Sinn #3
Die SINN-Matrix: eine erkenntnistheoretischen Vertiefung
von Dr. phil. Michael Mehrgardt
Erkenntnistheoretische Grundlage der Matrix ist die Erkenntnis-Zwiebel des Dialektischen Konstruktivismus, der die husserlsche Egologie (vgl. Goerlich 2000) zum Anderen hin erweitert. Diesen habe ich u. a. in meinen Arbeiten von 1994 und 1995 (S. 30 ff.) dargestellt. Hier seien nur kurz einige der zentralen Thesen skizziert (1):
Ich (Innen) und Welt (Außen) sowie (persönliche) Wirklichkeit (W) und (bewusstseinsjenseitige) Realität (R) stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Das heißt u. a., dass sie sich wechselseitig konstruieren (z. B. W realisiert sich, d. h. schafft R.), dass es keine fixe Grenze zwischen diesen gibt (R und W sind zueinander hautnah und flüchtig.), dass die „Zwiebelhälften“ W und R bzw. Ich und Welt bzw. „Zwiebelviertel“ (Ich/W, Ich/R, Welt/W, Welt/R) immer zugleich miteinander gegeben sind.
Es gibt unendlich viele W und unendlich viele (potenzielle) R, nicht nur eine einzige, absolute Realität R, wie viele Philosophien voraussetzen.
Erkennen ist nicht nur ein Konstruieren der eigenen Wirklichkeit, sondern immer auch ein Erzeugen von R, also ein Schaffen von Tat-Sachen und Strukturen.
Das Zwiebelmodell ist somit ein relationales, ein Begegnungsmodell, dem gemäß Ich, Welt, W und R notwendigerweise aufeinander treffen. (Das bedeutet z. B., dass es nicht keinen Kontakt geben kann!)
„Subjekt“ und „Objekt“ treten stets aktiv und passiv miteinander in Kontakt. Beide, auch das unbelebte Objekt, erkennen und „geben sich zu erkennen“, und zwar in allen Erkenntnisweisen („Erkenntnisschalen“):
Die Erkenntnisschalen der Zwiebel hatte ich seinerzeit mit den gestalttheoretischen Erkenntnisweisen „Figur“ (FI) und „Grund“ (GR) belegt, erweitert um die Schalen „Konzeption“ (KN; in etwa: wissenschaftliche Erkenntnisweisen) und „Kognition“ (KG; in etwa im Maturana‘schen Sinne, was u.a. Ahnung, Intuition, unterschwellige Wahrnehmung impliziert).
Aus dieser Perspektive wäre dann auch SINN (oder SINN-losigkeit) ein Geschehen der Begegnung von Ich, Welt, R und W. Das heißt, dass SINN im Aufeinandertreffen von Ich und Du (oder auch Gegenstand, Idee ...) entstünde und zudem von W und R. SINN wäre also immer sowohl ein erzeugtes Konstrukt als auch eine ontische Tat-Sache oder Struktur. SINN wäre dann auch zugleich „zum Greifen nah“, immer irgendwie da; aber, sobald man nach diesem ausgriffe, hätte er sich bereits verflüchtigt.
Diese Gleichzeitigkeit von Nähe und Nichtfassbarkeit scheint mir auch im phänomenalen Erleben aufzuscheinen.
Die auf dieser Grundlage basierende SINN-Matrix ist in zweierlei Hinsicht zu verwenden, und zwar als …
hermeneutisches Modell (von altgr. hermeneia = Auslegung, Erklärung): Analysemodell zur Enthüllung von SINN-Mitteilungen zu untersuchender Kommunikationsabschnitte auf verschiedenen Ebenen,
heuristisches Modell (von altgr. heurískein = finden): zur methodischen Anleitung einer SINN-Suche in unterschiedlichen Facetten.
Wir wollen uns zu diesem Zweck die folgende Abbildung einer SINN-Matrix anschauen. (Wenn theoretische Erörterungen im Moment nicht so interessant für dich sind, gehe gleich weiter zu den Beispielen.)
Die SINN-Matrix
Abb. 1: SINN-Matrix
Abbildung 1 stellt die Begegnung von ICH (z. B. Klientin) und WELT (z. B. Therapeutin, Raum ...) aus der Perspektive der Klientin dar.
FI (Figur), GR (Grund), KN (Konzeption) und KG (Kognition) sind verschiedene Erkenntnisweisen (2):
Die Erkenntnis-Figur (FI) ist anschaulich, also das, was ich gerade hier und jetzt fokussiere, was im Zentrum meiner Aufmerksamkeit steht.
Der Hintergrund (GR) ist anschaubar, so dass ich jede Gestalt des Hintergrundes in jedem Moment fokussieren, also zur Figur machen könnte.
Konzeption (KN) ist alles, was ich darüberhinaus (wissenschaftlich) erfassen kann, und zwar durch Messen, Ablesen von Skalen, Schlussfolgern etc.
Der Begriff Kognition (KG) ist dem Sprachgebrauch des (Radikalen) Konstruktivismus entlehnt. Er umfasst alle weiteren möglichen Erkenntnisweisen wie zB Intuition, Unbewusstes, “6. Sinn”, Ahnungen, spirituelles oder parapsychologisches Erkennen, Empfindungen, Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, transpersonale Prozesse etc., also auch solche Erkennensweisen, die uns heute noch nicht bekannt bzw nicht nachweisbar sind oder über deren Existenz Uneinigkeit besteht.
Der Grad oder die Deutlichkeit des phänomenalen Erkennens nimmt also von FI zu KG hin kontinuierlich ab, während die Komplexität des Erkennens zunimmt.
Jede Schale (FI, GR, KN, KG) von ICH kann mit jeder Schale von WELT (zB Therapeutin) kommunizieren. Die von diesen gemeinsam gebildeten Felder (z. B. ICH/FI + WELT/GR = Feld b) bilden die SINN-Facetten. Das soll bedeuten, dass in dieser vom Feld b bezeichneten Erkenntnis- oder Begegnungsweise SINN „erzählt“ wird. Entsprechend meiner erkenntnistheoretischen Grundlegung ist das „Objekt“ (Therapeutin oder auch ein Gegenstand, eine Idee ...) nicht ein passiv Erkanntes, sondern aktiv und passiv (medial) am Erkennensprozess des „Subjekts“ beteiligt. Insofern zeigt es sich dem Erkennenden ebenfalls in den Modi bzw. Schalen FI - KG; es gibt sich zu erkennen (vgl. Mehrgardt 1994, S. 70 ff.).
ICH und WELT begegnen sich dabei immer zugleich auf der W-Ebene (in etwa: subjektive Wirklichkeit, in der Abbildung 1 im Vordergrund) und auf der R-Ebene (in etwa: absolute Realität, im Hintergrund); beide Ebenen stehen in einem gegenseitig konstruktiven Verhältnis zueinander. Zudem kommunizieren auch die Erkenntnismodi FI, GR, KN und KG miteinander insofern, als ein SINN-Gehalt von einer Schale in die nächste „wandern“ kann.
Bei diesem Schema handelt es sich um künstlich isolierte Momentaufnahmen im Strom der Begegnungen. Insofern werden in der Grafik Verhältnisse als diskret und fix dargestellt, die eigentlich in einer Unschärfe-Relation zueinander stehen.
Beide Anwendungen, die hermeneutische und die heuristische, sollen abschließend einige Beispiele veranschaulichen helfen. Für das hermeneutische Modell sollen nur einige der Felder mit Beispielen belegt werden, während das heuristische Modell, da mehr im Fokus des Untersuchungsinteresses, ausführlicher veranschaulicht werden soll.
Die hermeneutische Anwendung
Der folgende Ausspruch einer Therapeutin (WELT) an ihre Klientin (ICH) soll hinsichtlich seines möglichen SINN-Gehaltes in unterschiedlichen Facetten untersucht werden:
Wie gut, dass Sie jetzt ihre eigenen Gefühle wahrnehmen können!
Die SINN-Botschaften dieser Aussage in den verschiedenen Feldern können zum Beispiel sein:
Feld a: Die Therapeutin äußert ein ausdrückliches Lob (WELT/FI), welches die Klientin figurhaft (ICH/FI) als solches wahrnimmt.
Feld b: Der Hintergrund des Lobes der Therapeutin (WELT/GR) bedeutet: Früher haben Sie das immer falsch gemacht. Für die Klientin wird die von ihr wahrgenommene Kritik zur Figur (ICH/FI); sie hört das Lob nicht mehr, sondern fühlt sich von dieser Botschaft abgewertet.
Feld e: In dem von der Therapeutin figurhaft geäußerten Lob (WELT/FI) spürt die Klientin ein wärmendes Grundgefühl (ICH/GR).
Feld f: Die Grund-Botschaft der Therapeutin (WELT/GR) trifft die Klientin in ihrem Grund (ICH/GR). Sie empfindet Ärger über die Therapeutin, ohne sogleich zu erfassen, warum. In einem Gespräch mit einer Freundin gelingt es ihr relativ leicht, den „Grund“ (Ursache und Hintergrund) ihrer negativen Befindlichkeit zu erhellen.
Feld k: Hinter der Äußerung der Therapeutin steht die unausgesprochene theoretische Überzeugung, dass Gefühle richtiger und besser seien als Vernunft (WELT/KN). Die Klientin erfasst diese Botschaft und erwidert, ebenfalls auf der konzeptionellen Ebene: „Man kann doch nicht einfach überall tun, was man gerade will!“ (ICH/KN). (Eine solche Reaktion würde eine „orthodoxe“ Gestalttherapeutin vielleicht als Deflexion, also als Kontaktunterbrechung seitens der Klientin, interpretieren!)
Feld p: Auf einer tieferen und komplexeren Ebene fühlt die Therapeutin eine innere Verwandtschaft (WELT/KG) zu ihrer Klientin, die der Therapeutin gegenüber ähnlich empfindet (ICH/KG).
Es entsteht eine Resonanz zwischen den KG-Schalen beider, die für Klientin und Therapeutin heilsam ist.
Die heuristische Anwendung
Eine Klientin und ihre Therapeutin untersuchen die Frage, welche SINN-Facetten für erstere relevant sein könnten. Aus dem Gespräch ergeben sich folgende mögliche vorhandene oder auch fehlende SINN-Aussagen. Dabei ist zu beachten, dass einige der folgenden Aussagen der Klientin/ des Klienten (kursiv) zu verstehen sind als von einem späteren Zeitpunkt (nach „Aufsteigen“ des jeweiligen SINN-Gehaltes in die Figur-Schale) bzw. aus der Perspektive eines fiktiven allwissenden Beobachters erfolgt:
Feld a: Mit meiner Freundin kann ich abends immer darüber reden, was der Tag für uns beide gebracht hat. Das gibt mir das Gefühl, meine Erlebnisse mit jemandem teilen zu können.
Beide, Klientin (ICH) und Freundin (WELT), begegnen sich hier auf der Figur-Schale (ICH/FI-WELT/FI).Feld b: Das Buch, das ich gerade lese, ist zwar ein bisschen langweilig; aber aus ihm spricht so eine große Lebensfreude, dass es mich aufmuntert.
Die Klientin beschäftigt sich figurhaft (ICH/FI) mit dem Buch, an dem sie jedoch weniger der vordergründige Text interessiert als vielmehr dessen „zwischen den Zeilen“ stehende Grundaussage (WELT/GR).Feld c: An der Mathematik fasziniert mich die innere Kohärenz und dass sie einen immer wieder zu neuen, überraschenden Schlussfolgerungen führt.
Die WELT zeigt sich hier in Gestalt einer wissenschaftlichen Methode (WELT/KN), der die Klientin ihre Aufmerksamkeit zuwendet (ICH/FI).Feld d: Manchmal denke ich, Leute, die an Gott glauben, können sich einfach fallen lassen und vertrauen. So etwas fehlt mir, ich bin wohl zu kritisch.
Der Klientin fehlt eine SINN-hafte Begegnung der WELT in ihrer KG-Facette (WELT/KG); sie ist sich dessen in diesem Moment figurhaft (ICH/FI) bewusst.Feld e: Wenn ich den neuen Roadster von BMW hätte, ja ich weiß, das ist vielleicht sehr materiell gedacht, aber ich würde mich dann irgendwie sicherer und interessanter fühlen.
Der Klient wünscht sich hier eine figurhafte Begegnung seitens der WELT (WELT/FI) in Gestalt eines BMW. In diesem Moment stellt er sich weniger seine Freude über den Sportwagen vor, sondern vielmehr die „Grundbedeutung“ des Autos für sein Selbstbewusstsein (ICH/GR).Feld f: Ja, mit meinem besten Freund häng‘ ich eigentlich nur rum. Manchmal öden wir uns ziemlich an, aber ich weiß, ich bin ihm wichtig und er ist mir wichtig. Da kommt so leicht keiner zwischen.
Hier ist eine Begegnung zwischen Klient (ICH) und Freund (WELT) angesprochen, in der als Kontaktfigur nur wenig passiert, durch die aber die grundlegende Beziehung (ICH/GR-WELT/GR) stets genährt wird.Feld g: Dass mich Mathematik so interessiert, dafür gibt’s, glaub‘ ich, auch einen anderen Grund: Ich weiß einfach, da kennst du dich aus, da macht dir so leicht keiner was vor.
Hier zeigt sich die WELT wieder in einer KN-Facette (WELT/KN); in dieser Aussage geht es der Klientin aber nicht um den Aspekt der figurhaften Auseinandersetzung mit dieser, sondern um eine den eigenen Grund (ICH/GR) stabilisierende Begegnung.Feld h: Eine Frau zu sein, zu ihnen zu gehören, ja auch zu dem Weiblichen als solchem: Leben, Liebe, Yin, das gibt mir ein warmes Grundgefühl.
Die Mitteilung einer SINN-stiftenden Zugehörigkeit präsentiert die WELT weniger figurhaft-konkret, sondern eher in einer nicht unmittelbar phänomenal erfahrbaren, in einer „verhüllten“ Weise (WELT/KG). Die Klientin erlebt diese Begegnung in diesem Beispiel in ihrem Grund (ICH/GR); man kann auch sagen, diese Erfahrung sei für sie in diesem Augenblick nicht anschaulich, aber anschaubar.Feld i: Alle anderen können irgendetwas Besonderes. Betty z. B. interessiert sich total für die Sufi-Dichter, und sie weiß alles darüber. Ich kann damit nichts anfangen, aber sie lebt dafür. Sowas hab‘ ich überhaupt nicht, das vermisse ich echt!
Für Betty eröffnet die WELT einen konkret-figürlichen Bereich (WELT/FI), auf welchen diese ihr konzeptionelles Interesse richten kann, zumindest in den Augen der Klientin; ein Wissensgebiet, für welches die Klientin sich interessieren kann (ICH/KN), hält die WELT für sie zur Zeit nicht bereit.Feld j: Ich finde es spannend, auf das zu achten, was die Menschen nicht oder nur zwischen den Zeilen sagen; deshalb bin ich ja auch Kommunikationswissenschaftlerin geworden.
In dem, was Menschen nicht sagen, manifestiert sich die WELT in Grund-Prozessen (WELT/GR), wofür sich die Klientin wissenschaftlich (ICH/KN) interessiert.Feld k: Mit ein paar Leuten über Gott und die Welt philosophieren, Bier dabei, Zigarettenqualm und die Zeit vergessen ...
In diesem Beispiel tauscht sich der Klient mit anderen Personen auf der Konzeptionsebene (ICH/KN-WELT/KN) aus.Feld l: Ich interessiere mich für transpersonale Vorgänge, für alles, was man nicht so direkt erfassen kann und was es eben doch gibt.
Die Klientin richtet ihr konzeptionelles Interesse (ICH/KN) auf „geheimnisvolle“ Zusammenhänge zwischen Menschen (WELT/KG).Feld m: Ich möchte wissen, was da in mir passiert, dass ich immer wieder auf denselben Männertyp fliege! Vielleicht ist es ja mein Karma ...?
Irgendetwas strahlt die Klientin aus, irgendwelche Botschaften werden von ihr versandt, ohne dass sie gegenwärtig die Chance hätte, dies zu enthüllen (ICH/KG), sprich: auf die Figur-Ebene zu heben und diesen Zusammenhang bewusst wahrzunehmen (ICH/FI). Die WELT reagiert auf sie, indem sie ihr immer wieder dieselben Männer“figuren“ entgegenbringt (WELT/FI).Feld n: Ich kann gut Kontakt zu Frauen herstellen. Da sind auch immer wieder Momente tiefen Berührtseins. Was mir aber fehlt, ist das Gefühl, dass davon etwas fortbesteht, ein Verbundenbleiben oder so.
Auch dieser Klient ist damit konfrontiert, dass er zwar einen tiefen momentanen Austausch verspüren kann, dass aber gleichzeitig irgendetwas Geheimnisvolles in ihm (ICH/KG) verhindert, dass eine Frau eine bleibende Beziehung (WELT/GR) zu ihm aufnimmt.Feld o: Auch wenn die Mathematik mich fasziniert, spüre ich tief in mir, dass es nichts wirklich Wesentliches in mir in Schwingung versetzt. Für wen oder was mache ich das eigentlich?
Die Begegnung mit der Mathematik als konzeptioneller Aspekt der WELT (WELT/KN) reicht der Klientin nicht aus; ihr fehlt das Gefühl einer wesentlicheren Begegnung zwischen ihr (ICH/KG) und der WELT, vielleicht als Zugehörigkeit, als Verbundenheit oder als religiöser Glaube.Feld p: Hinter all der Angst vor dem nahen Sterben fühle ich aber auch eine Ruhe, eine Gewissheit - es ist, als würde ich bald nach Hause kommen.
Der sterbende Mensch in diesem Beispiel spürt ein tiefes Verbundensein zwischen ihm (ICH/KG) und der WELT (WELT/KG), jenseits von allen konkreten, grundlegenden oder theoretischen Begegnungen.
Dieses Modell, welches ich Ihnen, liebe Leserinnen, hier vorgestellt habe, ist ein Modell von SINN-Mitteilung, SINN-Suche und - allgemeiner - von Begegnung, Kommunikation und Erkennen. Dieses Modell ist, zugegeben, recht komplex. Es ist aber mit Sicherheit weit weniger komplex als das „reale“ Geschehen einer „realen“ Begegnung. Dass man mit der eigenen Erkenntnis nicht nur die eigene, „subjektive“ Wirklichkeit (W) organisiert, sondern zwangsläufig auch auf den „Lauf der Welt“ (R) massiven Einfluss nimmt, ist im therapeutischen Alltag kaum einem bewusst.
Der therapeutische Effekt
… geht weit über das hinaus, was der Behandler bewusst intendiert. Hier ein Beispiel:
Eine meiner langjährigen Klientinnen mit einer multiplen Traumatisierungsgeschichte kam nach 6-monatigem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik erstmals wieder in meine Praxis. Ich erschrak: Sie war abgemagert, schreckhaft, verängstigt, und ihre Unterarme waren mit Narben vom Zigarettenausdrücken übersät. So etwas hatte sie früher niemals getan! Ihre Panikattacken und der heftige Schwindel waren infolge medikamentöser Einstellung allerdings gebessert. Nach einigen Sitzungen erzählte sie mir, dass sie ihrer Therapeutin, einer Ärztin, unter Scham und Schuldgefühlen von dem brutalen sexuellen Missbrauch durch den Schwiegervater berichtet habe. Diese habe unbewegt dagesessen und dann als Reaktion den Satz geäußert:
Suchen Sie bei sich selbst!
Was meinen Sie, liebe Leserinnen, welcher SINN da konstruiert, erschaffen und mitgeteilt wurde?
Ischa …
Ischa ist die ganze letzte Zeit ruhig gewesen. Ischa blickt mich nicht mehr so verächtlich an. Ischa schaut, ja er schaut mir in die Augen, länger als je zuvor.
Und Ischa - bilde ich mir das ein? - Ischa knurrt nicht mehr.
Anmerkungen
(1) Dieser Artikel ist die 2023 überarbeitete Fassung einer früheren Veröffentlichung, vgl.: Gestalttherapie 1, 2006, S. 98-118 (Teil1); Gestalttherapie 2, 2006, S. 63-73 (Teil 2).
(2) vgl. Mehrgardt, 1994, S. 402 ff.
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