Psychosoziale Faktoren der Depression – Stress & Überforderung
Warum erkranken immer mehr Menschen an Depressionen? Aus soziologischer Perspektive ist die Sache klar: In einer Gesellschaft, welche die seelischen Ressourcen eines Menschen zunehmend “verwertet” und die Glück als käuflich versteht, kann der Mensch nur erkranken.
Immer mehr psychische Störungen
werden heutzutage mit einer Kombination aus Medikamenten und Verhaltenstherapie behandelt, die sich hervorragend in ein lukratives Versorgungsmodell fügen, das vor allem an wirtschaftlichen Interessen ausgerichtet zu sein scheint.
Die Depression als Spiegelbild der Gesellschaft?
Von der soziologischen Warte aus ist es bemerkenswert, dass die individuelle depressive Erfahrung so massenhaft und immer häufiger auftritt. Anders ausgedrückt: Das depressive Selbsterleben erscheint wie die groteske Kehrseite des gesellschaftlichen Erwartungsdrucks, dem heute viel zu viele Menschen unterliegen.
Leben wir in einer Zeit, in der Menschen nur noch depressiv werden können?
Depressionen wirken wie ein Zerrbild des modernen idealen Menschenbildes: Autonomie, Selbstständigkeit, Selbstmanagement und Selbstfürsorge - all das sind Symbole unserer modernen Identität. Insbesondere Selbstverantwortung wird ständig gepredigt – im Fernsehen, in Magazinen und Zeitungen und sogar in der Psychotherapie. Das passt recht gut zum neoliberalistischen Zeitgeist.
Denn wer überzeugt ist, dass die eigenen Entscheidungen und Handlungen ausschließlich selbstverantwortlich sind, der wird sich bei mangelnder Leistung oder Misslingen immer selbst beschuldigen müssen. Ein persönliches Dilemma, an dem nicht nur Menschen mit Depressionen leiden, sondern alle Menschen in einer modernen Leistungsgesellschaft.
Mehr erfahren » Depression: Gesellschaftliche Ursachen & Determinanten
Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? – Kritik der Kulturkritik
Höher, schneller, weiter
Zeitstress bei Alt und Jung
Es fällt nicht schwer, sich in Bezug auf die Zeit in den Beschreibungen von depressiven Menschen wiederzufinden: rasche Veränderungen und beschleunigte Prozesse lösen bei vielen das Gefühl aus, in bestimmter Hinsicht…
nicht mehr mithalten zu können
in Rückstand zu geraten
an Boden zu verlieren
zurückzubleiben
Zukunft als To-Do-Liste
Die Zukunft ist nicht mehr ein ferner Ort von Möglichkeiten, sondern lediglich eine begrenzt verfügbare Zeitspanne zur Umsetzung von gegenwärtigen Plänen. Das schnelle Tempo, mit dem die Welt sich verändert, betont zusätzlich das langsame Fortschreiten unseres eigenen Daseins.
Innere Leere, Erschöpfungsdepressionen (Burnout) und Müdigkeit breiten sich in der Gesellschaft aus – und treffen vor allem diejenigen, die am wenigsten Ressourcen besitzen, um mit den vielfältigen Missständen & Widrigkeiten des Lebens fertig zu werden. vgl. Gesundheitliche Ungleichheit - Armut & Depression
Gesundheit als normative Eigenschaft
Es ist erschreckend, wie das Vertrauen in die eigene Körperlichkeit (Leiblichkeit) heutzutage systematisch erodiert wird.
Der aktuelle Gesundheits-, Fitness- und Wellness-Trend zeugt von einer beunruhigenden Obsession mit einem idealisierten Körperbild. Das Streben nach "Health" führt zu ständiger Selbstüberwachung, Selbstanklage und Selbstabwertung.
Darüber hinaus: gesund sein und bleiben zu wollen, braucht ein gehöriges Maß an flexibler Aufmerksamkeit und stetig aktualisierter Selbstdisziplin.
Ob mentale Übungen, Entspannungstechniken, natürliche oder chemische Stimulanzien bzw. Beruhigungsmittel – all diese Dinge dienen dazu, die menschliche Natur mitsamt Psyche funktional zu gestalten.
Früher wurde die Seele als rätselhaftes Zwischen angesehen
Heute spricht die Psychologie nicht mehr von der Seele, sondern von Stoffwechselfunktionen und Hirnaktivitäten. Die Seele ist dem physischen Körper zugeordnet, was sie zum Gegenstand sorgfältiger objektiver Untersuchungen macht. (vgl. Philosophie & Psychologie)
Weitere psychosoziale Faktoren von Depressionen
Gerade in soziokultureller Perspektive erscheint die Depression als Verlust an existenziellen Daseinsbezügen, die sich aus der Paradoxie sozialer und sozioökonomischer Anforderungen ergeben.
Einerseits soll der moderne Mensch sein Leben selbst gestalten, sich verwirklichen, authentisch sein und sich durchsetzen können. Andererseits muss er auch über soziale Kompetenzen verfügen, sich unterordnen können u.v.m., um innerhalb der sozialen Gemeinschaft bestehen zu können.
Er soll konsumieren und gleichzeitig in bedachter Vorausschau für seine Gesundheit auf zu viel Konsum & Genuss verzichten.
Er muss seine beruflichen Kompetenzen über viele Jahre bzw. Jahrzehnte stetig anpassen und entwickeln, um flexibel auf veränderte Berufsanforderungen zu reagieren. Parallel dazu wird erwartet, dass er über Spezialkenntnisse verfügt, um jeder Situation gerecht zu werden. Vgl. Randseiter (marginal man) – Zwischenwelten
Heute wird vorausgesetzt, trotz des enormen Drucks und der rasanten Geschwindigkeit, mehrere Aufgaben simultan in gleich guter Qualität zu bewältigen – und dabei dennoch einen gesunden Lebensstil zu pflegen.
Paradoxien der Moderne
Das sind nur einige Beispiele von vielen Doppelbotschaften, mit denen uns die moderne Welt konfrontiert.
Sich richtig zu verhalten erscheint angesichts solch paradoxer Anforderungen völlig utopisch. Mit weitreichenden Folgen für den Einzelnen: immer mehr Menschen klagen über Ohnmacht, Unsicherheit, Hoffnungslosigkeit oder Vereinsamung. Vgl. auch Auswege bei Depressionen und Homo Solus (kulturelles Selbstverständnis)
Depressionen als gesellschaftliches Phänomen
Depressionen sind zweifellos eines der dominantesten psychischen Gesundheitsprobleme unserer Zeit. Sicherlich sind immer individuelle und psychologische Faktoren zu berücksichtigen, aber es gibt überzeugende Argumente dafür, dass Depressionen zumindest in ihrer heutigen Ausprägung ein gesellschaftliches Phänomen der Moderne darstellen.
hat die rasante Veränderung der Gesellschaft zu erhöhtem Stress und Druck geführt.
trug die Modernisierung zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen bei, darunter die Auflösung traditioneller Gemeinschaftsstrukturen und der Anstieg der Ein-Personen-Haushalte.
ist die Moderne stark leistungsorientiert und auf den Wettbewerb fokussiert, was zu erhöhtem Druck und Selbstwertproblemen führen kann. Auch die verzerrte Realität von Social Media scheint ihr Übriges dazu beizutragen.
Pathologisierung & Medikalisierung – Hauptsache schnell
Schließlich gibt es auch Argumente, dass die heutige Gesellschaft eine Rolle bei der Pathologisierung normaler menschlicher Emotionen spielt. Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Enttäuschung sind normale Reaktionen auf negative Ereignisse im Leben.
Doch erzeugt der Druck, ständig glücklich und erfolgreich zu sein, die Vorstellung, dass normale negative Emotionen als abnorm oder krankhaft betrachtet werden. (vgl. toxische Positivität = toxic positivity)
Sozialstrukturelle Faktoren
Sozioökonomischer Status: Menschen mit geringem Einkommen, in prekärer Beschäftigungssituation oder Arbeitslosigkeit sind einem höheren Stressniveau ausgesetzt. Stress schwächt das psychische Wohlbefinden.
Bildung: Bildung ermöglicht bessere Berufschancen und fördert das Verständnis für Gesundheit und Krankheit. Ein niedriger Bildungsstand scheint oft mit einem erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen verbunden zu sein.
Lebens- & Arbeitsbedingungen: Die Qualität der Wohnsituation, Arbeitsbelastung, Lärm, Umweltverschmutzung und Erholungsmöglichkeiten beeinflussen die psychische Gesundheit weit mehr, als viele wissen.
Soziale Unterstützung & Isolation: Ein unterstützendes soziales Netz ist kein Garant, doch ein positiver Einflussfaktor, während soziale Isolation das Risiko für psychische Erkrankungen erhöht.
Diskriminierung & Stigmatisierung: Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung aufgrund von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, sexueller Orientierung oder anderen Merkmalen sind traumatisch und kumulieren in einer erhöhten psychischen Belastung. Vgl. Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft
Gesellschaftliche Normen & Werte: Unrealistische Schönheitsideale, Leistungsdruck und der Zwang zur Selbstoptimierung prägen unser Selbstbild negativ.
Zugang zu Gesundheitsversorgung: In Deutschland herrscht eine gesundheitliche Ungleichheit. Viele haben keine Möglichkeit, frühzeitig Hilfe zu erhalten.
Politische & rechtliche Rahmenbedingungen: Gesetze und politische Entscheidungen, die zum Beispiel Armut, Bildungsungleichheit oder Diskriminierung fördern, wirken sich selbstverständlich auf die psychische Gesundheit aus.
Unsicherheiten & Krisen: Kriege, Naturkatastrophen, wirtschaftliche Krisen oder Pandemien sind externe Faktoren, die zu einer allgemeinen Zunahme von Stress und Angst in der Bevölkerung führen (Stichwort: Corona-Krise).
Fazit: Psychosoziale Faktoren der Depression
Obwohl die Depression sicherlich individuelle, biologische und psychologische Komponenten besitzt, ist sie in ihrem derzeitigen Ausmaß doch tief in den Strukturen und Herausforderungen unserer modernen Gesellschaft verwurzelt.
Der hektische Lebensstil, der verstärkte Wettbewerb und die sozialen Veränderungen, die durch den technologischen Wandel hervorgerufen werden, tragen alle dazu bei, das Risiko für Depressionen zu erhöhen. Hinzu kommt die Tendenz der heutigen Zeit, normale menschliche Emotionen zu pathologisieren.
Ein Paradigmenwechsel ist überfällig
Daher ist es von entscheidender Bedeutung, nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftliche Faktoren in Präventions- und Behandlungsstrategien zu berücksichtigen.
Eine erfolgreiche Vorbeugung und Therapie von Depressionen kann nur durch eine umfassende Strategie erreicht werden, die auch die Einflüsse der Gesellschaft auf den Einzelnen miteinbezieht. Die Schaffung von besseren sozialen Unterstützungssystemen und einem umfassenden Zugang zu psychotherapeutischen Maßnahmen sind daher von größter Bedeutung.
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Quellen:
1) afp/aerzteblatt.de: Langfristige Verordnung von Antidepressiva und Schmerzmitteln gestiegen (03. August 2021)
2) Mathias Brandt: Mit Tabletten gegen die Depression (Statista Global Consumer Survey)
3) Servet Yanatma: Psychopharmaka in Europa: In welchem Land werden die meisten Antidepressiva genommen? (euronews 22/11/2022)
4) Beatrice Frasl: Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche. Haymon Verlag, 2022
5) Carina Schroeder: Ursachen von Depressionen – Leben in einer Leistungsgesellschaft (Deutschlandfunk Kultur: 30.12.2021)