Im Anfang war das Wort – Wie die christliche Theologie die deutsche Sprache prägte
Die Sprache formt das Denken, das Denken bringt die Kultur hervor. Religion ist Kristallisationspunkt der Kultur. Darum sollte es nicht verwundern, dass wichtigste Meilensteine des Wegs zu einer deutschen Sprache vom Christentum bzw. der christlichen Theologie errichtet wurden. Und das, obwohl das Hebräische und Griechische die Sprachen der Bibel sind und sich in der Kirche das Lateinische als Sprache durchsetzte. Vor diesem Hintergrund ist die kulturgeschichtliche Leistung der deutschen Theologen umso beachtlicher, die zahlreiche wichtige Abstrakta entwickelten.
Notkers „Gewissen“
Beispiel: Gewissen. Das Wort „Gewissen“ kommt vom althochdeutschen „giwizzani“, aus dem sich das mittelhochdeutsche Wort „gewizzen“ entwickelte. „Giwizzani“ ist eine Lehnübersetzung für den lateinischen Begriff „conscientia“; dieser wiederum ist eine Übersetzung des griechischen „syneidesis“. Das Wort „giwizzani“ taucht um das Jahr 1000 in einer Glosse Notkers III. auf. Notker (Beiname Teutonicus, „der Deutsche“) war ein Benediktinermönch und gilt als einer der Väter der deutschen Sprache. Er versuchte, das lateinische „conscientia“ („Bewusstsein“, „Gewissen“; wörtlich: „Mitwissen“, „Mitwisserschaft“) treffend ins Deutsche zu übertragen.
Den Stamm „wizzani“ nimmt Notker von „wizzan“ („wissen“), die Vorsilbe „gi-“, die später zu „ge-“ wird, deutet einerseits darauf hin, dass es um die Gesamtheit des Wissens gehen soll (so wie „Gebirge“ die Gesamtheit der Berge meint oder „Gewässer“ die Gesamtheit all dessen, was Wasser führt), also ein allumfassendes Wissen im Sinne des „Bewusstseins“ gemeint ist, andererseits scheint das Präfix auf eine Intensivierung des Wissens hinzudeuten, also darauf anzuspielen, dass das Wissen des Gewissens ein besonders sicheres, klares Wissen ist, ein im Grade gesteigertes, potenziertes Wissen, ein sehr genau gewusstes Wissen (so wie „Gewitter“ eine starke Form von Wetter ist und der „Gedanke“ das Konzentrat des Denkens).
Luther spricht in diesem Sinne davon, dass „wider das Gewissen zu handeln“ nicht „sicher“ sei, weil eben das Wissen des Gewissens ein besonders sicheres ist und uns das Gewissen selbst die Sicherheit gibt, richtig zu liegen. Schon vom Wort her lässt sich der Grundkonflikt um das Gewissen als „Mit-Wissen“ erkennen.
Womit genau teilt man sein Wissen – mit einem autonomen, sich selbst bestimmenden Selbst (Subjektivismus) oder mit einer heteronomen Ordnung, die dem Selbst als Bestimmungsgröße vorgegeben ist (Objektivismus)?
Eckarts „Gelassenheit“
Dann folgte mit Meister Eckart ein Dominikaner des späten 13., frühen 14. Jahrhunderts, der auf Deutsch predigte, um auch wirklich von allen verstanden zu werden. Dabei entwickelte er zahlreiche Neologismen, die die deutsche Sprache entscheidend voranbrachten.
Beispiel: Gelassenheit
Die mittelhochdeutsche Form „gelâzenheit“ ist ein zentraler Begriff der Mystik Eckarts. Als Voraussetzung für die Gottesgeburt in der Seele, also des Eins-Werdens von Gott und Gläubigem, muss der Mensch „gelâzen hân“ (zurück- oder losgelassen haben), um schließlich „gelâzen“ zu „sîn“. Das menschliche Individuum muss sich selbst und die ganze Welt „lassen“. Mit seiner Wortschöpfung „gelâzenheit“ stellte Eckhart der deutschen Sprache ein neues Denk- und zugleich Sprachkonzept zur Verfügung.
Beispiel: Bildung
Meister Eckart meint eine Bildung, die als ganzheitliche Persönlichkeitswerdung den Menschen befähigt, sich zu dem hin zu entwickeln, wie ihn der Schöpfer ursprünglich gemeint hat, sich also dem Bilde Gottes, als das der Mensch äußerlich geschaffen ist, auch innerlich zu nähern. Der Mensch soll wie sein gottgeschenktes Bild werden – „gebildet“ eben. Später sollte Humboldt den Begriff und die Idee Meister Eckharts aufnehmen und das holistische Konzept einer „Bild-Werdung“ des Menschen säkularisieren; der Ursprung von „Bildung“ aber liegt in der Schöpfungstheologie Meister Eckharts.
Beispiel: Einfluss
Das Bild des Flusses hilft Eckhart, Gottes Wirken verständlich zu machen. „Götlicher inflûz“ ist mächtig und wirkungsvoll – wie der dem Leser oder Zuhörer vertraute Wasserstrom. An dieses dynamische Bild sollen wir uns erinnern, wenn wir auch heute noch von „Einfluss“ sprechen. Da geht es um die Kraft eines Flusses, um das „Einfließen“ wichtiger Faktoren ins Kalkül.
Was wäre unsere Sprache ohne diese vier Abstrakta: Gewissen, Gelassenheit, Bildung, Einfluss?
Martin Luther: Geist ist geil!
Und dann kam Luther. Auf die Wartburg verbracht, beginnt er als „Junker Jörg“ mit der Übersetzung der Bibel in sein „geliebtes Deutsch“. Trotz „vielfacher Belästigungen durch den Teufel“ übersetzt er in knapp drei Monaten das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche. 1522 geht es als so genannte „Septemberbibel“ in den Druck. Obwohl die Auflage (3000 Exemplare) und der Preis (1,50 Gulden) hoch lagen, war sie rasch vergriffen.
Das mag Luther angespornt haben, sogleich mit dem weit umfangreicheren Alten Testament fortzusetzen, das er von 1523 bis 1534 übersetzte und kommentierte. Zur Michaelismesse im Oktober 1534 konnte Luther seine „Biblia, das ist, die gantze Heilige Schrifft, Deudsch“ vorlegen.
In seinen „Summarien über die Psalmen und Ursach des Dolmetschens“ (1533) gibt Luther Auskunft über sein Übersetzungsprinzip, das seiner theologischen Haltung geschuldet ist: größtmögliche Verständlichkeit bei größtmöglicher Nähe zum Ursprungstext.
Das fordert einerseits einen reichen differenzierten Wortschatz für eine treffende Ausdrucksweise und eine große Kreativität, um durch Sprachschöpfungen vorhandene Lücken zu schließen, andererseits eine Beachtung der Umgangssprache, also „dem Volk aufs Maul zu schauen“, wie Luther es ausdrückte.
Manchmal bringt Luther spielerisch Regionales im Text unter und erreicht damit eine besondere Präzision. In Lukas 21, 2 übersetzt er die kleine Opfergabe der armen Witwe mit „Scherflein“ – der Scherf war eine Erfurter Münze.
Doch der Text musste die Sprachgrenzen regionaler Idiome überschreiten, um überall verstanden zu werden, durfte also nicht zu sehr von der Herkunft des Verfassers geprägt sein. Dies gelingt Luther, obwohl das „Meißner Kanzleideutsch“ seinen Sprachduktus geformt hat – und damit letztlich auch unsere gemeinsame deutsche Sprache.
Luthers Einfluss auf das Deutsche als Volkssprache ist kaum zu überschätzen. Auch wenn vor ihm Deutsch gesprochen und geschrieben wurde, wird er mit seiner Bibelübersetzung zum größten Förderer einer einheitlichen neuhochdeutschen Schriftsprache. Hinsichtlich Lautstand, Orthographie, Flexion und Syntax hat er einen Mittelweg zwischen den bestehenden Schreibdialekten gefunden.
Und die Bibel war nicht irgendeine Abhandlung, die nur eine Handvoll Gelehrte interessiert hätte. Das „Buch der Bücher“ wurde in allen Schichten mit Interesse und Aufmerksamkeit gelesen. Über Jahrhunderte war es in vielen Familien sogar das einzige verfügbare Buch.
Dadurch konnte sich die deutsche Sprache allmählich einheitlich etablieren, auch im Rheinland und in Bayern, wo die regionalen Idiome noch länger vorherrschten, vor allem deshalb, weil diese Gebiete traditionell katholisch geprägt sind. Im protestantischen Norden und Osten Deutschlands setzte sich das „Lutherdeutsch“ hingegen rasch durch.
Luther hat die heutige deutsche Standardsprache zwar nicht erfunden, sie aber entscheidend geprägt, auch durch seine „Tischreden oder Colloquia“ und das geistliche Liedgut („Ein feste Burg ist unser Gott“), vor allem jedoch durch seine Bibelübersetzung.
Im wesentlichen ist die Lutherbibel stets nur orthographisch der jeweils gültigen Schreibweise angepasst worden. Die textliche Grundlage bildet dabei die Fassung von 1545, die so genannte „Biblia Germanica“, eine Überarbeitung der ersten Ausgabe von 1534, bei der Luther ein Jahr vor seinem Tod noch selbst mitgewirkt hat. Die Stuttgarter Jubiläumsbibel von 1912, die Lutherrevision von 1964 und die gegenwärtige Fassung der Lutherbibel von 1984 orientieren sich an ihr.
Der Einfluss des Reformators zeigt sich in Begriffen wie dem „Denckzedel“ (Luthers Übersetzung für die Tefillin, die Gebetsriemen der Juden), aber auch im vermeintlichen Jugendjargon: „geil“. Wo die „Einheitsübersetzung“ zaghaft von „erwachenden Begierden“ (Röm 13,14) oder „Leidenschaft“ (1 Tim 5,11) spricht, setzt Luther das Wörtchen, bei dem jeder weiß, was Sache ist. Leider ist es nach der Revision von 1964 aus der Lutherbibel gestrichen worden.
Zu finden ist es im Original von 1534. Ferner gibt sich die Werbung – wohl ohne es zu ahnen – lutherisch. Der Slogan „Des Wodkas reinste Seele“, mit dem ein Getränkehersteller auf sein Produkt aufmerksam machte, ist grammatikalisch reinster Luther, bei dem „der Gottlosen Weg vergeht“ (Ps 1,6) – und nicht „der Weg der Gottlosen“.
Notger, Eckhart, Luther – ohne sie wäre unsere Sprache um einiges ärmer. Dass sie uns zentrale Begriffe des Denkens über uns und gesellschaftliche Umstände (Bildungsmisere, Gewissenlosigkeit, Einflussfaktoren) schenkten, ist wirklich – geil.