen.
Propagiert hier die Psychologie nicht etwas, das überaus selten vorzufinden ist? (Vgl. auch Armut & Depression – gesundheitliche Ungleichheit)
In der Traumaforschung spricht man von posttraumatischem Wachstum, wenn Menschen nach Krisen persönlich wachsen können. Allerdings handelt es sich hierbei um ein relatives und subjektives Phänomen. Noch wichtiger: Es bildet nicht die Norm.
Was ist posttraumatisches Wachstum?
Posttraumatisches Wachstum bezieht sich auf positive Veränderungen, die eine Person nach einem traumatischen Ereignis erleben kann. Sie beinhaltet eine erhöhte Wertschätzung des Lebens, eine gestärkte Resilienz und eine neu entdeckte Sinnhaftigkeit.
“Resilienz bedeutet, Krisen ohne größere Belastung zu bewältigen. Wenn Menschen resilient reagieren, werden keine Glaubenssysteme erschüttert und eine Krise löst keinen Veränderungsprozess aus.
Für posttraumatisches Wachstum braucht es jedoch genau diese heftige Erschütterung und den darauffolgenden Absturz in ein Loch, in dem die Welt nicht mehr so ist, wie sie vorher war. Ein Loch, aus dem man sich hervor kämpfen muss, indem man das Geschehene integriert und Veränderungen im eigenen Leben oder der eigenen Persönlichkeit verarbeitet und annimmt.” (Loeffner, 3)
Unwissenschaftliche Methoden einer Wissenschaft
Von der deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie heißt es, es gäbe 2.778 wissenschaftliche Studien zum posttraumatischem Wachstum. Klingt nach einer schönen Zahl, doch der Teufel liegt im Detail:
All diese Studien wurden nämlich erst nach der Krise gestartet. Bedeutet: Betroffene wurden nicht vor und nach der Krise befragt, weil die ja schwer vorherzusehen ist, sondern bloß nach der Krise. Man weiß also gar nicht, wie das Leben der Teilnehmer vor der Krise empfunden wurde und welche Probleme es gab.
Die Fragebögen arbeiten mit äußerst suggestiven Fragestellungen, welche die Ergebnisse stark verzerren. Zum Beispiel “Fühlen Sie sich nach der Krise reifer als vorher?” Ich denke, das würden wohl die meisten Menschen von sich behaupten.
Hinzu kommt die Verzerrung von Erinnerungen (7) bei traumatischen Erfahrungen.
Und auch, dass sich das Selbstbild Betroffener stark von der äußeren Wahrnehmung unterscheiden kann (8).
Mehr Menschlichkeit statt Normierung
Krisen zu überstehen oder zu überleben ist das eine. Etwas anderes, aus Krisen stärker hervorzugehen – das ist nämlich nicht die Regel, sondern die große Ausnahme.
Bevor ich wachsen kann, muss ich heilen.
Das setzt voraus, dass ich den Schmerz nicht einfach ignoriere. Doch in unserer von Wachstum besessenen Gesellschaft scheint dafür kein Raum zu sein. Leider nicht einmal in einer Psychotherapie.
Ich will noch einmal betonen: Ja, Menschen können an Krisen wachsen. Nur wachsen nicht die meisten Menschen an Krisen, wie vielfach behauptet. Es ist einfach nur zynisch, persönliches Wachstum nach einem Trauma zur Norm zu erheben.
Mythos: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker
Nietzsche über Krisenmanagement
Zum Schluss will ich noch einmal zu Nietzsche zurückkehren. Was hat der Philosoph denn empfohlen, der so gerne zitiert wird?
Er bezeichnet eine Überbewertung der Vergangenheit als den sichersten Weg, um in einer Krise zu scheitern. Stattdessen empfiehlt er, sich eine zukünftige Situation vorzustellen, in der keine der Werte oder Verhaltensmuster, die zur Krise geführt haben, noch Verbindlichkeit haben.
Nietzsche taufte dieses avantgardistische Vorhaben: "Neubewertung aller Werte". Damit meint er aber nicht, Positives aus der Situation zu gewinnen, sondern sie zu überdauern.
So empfiehlt Nietzsche in „lebensgefährlichsten Umständen (…) jenen Fatalismus ohne Revolte, mit dem sich ein russischer Soldat, dem der Feldzug zu hart wird, zuletzt in den Schnee legt. Nichts überhaupt mehr annehmen, überhaupt nicht mehr reagieren (…) eine Art Wille zum Winterschlaf“.
Gleichzeitig klingt hier schon die Parole vom Übermenschen an, denn das Resultat soll ein krisenfester Mensch sein: „Er erräth Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufälle zu seinem Vorteile (…) er sammelt instinktiv aus Allem, was er sieht, hört, erlebt, seine Summe (…) er ist stark genug, dass ihm alles zum Besten gereichen muss.“
Bizarrerweise erlitt Nietzsche, kurz nachdem er sein Werk "Ecce Homo" fertiggestellt hatte, einen weiteren Zusammenbruch und verfiel für immer in geistige Verwirrung, bis zum Ende seines kurzen Lebens.
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Fazit: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker?
Immer wieder wird von einigen “Fachleuten” behauptet, Betroffene sollten dankbar sein für ihre schrecklichen und traumatischen Erfahrungen, denn das mache sie nur stärker. Ich halte solche Idealisierungen und Pauschalisierungen für fatal und naiv.
Die Art und Weise, ob und wie posttraumatisches Wachstum in Erscheinung tritt, variiert von Mensch zu Mensch und ist von individuellen Erfahrungen geprägt. Es ist bereits eine beachtliche Leistung, ein Trauma bzw. eine Krise zu überstehen und zu überleben. Das allein verdient größten Respekt.
Doch zu erwarten oder zu fordern, auch noch etwas Positives daraus zu gewinnen, ist destruktiv. Niemand hat sich zu schämen, wenn es nicht möglich ist, nach der Krise zu erstarken oder zu wachsen.
Nicht jedes Trauma und jede Krise muss zu einer Art persönlicher Transformation führen.
Was aber durchaus richtig ist: dass Menschen, die in ihrem sozialen Umfeld auf Unterstützung zählen können, nach einer Krise schneller wieder auf die Beine kommen (12).
Quellen:
1) Jessica Brautzsch: Was uns nicht umbringt, macht uns (nicht) stärker? (MDR)
2) Fit für die Katastrophe? Der Resilienzdiskurs in Politik und Hilfe. stiftung medico international, Frankfurt, 6. Juni 2015.
3) Alexandra Loeffner: Posttraumatisches Wachstum – Wie Krisen uns stärker machen
4) Friedrich Nietzsche: Ecce Homo
5) Mark Seery (2011). Resilience: A Silver Lining to Experiencing Adverse Life Events? Current Directions in Psychological Science, Band 20, Nummer 6, Seite 390-394.
6) Georg Gruber: Umgang mit Krisen – Verzweifeln oder Wachsen (Deutschlandfunk Kultur)
7) McFarland, C., & Alvaro, C. (2000). The impact of motivation on temporal comparisons: coping with traumatic events by perceiving personal growth. Journal of personality and social psychology, 79(3), 327.
8) Frazier, P., Tennen, H., Gavian, M., Park, C., Tomich, P., & Tashiro, T. (2009). Does self-reported posttraumatic growth reflect genuine positive change?. Psychological science, 20(7), 912-919.
9) Dekel, S., Ein-Dor, T., & Solomon, Z. (2012). Posttraumatic growth and posttraumatic distress: A longitudinal study. Psychological Trauma: Theory, Research, Practice, and Policy, 4(1), 94.
10) What We Gain From Pain. Hidden Brain Podcast
11) Maercker, A., & Rosner, R. (2006). Psychotherapie der Posttraumatischen Belastungsstörung: Krankheitsmodelle und Therapiepraxis-störungsspezifisch und schulenübergreifend.
12) Infurna, F. J., Luthar, S. S., & Grimm, K. J. (2022). Investigating posttraumatic growth in midlife using an intensive longitudinal research design: Posttraumatic growth is not as prevalent as previously considered. European Journal of Personality, 36(4), 576-596.