Liebe braucht Egoismus

KONFLIKTLÖSUNG #1:
Unverschämt sein!

Einleitung und Übersicht

Kommunikation

Meine Beiträge über Paarkonflikte sind nicht nur für Paare hilfreich, sondern auch für Kommunikation und Konfliktbewältigung im beruflichen und sonstigen privaten Kontext.

Wir lernen nirgends Kommunikation, deshalb ist es fast ein Wunder, dass doch mal ab und zu eine Kommunikation funktioniert.

Meine Beiträge über Konfliktlösung

In meinen Blog-Artikeln findet ihr 5 Beiträge mit den Titeln:

  1. Liebe braucht Egoismus! Der Ö-goismus

  2. Wut tut gut!

  3. Verstehen ist eine Falle!

  4. Verhandeln statt diskutieren: Türkischer Basar und größere Kuchen

  5. … und als Dessert: der Streichholztrick

Länge der Videos

Manche finden meine Videos zu lang. Das verstehe ich, ich versuche, mich kürzer zu fassen. Andererseits handelt es sich hier nicht um Mode- oder Einrichtungs-Tipps, sondern es geht immer irgendwie ums „Eingemachte“ – und das muss erst mal ans Tageslicht gehoben werden.
Außerdem möchte ich gerne einige Beispiele geben und zu Übungen anregen, um sichtbar zu machen, was ich sagen möchte.

 

Das Egoismus-Tabu

Vorwurf

Egoismus wird oft als Vorwurf und Totschlag-Argument verwendet und gilt als böse, eigennützig oder moralisch verwerflich: Du bist aber egoistisch, heißt es bspw, ich an deiner Stelle hätte mir ja das kleinere Stück Torte genommen!

Verleugnung und Intransparenz

Egoismus wird meist nicht offen zugegeben, sondern verleugnet. Egoistische Motive werden nicht benannt. Die Menschen tun so, als seien sie der Sache an sich verpflichtet. Sie geben vor, das Beste für den Anderen zu wollen oder nur der Sache zu dienen.

  • Ich verbiete dir das nur zu deinem eigenen Wohl, sagt der Vater zur 17-jährigen Tochter, die zur Mitternachtsfete will. – In Wirklichkeit will er sie nicht hinfahren müssen, oder er denkt daran, wie er selbst als Jugendlicher drauf war und eben immer nur das Eine wollte.

  • Ich mache das nicht aus Eigennutz! – Ehrlich wäre zB: Ich verspreche mir davon einen Listenplatz für die Landtagswahl. Oder: … eine baldige Beförderung.

  • Ich will doch nur dein Bestes! – Offen wäre zB: Ich habe Angst, dass aus dir nix wird und du uns weiterhin auf der Tasche liegst!

  • Zum Wohl unserer Patientinnen müssen Ärztinnen und Pflegekräfte besser bezahlt werden! – Transparent wäre: Wir wollen mehr Geld und Anerkennung!

  • Es ist doch wohl klar, dass dieses Mal eine Ostdeutsche die Leitung übernehmen muss! – Statt: Ich will die Leitung übernehmen, weil ich besser qualifiziert bin als die Anderen/ weil ich so ein cooler Typ bin/ weil meine Frau sonst mehr verdient als ich.

Wer argumentiert, gewinnt.

Wer besser argumentieren kann, setzt sich durch. Es geht stets darum, wer vernünftiger, besser, weitsichtiger, praktischer, ökologischer ist. Dabei sind die benutzten Argumente längst nicht immer rational oder logisch; sie müssen auch nicht der Wahrheit entsprechen. Aber sie werden so dargestellt, als wären sie es. Oder der Partner wird als blöd hingestellt. Zum Beispiel:

  • Deine Urlaubswünsche sind unvernünftig, weil wir von dem Geld die neue Waschmaschine bezahlen müssen, und dass wir die brauchen, wirst du ja wohl nicht abstreiten können!

  • Du wirst doch wohl einsehen, dass Urlaub am Meer wegen der Jodhaltigkeit der Luft viel gesünder ist als in den Bergen, wo die natürliche Strahlung extrem hoch sein kann!

  • Fliegen ist überhaupt nicht schädlich. Wenn du etwas von der Relativitätstheorie verstündest, würdest du wissen, dass man durchs Fliegen sogar jünger wird!

  • Du kannst doch nicht ständig Sex wollen! Das ist doch nicht normal!

Zero/ Sum-Lösungen

Weil die beteiligten egoistischen Motive verdeckt bleiben und letztlich nur rationale Argumente zählen, gibt es immer Gewinnerin und Verlierer: Eine bekommt alles, der andere nichts. Bei der unterlegenen Partei entstehen Ärger, Missgunst und Frustration, die sich ihre Ventile suchen und früher oder später zur Eskalation führen. Denn solche negativen Gefühle lassen sich nicht durch Argumente oder Logik einfach beiseite schieben.

Ö-goismus – der Ökologische Egoismus

Leben ist Egoismus

Der Ö-goismus beruht darauf, dass alle lebendigen Systeme prinzipiell egoistisch sind:

  • Die Körperzelle wählt mit Hilfe ihrer Zellmembran aus, welche Stoffe sie als bereichernd aufnimmt und welche sie als unnütz abweist.

  • Das Immunsystem lässt nützliche Eindringlinge passieren und bekämpft schädliche.

  • Das Verdauungssystem sucht sich aus, welche zugeführten Materialien es in Substanz oder Energie umwandelt und welche es ausscheidet.

  • Partnerwahl und Fortpflanzung beruhen darauf, den bestmöglichen Partner für sich auszuwählen, und dies letztlich ohne Rücksicht auf Konkurrenten.

  • Bewerbungen um Arbeits-, Studien-, Praktikums-Stellen oder Wohnungen erfolgen in dem Wunsch, andere Bewerberinnen auszustechen.

  • Reservierungen: Und will man schließlich nicht auch mit dem Handtuch am Pool, der Tisch-Reservierung, dem vorab gebuchten Logenplatz im Theater den Anderen abwehren, um das Beste für sich zu ergattern?

Ich will damit sagen, dass (nahezu?) alle Handlungen, Wünsche und Begegnungen im Kern egoistisch sind:

Du kannst nicht nicht egoistisch sein! Du kannst allenfalls so tun, als ob nicht.

Wenn wir zu unseren Ö-goismen stehen und alle diese transparent machen dürften, wäre unser aller Leben deutlich weniger kompliziert.

Ich will jetzt nicht darüber spekulieren, inwieweit es einen reinen, von allem Egoismus befreiten Altruismus geben kann. Die selbstvergessene Helferin, der Sich-Aufopfernde, die todesverachtende Märtyrerin, der asketische Mönch, die selbstlose Samariterin: Sind deren Motive immer frei vom Streben danach, ein höhergestelltes Wesen zu sein, vom Wunsch nach Anerkennung oder Bewunderung, von moralischem Wohlgefühl oder gar Selbstgefälligkeit?

Du und der Andere

Der Ö-goismus ist ein Egoismus mit Blick auf die Anderen. Das will besagen, dass du nicht richtig glücklich sein kannst, wenn ein Anderer in deiner fühlbaren Umgebung unglücklich ist.

Sicherlich sind viele Menschen in der Lage, das Leid des Anderen auszublenden. Menschen unterscheiden sich gewiss darin, in welcher räumlichen oder emotionalen Entfernung die Not Anderer für sie spürbar ist.

Ich bin mir aber sicher, dass das Ausblenden des Leidens Anderer mit einem Preis verbunden ist, den man zu zahlen hat. Das möchte ich mit den folgenden Metaphern veranschaulichen:

  • Das Zaun-Bild: Wenn du die Menschen in deiner Umgebung dominierst und übervorteilst, sei es finanziell, sei es physisch, sei es psychisch, musst du (materielle oder immaterielle) Zäune errichten, um sie dir von Leib und Seele fernzuhalten. Der Zaun, den du brauchst, um dich abzuschotten und abzusichern, muss hoch und fest sein; gleichzeitig schränkt er deine geistige, emotionale und motorische Freiheit ein. Gäbe es keinen Zaun, würden die negativen Befindlichkeiten der Lebewesen nämlich die Umwelt, in der du lebst, prägen.

  • Das Luft-Bild: Die Anderen sind die Luft, die du atmest. Wenn du deren Wohl nicht im Blick hast, vergiftest du deine Luft, vergiftest du dich selbst.

  • „Cäsar“: Den (leicht abgewandelten) Ausspruch, den Shakespeare Julius Cäsar in den Mund legt: Lasst glückliche [eigentlich: dicke] Menschen um mich sein! möchte ich wie folgt ergänzen: Nur dann kann auch ich glücklich sein!

Maximen und Regeln des Ö-goismus

  1. Akzeptiere dich! Stehe zu dem, was du möchtest und was du nicht möchtest!
    Zum Beispiel:
    - Wenn du täglich 3 x Sex möchtest, ist das in Ordnung.
    - Und genauso ok ist es, wenn Sex bei dir erst an 7. Stelle steht oder du Sex einfach nicht magst.
    - Oder wenn du keinerlei berufliche Karriere machen, sondern nur Hausmann und Vater sein willst, darfst du dich so akzeptieren (auch wenn Andere deinen Lebensentwurf abwerten sollten).

  2. Kommuniziere klar! Teile klar mit, was du wünschst, denkst, ablehnst oder fühlst!
    Zum Beispiel:
    - Ich wünsche mir sofort, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, Sex mit dir. Erst danach bin ich in der Lage, mit dir ein Gespräch zu führen.
    - Ich liebe Unordnung, weil es mir ein Gefühl von Lebendigkeit vermittelt.
    - Ich mag es gerne, wenn meine Bleistifte parallel nebeneinander liegen!
    - Ich mag nicht ins Theater gehen.
    - Ich weiß gerade nicht, was ich will.

  3. Ermutige den Partner! Unterstütze und ermutige dein Gegenüber, es ebenso zu tun! Zum Beispiel:
    - Teile mir offen mit, welches deine sexuellen Wünsche sind! Sage mir klar, wenn du überhaupt keinen Sex magst.
    - Du hast gerade gesagt, die Sonne scheint – freust du dich darüber?
    - Gefällt es dir, dass dunkle Wolken aufziehen, weil wir jetzt nicht an den Strand müssen?
    - Hat dich verletzt, was ich eben gesagt habe?

  4. Akzeptiere die Partnerin! Akzeptiere und würdige die Bedürfnisse und Abneigungen deines Gegenübers, auch wenn du sie nicht nachvollziehen kannst, sie nicht teilst oder sie gar falsch findest. (Ok, hier gibt es natürlich Grenzen …)
    Zum Beispiel:
    - Auch wenn es mir ganz anders geht, akzeptiere ich, dass du keine Lust aufs Wandern hast!
    - Ich finde es zwar falsch, Fleisch zu essen (TV-Soaps zu gucken, Auto zu fahren, zu fliegen …), aber du darfst das natürlich wollen.
    Ich weiß zwar nicht, wozu man 7 Bohrmaschinen braucht, aber ich akzeptiere deinen Wunsch, dir noch eine zu kaufen.

    Bedenke: Dass du etwas beim Anderen akzeptierst, bedeutet nicht automatisch, dass du es zulassen oder erfüllen musst – s. Punkt 6!

  5. Akzeptiere die Fakten! Wünsche, Gefühle, Bedürfnisse, Abneigungen sind Fakten. Sie sind vorhanden oder nicht. Darüber gibt es nichts zu diskutieren! Es ergibt keinen Sinn, sie infrage zu stellen oder als falsch bzw unvernünftig oder unmoralisch abzuwerten!
    Zum Beispiel:
    - Du kannst doch nicht schon wieder Hunger haben!
    - Wie kann man so lange am Strand liegen wollen?!
    - Deine Angst ist irrational!
    - Dein ewiger Wunsch nach Abgrenzung ist schon etwas neurotisch, oder?!
    - Du klammerst so, weil du Angst vor dem Verlassenwerden hast!

    Letztlich sind innere Vorgänge in einem fundamentaleren Sinne Fakten, als es zB ein Stuhl ist: Bei diesem könnte es sich um eine Sinnestäuschung oder eine Voreingenommenheit handeln; denn wenn du bspw in einem fremden kulturellen Kontext einen Gegenstand als Stuhl wahrnimmst, könnte es sein, dass dieser in Wirklichkeit ein Wurfgeschoss, ein Heiligtum oder eine Skulptur ist.

  6. Akzeptiere den Konflikt! Akzeptieren heißt nicht, dass mit egoistischen Wünschen ein Recht auf Erfüllung einhergeht!
    Zum Beispiel:
    - Wenn du und deine Partnerin völlig unterschiedliche Wünsche an Art und Häufigkeit von Sex habt, habt ihr einen Konflikt. Dieser ist vielleicht schwer zu lösen. Wenn ihr den Konflikt klar benennt und jeder Seite das Recht auf die eigene Bedürfnislage zusprecht, habt ihr eine Chance, eine Annäherung hinzukriegen.
    - Aber wenn ihr euch darüber hinaus gegenseitig abwertet, für krank oder verrückt erklärt, als unmoralisch beleidigt oder als sexsüchtig oder frigide beschimpft, habt ihr zusätzlich zu dem Bedürfnis-Konflikt einen Beziehungs-Konflikt oder gar eine Krise: Ihr geratet in eine Eskalation, die mit Sicherheit zerstörerisch für eure Beziehung ist.
    - Wenn gar Zwang, Nötigung oder Erpressung zwecks Durchsetzung der Wünsche hinzukommen, ist dies das Ende jeder Beziehung. Ebenso sind Erziehungsversuche eine gute Strategie, wenn du deine Beziehung zerstören willst!

  7. Sei nicht blind in deinem Egoismus! Natürlich kann es sein, dass bereits die Äußerung deiner Gefühle für eine andere Person verletzend ist!
    - Wenn dein Gegenüber um seine gerade verstorbene Mutter trauert, musst du ihm nicht unbedingt deine negativen Gefühle gegenüber der Verstorbenen und deine Erleichterung, dass sie nun endlich tot ist, um die Ohren hauen.
    - Wenn du deinem Partner sexuelle Bedürfnisse mitteilst, nachdem er gerade eine Phimose-OP hatte, zeugt das nicht von Mitgefühl und wirkt eher lieblos und rücksichtslos (es sei denn, ihr habt einen gemeinsamen speziellen Humor?).
    Das ist kein Ö-goismus, sondern blinder Egoismus!

  8. Vergifte nicht die Luft, die du atmest! Wenn du eine andere Person verletzt, übervorteilst oder erniedrigst, bedeutet das, dass du damit auch deinen Lebensraum belastest, verschmutzt oder gar vergiftest (s.o. das Zaun-Bild)!

  9. Deshalb hast du ein egoistisches Interesse daran, dass es der anderen Person ebenfalls gut geht.
    Wenn du dies nicht akzeptierst, kannst du zwar erfolgreich sein oder reich und berühmt werden. Aber bist du dann auch glücklich?

 

Auf diesem Ö-goismus fußen dieser und die folgenden Beiträge über Paar-Kommunikation und Konfliktlösung.

 

Ich bin neugierig zu erfahren, ob du meine Sichtweise teilst. Vielleicht hast du ja gute Argumente gegen diesen Ö-goismus? Dann lass es mich gerne wissen und schreibe einen Kommentar oder eine Mail.

Dr. phil. Michael Mehrgardt

Hallo, meine Name ist Dr. phil. Michael Mehrgardt und ich war fast 40 Jahre lang als Psychologischer Psychotherapeut tätig. Dabei musste ich viele Missstände kennenlernen, die ich auf diesem Psychotherapie-Blog offen anspreche, das Thema: Grenzverletzung in der Psychotherapie. Auf meinem YouTube-Vlog  findest du Selbsthilfe-Tipps bei Depressionen, Ängsten, Paarkonflikten & Co.

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Die Lebenswelt nach Husserl und Ratcliffe

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