Kristin - Verletzungen in der Psychotherapie

 

In der ersten Sitzung bekommt Kristin die volle Breitseite

Kristin, eine frühere Patientin, berichtet mir in einer Mail, was sie bei einer erneuten Psychotherapeuten-Suche erlebt hat:

„Meine Erfahrungen mit dem Therapeuten [X]: Frau [Y] hat ihn mir empfohlen und war so freundlich, sogar den Termin für mich zu machen. Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass er zugewandt und kompetent ist. Zu dem Zeitpunkt ging es mir sehr schlecht und ich war froh, mit jemandem sprechen zu können.

Psychotherapeut? – Selbstredend!

Schon die ersten Minuten gestalteten sich schwierig. Zunächst sollte ich über mich reden. Dabei fiel er mir dauernd ins Wort und ermahnte mich zwischendurch sogar unfreundlich, dass ich ihn ausreden lassen sollte. Von da an achtete ich natürlich erstmal darauf und ließ ihn reden:

Von seiner Kindheit, der Vater war Alkoholiker, die Mutter nach der Trennung alleinerziehend. Vater kümmerte sich nicht, er selbst machte exzessiv Sport usw. Ende der Geschichte war, aus ihm sei trotzdem etwas geworden.

Ich, das Ego-Monster!

Zum Ende der ersten (!) Stunde kam er dann aber auch zu seiner Einschätzung über mich: Ich bin so, weil ich Aufmerksamkeit will, immer im Mittelpunkt stehen, eine, die bei jeder Party die Nummer Eins ist und es liebt, gesehen und bewundert zu werden.

Es war ein etwas längerer Monolog, irgendwann habe ich ihn nur noch angegrinst und am Ende ganz ruhig gesagt, dass er damit komplett falsch liegt.

Auf dem Weg zum Auto hab ich natürlich erstmal wieder geheult. Zu Fuß durch das Gelände der Uniklinik. Wahrscheinlich dachten die Leute, ein naher Angehöriger sei gestorben.

Frau Patientin, mir geht es ja so schlecht!

Im Grunde war klar, dass für mich mit ihm keine Therapie möglich ist. Trotzdem ging ich noch einige Male hin. Irgendwie wollte ich ihm nicht den Gefallen tun, sofort abzubrechen. Es blieb weiterhin schwierig.

Ungefähr beim dritten Termin entschuldigte er sich für seine Einschätzung über mich, er hätte damit komplett falsch gelegen.

Zu dem Zeitpunkt ging es auch um die Verlängerung meiner Rente. Mit ihm reden konnte ich darüber gar nicht. Er meinte, wenn ich zum Gutachter müsste, dann sei das ein ganz normaler Vorgang. Trotzdem bat ich ihn um ein Attest für die Rentenversicherung. Ich wollte lediglich, dass er mir bescheinigt, dass ich bei ihm eine Therapie mache.

Er lehnte es ab. Beim nächsten Treffen frug ich ihn dann, warum? Er sagte mir, dass es für ihn ziemlich viel Arbeit sei und dass es nicht mit einem Satz getan wäre. Zudem müsste er das Ganze seinem Chef vorlegen und das wäre ihm alles zu umständlich.

Dann war ich tatsächlich nochmal da. Er entschuldigte sich ein zweites Mal sehr ausführlich für seine Einschätzung der ersten Stunde. Sagte sogar, dass ihm das ständig durch den Kopf gehen würde und er deshalb nicht einschlafen konnte.

Die Entschuldigung fand ich gut. Ich hatte das Gefühl, sie war ehrlich gemeint. Trotzdem änderte es für mich nichts.

Er sprach weiterhin sehr viel über sich. Allerdings habe ich mich auch deutlich zurückgenommen. Ich ging jedesmal mit einem unguten Gefühl zu ihm und war im Grunde froh, wenn die Stunde vorbei war.

Herr Therapeut, ich kann Ihnen auch nicht helfen!

Ich habe ihm dann einen Brief geschrieben und ihm mitgeteilt, dass es mit uns nicht passt und ich die Therapie beenden werde. Ich hätte es auch ausführlicher erklären können, aber das war mir zu mühselig. Per Mail ging das nicht, denn auf meine Nachfrage verweigerte er mir die Herausgabe seiner Email Adresse.

So, das waren meine Erfahrungen mit dem Therapeuten [X]. Obwohl es schon eine ganze Weile her ist, strengt es mich schon an, das aufzuschreiben.

Abschließend möchte ich noch bemerken, dass ich es grundsätzlich gut finde, auch etwas über das Leben meines Therapeuten zu erfahren. Ehrlich gesagt, ehrt es mich sogar ein bisschen. So wie es bei ihm abgelaufen ist, ging es allerdings gar nicht. Zum einen war die erste Stunde dafür komplett falsch gewählt und später hatte ich eher das Gefühl, ich sei manchmal seine Psychologin.“

Dr. phil. Michael Mehrgardt

Hallo, meine Name ist Dr. phil. Michael Mehrgardt und ich war fast 40 Jahre lang als Psychologischer Psychotherapeut tätig. Dabei musste ich viele Missstände kennenlernen, die ich auf diesem Psychotherapie-Blog offen anspreche, das Thema: Grenzverletzung in der Psychotherapie. Auf meinem YouTube-Vlog  findest du Selbsthilfe-Tipps bei Depressionen, Ängsten, Paarkonflikten & Co.

Zurück
Zurück

Traurigkeit & Trauer (Philosophie) – Bedeutung + Unterschiede

Weiter
Weiter

Psychosoziale Faktoren der Depression – Stress & Überforderung