UND ISCHA KNURRTE #2 – Jochen
Eine Collage von SINN, Feld und Gestalt mit drei Erzählungen
Im ersten Artikel betrachteten wir das SINN-Erleben von Jürgen anhand des Lebensraum-Konzeptes von Kurt Lewin. Jetzt wenden wir uns der Gestaltpsychologie und der Gestalttherapie zu und untersuchen, was der Gestalt-Ansatz zur SINN-Frage beitragen kann. Unterwegs wird uns Jochen begegnen – er hat uns so einiges zum Thema SINN zu sagen …
Den 1. Artikel dieser Reihe findest Du hier:
Und Ischa knurrte #1 – Jürgen
Dieser Artikel ist die 2023 überarbeitete Fassung einer früheren Veröffentlichung, vgl.: Gestalttherapie 1, 2006, S. 98 –118 (Teil1); Gestalttherapie 2, 2006, S. 63 – 73 (Teil 2).
2. Artikel als PDF downloaden:
Gestalt
Wie schon erwähnt, ist in den Arbeiten der Gestalttheoretiker – Wertheimer, Koffka, Köhler, Metzger, Rausch u. a. – ein ausdrückliches SINN-Konzept nicht aufgeführt.
Bis auf die zitierten Arbeiten von Goodman (1993) und Petzold (2002) sind in der Zeitschrift „Gestalttherapie“ keine expliziten Arbeiten über Gestalt und SINN zu finden. Das „Handbuch der Gestalttherapie“ (Fuhr et al. 1999) enthält ebenfalls keine entsprechenden Titel, und auch in dem Stichwort-Register tauchen weder „SINN“ noch „Bedeutung“ auf, auch nicht in einer Wortzusammensetzung (vgl. Petzold 2002, S. 61, S. 64 und auch S. 73).
In Kristine Schneiders Buch „Grenzerlebnisse“ (1990), in dem man die Erörterung von SINN-Fragen erwarten könnte, sucht man diesen Terminus im Register ebenfalls vergeblich. Auch „Bedeutung“ oder „Wert“ sind hier nicht zu finden. Immerhin wird in dem Kapitel „Das Grenzerlebnis“ (S. 15) der Bezug zwischen Grenzerlebnis und SINN kurz hergestellt.
Eine Recherche in den Datenbanken Medline, PsychInfo und Psyndex mit den Begriffen „Gestalt“ und „Sinn“ sowie „Meaning“ blieb nahezu ohne Ergebnis. Einzig herauszuheben ist der Artikel von Fodor „Awareness and Meaning-Making: The Dance of Experience“ (1998), in dem die Autorin auf die Vernachlässigung der kognitiven Perspektive verweist.
Bei den anderen Arbeiten, die angezeigt wurden, handelt es sich um sehr spezielle Studien, z. B. „[...] zur Bedeutungsentwicklung und mentalen Repräsentationen von Farbwörtern bei Kindern im Alter von 4 – 6 Jahren“ u. Ä..
Was hat das zu bedeuten?
Auf diese erstaunte Frage fallen mir zwei mögliche Antworten ein, und zwar:
SINN ist selbstverständlich und implizit in allen Gestalt-Konstrukten enthalten, so dass dies keiner Erwähnung bedarf.
Gestalt ist SINN-los.
Ich werde diese Frage nicht beantworten. Nach meiner Auffassung gibt es für beide Antworten Belege oder auch „Richtungen“, zumal es ja nicht „den“ Gestalt-Ansatz gibt. Vielleicht fallen anderen Autorinnen ja noch ganz andere Antworten ein.
Ich werde im Folgenden einige Gestalt-Konzepte herausgreifen. Mittels der 5 Fragen, die ich auch schon an Lewin gerichtet habe, werde ich Möglichkeiten der Verankerung von SINN in diesen Konzepten aufzeigen. Und auch hier gilt – wie zuvor bei Lewin: Ich sondiere das Gebiet „Gestalt und SINN“; genauere Differenzierungen müssen folgen.
Ich werde auch nicht zwischen Gestaltpsychologie, Gestalttheorie und Gestalttherapie unterscheiden und mich vor der viel diskutierten Frage drücken, ob das eine mit dem anderen überhaupt vereinbar ist. Ich werde erst einmal alles in einen Schmelztiegel werfen und glaube tatsächlich, dass dies für eine erste SINN-Sonde in das Universum „Gestalt“ (oder besser: Gestalt-Sonde in das Universum „SINN“) akzeptabel sein könnte.
Ich werde auch nicht, wie ich dies bei Lewins Feldtheorie getan habe, mittels einer Kurzdarstellung die wichtigsten Gestalt-Konstrukte in Erinnerung rufen – diese dürften den weiblichen und männlichen Leserinnen vertraut sein; mit einer Ausnahme: Die Abhebung der Begriffe „Gestalt“ und „Figur“ sowie „Grund“ werde ich kurz diskutieren, weil deren Vermischung möglicherweise für einige Fehlentwicklungen mitverantwortlich ist. Doch nun zu den 5 Fragen:
1. Was ist SINN?
„SINN ist Prägnanz“, antwortet sogleich die Gestalttheoretikerin.
Die Gestalttherapeutin stimmt zu: „Ja, stimmt, der prägnante, lebendige Kontakt.“
„Genau genommen“, sagt die nächste, „ist es die Prägnanztendenz, weil SINN ja eine Kraft darstellt, einen ‚Zug des Ziels‘“ (vgl. Stadler & Kruse 1986, S. 90).
Wenn die Gestalt prägnant sei, also vollendet, meint sie weiter, habe diese Kraft ja bereits nachgelassen. Hier schaltet sich auch Lewin nochmals ein und deutet, unter Hinweis auf die Experimente zu „unerledigten Aufgaben“ von Ovsiankina und Zeigarnik, darauf hin, dass die Kraft in Zielnähe nachlasse (1963, S. 291).
Dies passt auch der Gestalttherapeutin ins Konzept, das ja bekanntlich ein Nachlassen der Energie nach erreichtem Vollkontakt erlaubt (vgl. Gremmler-Fuhr 1999, S. 360 ff.). „Ein Ding ist bedeutungshaltig und damit SINN-voll, wenn es sich als klare Figur von dem Hintergrund abhebt“, spezifiziert die Gestalttheoretikerin weiter.
„Zum Beispiel die Kontaktfigur“, ergänzt die Therapeutin, „also die Gestalt.“
„Aber die Bedeutung der Kontaktfigur, also ihr SINN“, mischt sich eine weitere Gestaltlerin ein, „ergibt sich doch nur aus dem Kontext, dem Hintergrund!“
Perls, Hefferline und Goodman haben einen Einwand: Der Vollzug sei zwar das Ziel des Kontaktes, aber SINN und Zweck seien Assimilation und Wachstum (1991, S. 213). Wenn ich nun noch eine Textstelle von Perls et al. über den Kontaktvollzug zitiere, werden Sie, liebe Leserin, hoffentlich genauso verwirrt sein wie ich:
„Von der ganzen Figur könnte man sagen, daß sie der Hintergrund für die Teile sei, aber sie ist mehr als nur Grund, sie ist zugleich die Figur der Teile, und diese sind Grund.“
(Perls et al. 1991, S. 213).
Stellen wir das erst einmal zurück. Ich werde nachher noch einiges zu „Figur/ Grund“ und „Gestalt“ anmerken.
Halten wir fest, dass SINN etwas mit den folgenden Konstrukten zu tun haben könnte:
(a) SINN = Prägnanz, Gestalt und Figur/ Grund, also Form oder Ergebnis eines (Wahrnehmungs-, Kontakt-, Problemlösungs-, Lern- ...) Aktes. In der Leipziger Schule wird der SINN-Aspekt der Prägnanz, die Sinnprägung oder Gestalttiefe, von der rein figuralen Prägnanz abgehoben. Die Gestalttiefe sei das,
„[...] was die Gestalt wesentlich macht [...]“, und transzendiere „[...] ihr bloß figurales Gegebensein in Richtung auf objektiv-geistige Sinngehalte [...]“ (Metz-Göckel 1983, S. 160).
(b) SINN = die auf dieses Ereignis hindrängende Kraft, die Prägnanztendenz also oder die Tendenz zur guten Gestalt oder auch – allgemeiner – die Tendenz zur natürlichen Ordnung (vgl. Metzgers „Grundsatz der natürlichen Ordnung“; 1954, S. 208 ff.).
So wie aus erkenntnistheoretischer Sicht der Wahrnehmungsprozess sich auf die gute, bedeutungshaltige Gestalt hin organisiert, könnte man aus ontologischer Sicht die aristotelische Entelechie1 als die auf ein SINN-volles Ziel hinwirkende Kraft verstehen.
Dieser Analogieschluss vom Seelischen auf das Physikalisch-Organische wird durch die gestalttheoretischen Annahmen der Isomorphie und der Gestaltähnlichkeit tatsächlich nahegelegt (vgl. z. B. Metzger 1954, S. 130, S. 283 ff.). Allerdings steht Metzger dem Entelechiebegriff kritisch gegenüber (ibd., S. 230), besonders im vitalistischen Erklärungszusammenhang (ibd., S. 201 ff.).
(c) SINN = der Zweck der Prägnanz(tendenz), nämlich „schöpferische Anpassung“, Orientierung, Assimilation, Wachstum oder einfach:
„[...] die Ganzgesetzlichkeiten sind es, welche bedingen, daß das menschliche Wesen sich, oft, sinnvoll verhält.“ (Wertheimer 1985, S. 110).
(d) SINN = die Dialektik von Teil und Ganzem, welche man durch zwei miteinander verbundene, scheinbar einander widersprechende Sätze charakterisieren kann:
1. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile (Satz von der Übersummation); und
2. Das Ganze ist in jedem seiner Teile repräsentiert (Repräsentationssatz; vgl. Mehrgardt & Mehrgardt 2001, S. 64 ff.).
Die Gestalttheorie war bekanntlich seinerzeit angetreten, um das früher herrschende Primat des Teils (wie z. B. im psychologischen Assoziationismus) durch eine ganzheitliche Sichtweise zu ersetzen; die Vorherrschaft des Teils (des „Atoms“) darf jedoch nicht einfach in ein Primat des Ganzen verwandelt werden.
Beide – Ganzes und Teil – sind vielmehr dialektisch (auch im ursprünglichen Wortsinn: dialégesthai = sich unterreden, d. h. Teil und Ganzes kommunizieren miteinander) zu fassen: als sich wechselseitig definierend und konstituierend, jedes sein Gegenstück in sich enthaltend: Das Ganze wird einerseits durch die Summe seiner Teile gebildet, ist aber mehr als diese; andererseits: Das Teil wird als Teil durch sein Ganzes konstituiert, indem nämlich das Ganze
ihm Funktionen zuführt, die es als Einzelelement niemals haben könnte (z. B. „Verbindung“, „Basis“, „Kontrapunkt“, „Grenze“, „Mitte“, „Synkope“, „Anfang“, „Freund“ ...; vgl. Metzgers „Satz von der Ganzbestimmtheit der Teile“, 1954, S. 75 ff.) und
in ihm repräsentiert ist (sonst wäre das genetische Klonen nicht denkbar; vgl. auch Kriz 1993, S. 199 f.).
Man dürfe sich aber, führt Metzger aus, nicht vorstellen, das Ganze und seine Teile seien so etwas wie
„[...] ‚Nachbarn‘, die in wechselseitigen Verkehr kommen können [...] Das trifft [...] das tatsächliche Verhältnis nicht. Das Ganze ist nur in seinen Teilen [...] da, und umgekehrt haben diese nur im Ganzen den Charakter von Teilen [...], mit allem, was dazu gehört. Sind sie Teile [...] in einem Ganzen, so sind damit auch ihre bestimmten Funktionseigenschaften da; isoliert man sie, [...] so ‚verändert‘ man damit nicht nur, sondern vernichtet auch jene Eigenschaften, die nur im Verband möglich sind.“ (1954, S. 93).
Insofern muss auch die Fassung von Fuhr & Gremmler-Fuhr (2001, S. 94 ff.) angezweifelt werden, dass eine „natürliche“ Hierarchie, eine Holarchie, im Teil-Ganzes-Verhältnis gegeben sei. Eine solche Beurteilung eines „höher“ oder „niedriger“ ist stets auf die eigene Perspektive und Interessenlage bezogen.
Kruse, Roth & Stadler verweisen dementsprechend auf Erkenntnisse der modernen Hirnforschung und folgern daraus eine „Gleichzeitigkeit von Detail und Gestalt“ (1987, S. 161). Schließlich führt Lessin (2002) das „Fragment“ als Korrektiv eines normativen, totalitären „Ganzheitstopdogs“ ein.
In dieser Teil-Ganzes-Dialektik könnte SINN in folgenden Aspekten gegeben sein:
(aa) Der Mensch stellt selbst eine SINN-volle Ganzheit, eine Identität, dar. Identität ist nach Metzger ein nicht unmittelbar anschaulicher Zusammenhang; dennoch kommt ihm Wirklichkeit zu (vgl. 1954, S. 24).
Eine SINN-volle Identität wäre in dieser Hinsicht die Ergänzung, Fortsetzung und Auffüllung des unmittelbar anschaulich Gegebenen, des aktuellen Seins, durch all das nicht unmittelbar Anschauliche, räumlich und zeitlich Entfernte, aber dennoch Wirkliche: durch die psychologische Geschichte etwa, durch psychologische Zukunftsentwürfe, durch Zugehörigkeiten zu anderen Menschen, zu Gruppen, zu Ideen usw.. Diese psychologischen Tatsachen seien, so Metzger,
„[...] ohne unser Bemühen, nicht erst durch Vorstellungstätigkeiten und Denkvorgänge, nicht nur im blassen ‚Wissen‘, sondern ganz ‚handgreiflich‘ [...]“ wirklich (1954, S. 33).
(bb) Der Mensch ist ein SINN-volles Teil in einem Ganzen.
Das bedeutet: Erstens ist er diesem Ganzen, das über ihn hinausgeht und ihm nicht vollständig phänomenal erfassbar ist, zugehörig. Die Unvollständigkeit der phänomenalen Erfahrung verweist auf die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit über die aktuelle Erfahrungsbegrenzung hinaus zu erweitern. Nach Husserl (1976, S. 180 ff.) birgt dieses Horizontbewusstsein ein Bewusstsein meiner Vermöglichkeiten, all der Dinge also, die mir noch möglich sind. Das bedeutet zweitens: Das Ganze (die Familie, das Team, die Gesellschaft, das Universum) verleiht dem Menschen SINN-volle Funktionen, die er isoliert nicht innehätte, z. B. „Ernährer“, „der Kreative“, „der Sozialist“, „das kleine Rädchen“; s.o.).
2. Wo „befindet“ sich SINN?
Aus Sicht der Gestalttheorie und der Gestalttherapie müsste SINN sowohl in der phänomenalen (anschaulichen) als auch in der transphänomenalen (bewusstseinsjenseitigen) Welt anzusiedeln sein.
Die Gestalttheorie beruft sich nämlich auf eine Isomorphie (Gleichgestaltigkeit; vgl. Köhler 1933, S. 38 ff.) von anschaulichen Vorgängen und den diesen zugrunde liegenden physiologischen Prozessen im sogenannten Psychophysischen Niveau (PPN) des Gehirns.
Die These der Isomorphie nach Köhler lautet, dass die anschaulichen räumlichen und zeitlichen Ordnungen die getreue Wiedergabe einer entsprechenden Ordnung „im konkreten dynamischen Zusammenhang der zugehörigen physiologischen Hergänge“ seien (ibd., S. 40). Darüber hinaus wird eine generelle Gestaltähnlichkeit angenommen
„[...] zwischen der physikalischen Umwelt (in ihrer makroskopischen Struktur) und der anschaulichen Umwelt, zwischen dem erlebten Ich und dem physikalischen Organismus [...]“ (Metzger 1954, S. 304).
Eine mögliche Erklärung für eine solche Gestaltverwandtschaft könnte darin liegen,
„[...] daß die Prinzipien, nach denen sich in der physikalischen Welt zusammenhängende Gegenstände und ihre natürlichen Glieder und Grenzen bilden, weitgehend dieselben sind wie in der Wahrnehmungswelt [...] Diese Übereinstimmung kann [...] in einer Gleichartigkeit des Wesens des Menschen und der ihn umgebenden Natur begründet sein.“ (ibd., S. 130).
Perls, Hefferline & Goodman machen zu dem Verhältnis von anschaulicher Wirklichkeit und transphänomenaler Realität, und damit zu einer möglichen „Verortung“ von SINN, keine bzw. widersprüchliche Aussagen; „dahinter“ schimmert jedoch eine dialektische Haltung durch (vgl. Mehrgardt 1994, S. 449 ff.; Perls 1987, S. 19).
3. Wie geschieht SINN?
Die Beantwortung dieser Frage schließt sich direkt an die Ausführungen zur Frage 1 an: Der SINN-Prozess wäre dem Natürlichen inhärent; dieser dürfte nur nicht behindert bzw. dessen Behinderungen müssten aufgehoben werden.
In der allgemeinpsychologischen Grundlagenforschung hieße das, SINN dürfte nicht durch eine eleatische, mechanistische, materialistische, atomistische usw. Psychologie verstellt sein. Die (künstliche) Umwelt wäre im Einklang mit den Gestaltgesetzen zu formen, so dass sich – aus erkenntnistheoretischer Sicht – Prägnanztendenz und – aus ontologischer Warte – Entelechie unbehindert aktualisieren könnten. Aus gestalttherapeutischer Perspektive müssten Kontaktunterbrechungen abgebaut werden, um SINN-volles Wachstum wieder zu ermöglichen.
Auf die Problematik einer solchen – normativen – SINN-Gebung komme ich später zurück.
4. Wie wird SINN erfahren?
Allgemein würde wohl die gestalttheoretische und auch -therapeutische Position so auszudrücken sein:
SINN ist gegeben als Übereinstimmung von subjektivem Erleben und (wahrem, natürlichem ...) „Wesen“ des zugrunde liegenden Prozesses, erkenntnistheoretisch gesprochen: als Passung von phänomenaler Anschauungswelt und bewusstseinsjenseitiger Welt.
SINN-losigkeit wird erfahren, wenn beides nicht ineinander passt. Diese Erfahrung des Passens zeigt sich in vielfältigen „Symptomen“, z. B.:
als Gefühl der Stimmigkeit, der Widerspruchslosigkeit, der sachlichen Gefordertheit (Metzger 1954, S. 107, S. 230, S. 241);
als Aha-Erlebnis (z. B. Portele 1984);
als Intentionalität, d. h. als unmittelbares Erleben des Bezogenseins oder Hinweisens auf das Wirkliche oder Mögliche (Metzger 1954, S. 18);
als Bewusstseinslage des Auf-der-Zunge-Liegens, bei dem „sich ein transphänomenal Wirkliches meldet“ (Köhler, nach Witte 1989, S. 282);
als Vertrauen auf die Übereinstimmung der „inneren“ Wahrheit mit der „äußeren“ (Metzger 1954, S. 241);
als korrekte, prägnante Wahrnehmung;
als Erregung, als Kontakt, als Befriedigung;
als Erfolg, der ein stimmiges Erkennen und Handeln rückmeldet usw..
Fehlende Passung, SINN-losigkeit, würde sich dementsprechend bspw. zeigen in
Frustration;
Unstimmigkeit;
Müdigkeit, Energielosigkeit;
„Nebel“, Verwirrung;
Wahrnehmungstäuschung;
Kontaktverlust;
Misserfolg usw..
Alle diese Zeichen für Passung – oder auch die „Symptome“ für fehlende Passung – beruhen, um dies zusammenfassend zu sagen, auf der impliziten oder expliziten Annahme, dass sich hierin tatsächlich ein „Wirkliches“ melde, dass sich ein Bestandteil der bewusstseinsjenseitigen Welt also in der anschaulichen Welt, unverhüllt oder zumindest als Ahnung, zeige.
Die Äußerung der Gestalttherapeutin bspw.: „In Wirklichkeit bist du doch wütend!“ entstammt dieser Überzeugung. Und diese Annahme steht zur zentralen These der Gestalttheorie von der Unmöglichkeit der direkten Erfahrung der bewusstseinsjenseitigen Welt im Widerspruch und ist – wie ich in meinen Arbeiten zur Erkenntnistheorie aufgezeigt habe – schädlich.
5. Wie wird SINN (mit)geteilt?
Ursprünglich gibt es im Gestaltdenken ein echtes, leibhaftes Gegenüber, ein anderes „Wesen“, und nicht nur die beliebige Konstruktion eines solipsistischen Ich: so etwa, wenn die Gestalttheorie von einer transphänomenalen Realität spricht; ebenso ist das gestalttherapeutische Du ursprünglich als wesenhaft konzipiert.
Hier könnten nun auch wahre Kommunikationen stattfinden, Mitteilungen von Wesen, die einander geheimnisvoll und fremd und aufeinander neugierig sind. Es könnten sich wahre Kommunikationen ereignen, wenn es nicht jene „Kunstgriffe“ gegeben hätte, mit denen sich Gestalttheoretikerin wie -therapeutin klammheimlich – wie ich behaupte: entgegen dem originären SINN des Gestaltansatzes – in den Stand approximativer Wahrheitsnähe versetzt hätten!
Doch dazu später mehr.
Böse ausgedrückt: Mitteilungen von SINN kommen im Gestaltansatz, sofern man sich nicht auf die Tradition der „nichtwissenden Weisheit“ besinnt, über Mitteilungen von Projektionen und Introjekten nicht hinaus.
Im nächsten Kapitel möchte ich Ihnen Jochen vorstellen und eine Therapie, in der es offensichtlich um andere Dinge geht als um Prägnanz, guten Kontakt, Erregung, Hier-und-Jetzt oder natürliche Ordnung.
Jochen
Jochen, ein 24-jähriger, gut aussehender junger Mann, sitzt mir in der ersten Stunde mit wachen, etwas spöttischen Augen gegenüber. Er prüft mich, meist lächelt er.
Er hinterfragt meine Äußerungen kritisch und – das bekomme ich sogleich zu spüren – lässt mir nicht den Hauch einer Ungenauigkeit und Halbwahrheit durchgehen. Er stellt mir Fragen, hört genau zu, beobachtet genau, und schon hat er sein nächstes Netz ausgelegt, in dem ich mich verfange.
Jochen ist Sonderschüler. Und arbeitslos. Er hat keine Berufsausbildung; eine Lehre und mehrere Jobs hat er hingeschmissen. Mit Frauen läuft nichts. Leider ist er ziemlich schlau. Leider, weil er sehr genau mitkriegt, wie viel heiße Luft aus seinen erfolgreichen Gleichaltrigen, aus Vorgesetzten, Lehrern, Autoritätspersonen und nun auch Therapeuten herauskommt.
Er findet das ungerecht, von Menschen beurteilt zu werden, und das meistens negativ, die doch eigentlich höchstens genauso schlau sind wie er. Er wehrt sich gegen Beurteilungen, und er verweigert eigene Leistung.
Jochen erzählt von seinen Eltern, die an seinem Fortkommen völlig desinteressiert gewesen seien; von Lehrern, die ihn gedemütigt, ihm nicht geholfen hätten, wenn er Hilfe gebraucht hätte.
Natürlich habe er sich nie als Hilfebedürftiger gezeigt; eher habe er provoziert und intellektuelle Auseinandersetzungen gesucht. Letztlich hätten ihm aber alle – Lehrer wie Chefs – diese Art von fördernder Begegnung verweigert und ihn mit negativen Beurteilungen abgestraft.
Dieser intelligente, erfolglose junge Mann sitzt mir gegenüber, ohne Hoffnung, resigniert, kämpferisch, trotzig, misstrauisch, depressiv, aggressiv und in hohem Maße suizidal.
Nach dieser Selbstoffenbarung schwindet meine Verunsicherung – er hatte mir doch ordentlich auf den Zahn gefühlt! Jetzt weiß ich, was los ist, ich weiß, was er braucht und was zu tun ist. Leider, so denke ich heute, glaubte ich zu wissen ... Aber gut, ich arbeite mit ihm, viele Stunden, einige Jahre lang.
Ischa knurrt, er sitzt mir im Nacken, ja, weiß ich selbst, Ischa: Kontakt zu seinem Schmerz, zu den Demütigungen, zu der Trauer, der Wut aufnehmen. Seine Leistungsverweigerungen und Provokationen, sein Trotz und Misstrauen, sein Egotismus, all das sind Reaktionsbildungen, die kannst du nicht umschiffen, da musst du mitten durch, frustriere sein „poor-me“, sei nicht konfluent, schon wieder schonst du ihn! touch him, wovor hast du Angst?! hilf ihm zu fühlen, was er nicht fühlen will! soll ich mit Salzwasser ...? warum unterdrückst du schon wieder deinen Impuls!? ja aber ...
Nun gut, ein paar verstohlene Tränen und ein bisschen Wut habe ich so aus ihm rausgekriegt. Vielleicht war ich halbherzig, vielleicht feige und kraftlos. Immer wenn wir uns einem möglichen prägnanten Gefühl näherten, wurde Jochens Gegenwehr stärker. „Ja, kein Wunder“, stöhnt Ischa, „du musst weitermachen! Du lässt dich an der Nase herumführen!“ – Ja, ich sollte mutiger sein, mich von Jochens Suiziddrohungen nicht manipulieren lassen!
Aber andererseits: Vielleicht steigt seine Gegenwehr aus gutem Grund ...? Vielleicht wäre es für Jochen gar nicht gut, jetzt auf diese heftigen Gefühle zu stoßen ...? (Ischa rollt mit den Augen.) Vielleicht ist ein derartiger Kontakt zu seinen Gefühlen für Jochen SINN-los...?
Was ich auch versuche, welche Gestalttechniken ich auch anwende, es läuft immer auf dasselbe hinaus: Jochen hinterfragt meine Absichten kritisch, schließlich macht er „ein bisschen“ mit, es kommt „ein bisschen“ dabei heraus, gerade so viel, dass ich weitermache. (Ischa hat sich in der Zwischenzeit von mir abgewendet. „Hopeless“, wird er wohl innerlich über mein Herumstümpern gesagt haben ...)
Aber insgesamt geht es Jochen immer schlechter, er deutet immer häufiger Suizidabsichten an, die mir schon seit geraumer Zeit wie ein Kloß im Magen liegen.
Jochens SINN ist ein ganz anderer.
Und mit folgender Begegnung zwischen uns beginnt sein SINN in mir heraufzudämmern: Jochen ist in der heutigen Sitzung besonders deprimiert. Ich spüre, es spitzt sich zu! Mit Händen und Füßen rede ich auf ihn ein weiterzumachen, es gibt doch Hoffnung, das und das haben wir doch noch nicht durchgearbeitet ... Erinnerungen an unseren Anti-Suizid-Pakt, wenigstens den nächsten Termin ausmachen!
Es hilft alles nichts: Jochen erhebt sich vor Ablauf der Stunde, geht zur Tür, dreht sich ein letztes Mal um, sagt: „Wir werden uns nicht wiedersehen.“ Kein Ausrufezeichen, kein Fragezeichen, einfach Punkt. Gänsehaut und Lähmung bei mir.
Dann zögert Jochen einen Moment, schaut auf die mittlerweile dicke Akte, die vor mir auf dem Tisch liegt und meint, scheinbar beiläufig: „Ach zeig doch mal, was du so alles über mich geschrieben hast.“
In dem Moment war mir – fast zu spät – Jochens SINN schlagartig klar. Wieso nur hatte ich das nicht kapiert?! „In der nächsten Stunde zeige ich dir die ganze Akte“, antwortete ich ihm und wusste, dass er wiederkommen würde.
Es dauerte noch ziemlich lange, bis ich den SINN aus Jochens Sicht formulieren konnte – genau genommen gelang es mir erst in der vorletzten Sitzung. Sein SINN ist aus der Sicht eines Psychotherapeuten ziemlich perfide, man könnte ihn vielleicht als double bind bezeichnen. Sein SINN gefiel und gefällt mir nicht, er hat mir viele Schwierigkeiten bereitet; aber es wäre meines Erachtens anmaßend, auf diesen SINN abwertend oder pathologisierend herabzublicken.
Bevor ich die Geschichte der Therapie, die für Jochen erfolgreich und für mich etwas unrühmlich schloss, zu Ende erzähle, versuche ich, diesen SINN Jochens in Worte zu fassen: „Nachdem ich mein Leben lang Niederlagen durch Demütigungen und Abwertungen erlitten habe, will ich jetzt einen SIEG über eine Autoritätsperson, nämlich meinen Therapeuten, erringen.“
Dieser Sieg war für Jochen SINN-voll, glaube ich, auch wenn die Konsequenzen seines SINNES aus meiner Sicht katastrophal waren; sie brachten mich in eine äquifinale double bind-Situation, an deren Ende, egal wie unser Wettstreit ausging, immer Jochens Selbstmord stand. Aus Jochens Sicht:
(a) Wenn ich die Autoritätsperson besiege, bedeutet das, dass ich gut (intelligent, erfolgreich ...) bin. Dann bin ich rehabilitiert. Allerdings erfordert dies zwangsläufig, dass die Therapie erfolglos ist. Also gibt es keine Hoffnung auf Linderung meiner Leiden. Also muss ich mich umbringen.
(b) Wenn ich der Autoritätsperson unterliege, hatten die anderen mit ihren Abwertungen meiner Person Recht. Dann bin ich es nicht wert zu existieren. Also sollte ich mich umbringen.
Der Rest der Therapie ist schnell erzählt, zieht sich aber noch in die Länge. In der folgenden Stunde zeige ich ihm seine Akte, lasse ihn alle Berichte von Vorbehandlern und meine eigenen Notizen lesen. Ich hatte verstanden, dass es irgendwie um einen persönlichen Wettstreit geht.
Meine Versuche, ihn in seiner Intelligenz und in anderen Qualitäten zu bestätigen, quittierte er mit leiser Ironie. Wie auch nicht!? So etwas kann ja nur „von oben herab“ geschehen. „Labor“-Wettkämpfe, die ich erfinde, sind zu künstlich, als dass sie irgendeine tatsächliche Bestätigung hätten transportieren können.
Ab und zu bekommt Ischa in mir Oberwasser, und ich versuche, Jochen mit seinem tief sitzenden Schmerz zu konfrontieren: heißer Stuhl, top- und underdog, Körper- und Atemarbeit, emotionale Verstärkung und vieles mehr. Jochen lässt mich zappeln und deutet an, dass er nun leider wieder weniger Hoffnung habe und er nicht wisse, ob er weiter zur Therapie kommen solle.
So kriegt er mich schnell wieder „in die Spur“. Im Großen und Ganzen geht es ihm aber etwas besser, seine Suizidalität ist etwas in den Hintergrund getreten, und die Stunden ziehen mal plätschernd, mal wogend, mal mit spiegelglatter Oberfläche an uns vorüber.
Gegen Ende unserer gemeinsamen Arbeit lasse ich Jochen für etwa 10 Sitzungen an einer Gruppentherapie teilnehmen. Die anderen Teilnehmer setzen Jochen zunehmend unter Druck, weil sie seine mal provozierende, mal passive Art reizt. Ischa erstarkt in mir, wohl auch weil bei mir seit einiger Zeit privat einiges schief läuft.
Und so kommt es zur vorletzten Stunde in Jochens Therapie: Ich schlüpfe in die Rolle seines Vaters, provoziere Jochen, indem ich seinen Vater all die verletzenden Introjekte aussprechen lasse, die ich kenne und ahne, werde massiver und eindringlicher. Sogar Ischa guckt zufrieden. Das Blitzen in Jochens Augen ignoriere ich.
Was dann folgt, geht ganz schnell: Jochen packt mich und wirft mich mit einer gekonnten Judotechnik zu Boden. Alle Geräusche und Bewegungen im Raum erstarren, die Situation ist wie ein Foto: ich am Boden, Jochen halb über mich gebeugt, die anderen Gruppenteilnehmer und meine Co-Therapeutin bewegungslos um uns herum. Ich fühle mich gedemütigt. Ich bin besiegt! Physisch und geistig besiegt! Jochen hat die Gruppenregeln gebrochen. Und er ist der SIEGER!
Ich erinnere mich nicht, dass wir diese Situation in dieser oder der folgenden, letzten Gruppensitzung noch groß besprochen hätten. Irgendwie war alles so klar: Jochen hatte gegen mich gewonnen, aber nicht auf therapeutischem Gebiet. Er hat es geschafft, mich zu überwinden, ohne die Therapie – oder besser gesagt: seinen Heilungsprozess – zu vernichten.
Einige Jahre später traf ich ihn wieder. Er stellte mir seine Freundin vor, berichtete mir von seiner Ausbildung, die kurz vor ihrem erfolgreichen Abschluss stand und in eine Festanstellung münden sollte. Irgendetwas glitzerte in seinen Augen, Triumph, Überlegenheit wohl. Oder war es meine eigene Verlegenheit, die sich in seinem Blick widerspiegelte?
Gestalt, SINN und Wider-SINN
Am Ende der Begegnung mit Jochen war ich demütiger. Ich meine damit, dass mir schon in der ersten Therapiesitzung „klar“ war, was Jochen falsch machte und was er lernen musste: Seinen Trotz, sein Misstrauen betrachtete ich als Reaktionsbildungen, und es galt, Kontakt zu den „wahren“ Gefühlen „dahinter“ herzustellen.
Wenn Jochen erst einmal über sein Unglück weinen und wüten könnte, würde sein „Natürliches“ sich schon Bahn brechen und Heilung mit sich bringen. Er würde Verantwortung für seine Geschichte, seine Gegenwart und seine Zukunft übernehmen; er würde seine Energien nicht mehr unterbrechen und nicht mehr gegen sich selbst richten; er würde diese vielmehr dafür einsetzen, dass sich seine „Natur“ endlich verwirklichen könnte.
Hätte ich ihn zu all dem bewegen können – und ich habe es wirklich versucht! – wäre dies also gelungen, hätte er sich, so denke ich heute, wohl umgebracht. Weil dieser Therapie-„Erfolg“ meinen Sieg über ihn und seine endgültige Niederlage bedeutet hätte. Am Ende „wusste“ ich weniger über ihn; gleichwohl hatte ich so manches an und mit ihm erfahren – durch ein persönliches Betroffensein, welches ich, ehrlich gesagt, gern vermieden hätte.
Ich versuche nun, mein therapeutisches Scheitern mit Jochen – ja, weil ich gescheitert bin, konnte Jochen heil werden! – in einen Zusammenhang mit einer Kritik gestalttheoretischer und -therapeutischer Konstrukte zu bringen, die ich in früheren Abschnitten bereits teilweise erwähnt, hier aber nochmals im Zusammenhang darstellen will. Ich kann diese Kritik hier nur schlaglichtartig vorbringen; ausführlich ist diese in meiner Arbeit von 1994 nachzulesen.
1. Die Gestalttheorie, genauer gesagt: ihre erkenntnistheoretische Fundierung, der Kritische Realismus, beruht auf einem Widerspruch, der sich auch in allen gestalttherapeutischen Konstrukten wiederfindet:
Einerseits wird die transphänomenale (bewusstseinsjenseitige) Welt als dem menschlichen Erkenntnisvermögen unzugänglich postuliert (z. B. Metzger 1954, S. 239, S. 278 ff.; Bischof 1966, S. 28);
andererseits wird mit den Thesen zur Isomorphie und zur Gestaltverwandtschaft doch wieder ein klammheimlicher Zugang zur bewusstseinsjenseitigen Welt geschaffen. Keiler nennt die Isomorphiethese deshalb eine „verschämte Abbildtheorie“ (1980, S. 93), und Epstein & Hatfield bezeichnen die Gestalttheoretiker zwar einerseits als „phenomenal realists“, aber andererseits als „programmatic reductionists“ (1994, S. 166).
Insofern können die Thesen der Isomorphie und der Gestaltähnlichkeit in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr aufrechterhalten werden (vgl. Mehrgardt 1994, S. 259 ff.); sie sollten zugunsten
„[...] einer Übereinstimmung von Erleben und makroskopischem Systemverhalten umgedeutet werden [...]“ (Kruse, Roth & Stadler 1987, S. 159).
Auch der Ansatz der Kulturhistorischen Schule bedarf des Isomorphiekonzeptes zur Erklärung des Ineinander-Übergehens vom Physiologischen zum Psychischen nicht; vielmehr seien beide „[...] sich wechselseitig Bedingung [...]“ (Leontjew; nach Keiler 1981, S. 123).
2. Aus der Unzugänglichkeitsthese müsste folgen, dass auch die Grenze zwischen Anschauungswelt und transphänomenaler Welt nicht direkt erfahrbar und insofern nicht topografisch lokalisierbar ist (vgl. Mehrgardt 1994, S. 55). Die Isomorphiethese hingegen verführt zu der – erkenntnistheoretisch nicht haltbaren – Vorstellung, man könne der transphänomenalen Realität, „der“ Wahrheit sozusagen, mehr oder weniger nahe sein.
Insofern verwundert es nicht, dass die kritisch-phänomenale Welt – die durch wissenschaftliche Erkenntnisse angereicherte und berichtigte phänomenale Welt – als Stellvertreter der transphänomenalen Welt angesehen wird ( vgl. Metzger 1969, S. 427). Durch diesen „Kunstgriff“ wird die ursprüngliche und wichtige kategoriale Unterscheidung beider Welten tendenziell wieder aufgehoben.
Damit wird die Frage ihrer Wechselwirkungen zur Scheinfrage degradiert. Eine echte Verantwortlichkeit für das Erschaffen von ontischen Tat-Sachen und Strukturen wird übersehen, und eine leibhafte – und nicht nur konstruierte – Begegnung von phänomenaler und transphänomenaler Welt, und so auch von Ich und Du, bleibt außerhalb jeden Kalküls.
Und auch SINN bleibt auf die Erfahrung eines „Passens“ reduziert, eines Passens von angeblich phänomenalen und transphänomenalen Prozessen, die sich aber der genauen Betrachtung beide letztlich als bewusstseinsdiesseitig zu erkennen geben. Damit ist aber jede Chance vertan, SINN-Potenziale sowohl den subjektiven Konstruktionen als auch einer leibhaft begegnenden, transphänomenalen Welt zuzuschreiben.
3. Die topografische, implizite Grundannahme, man könne der transphänomenalen Welt unterschiedlich nahe sein, etabliert die Gestalttheoretikerin und -therapeutin als „Wissende“.
Allerdings besteht dieses „Wissen“ als artifizielle Setzung: in der gestalttheoretischen Forschung, indem die Versuchsperson angeregt wird, eine Wahrnehmungstäuschung zu produzieren, von deren Fehlerhaftigkeit die Versuchsleiterin von vornherein weiß; in der Gestalttherapie, indem die Therapeutin von vornherein „weiß“, dass die Symptomatik ihrer Klientin auf eine Kontaktunterbrechung zurückgeht. Sie weiß zwar nicht um die konkreten Inhalte, wohl aber „weiß“ sie um die emotionalen Prozesse: „Ich weiß, dass du in Wirklichkeit wütend bist!“ So werden in der Gestalttherapie viele Prozesse seitens der Therapeutin wohl eher erzeugt als erkannt.
4. Sowohl in der Gestalttheorie als auch in der Gestalttherapie rücken Prägnanz- und Figur-/ Kontaktprozesse in den Mittelpunkt des Interesses, und dies nicht etwa aus begründbaren theoretischen Folgerungen oder empirischen Befinden; vielmehr geht diese Prägnanz- und Figurfixierung auf eine recht willkürliche Interessenslage zurück: Die Fragen in gestalttheoretischen Experimenten lauten ja eher:
Wie nimmt man Gestalten/ Figuren wahr? Wie bilden sich Erinnerungs- und Problemlösungsgestalten? usw. und weniger: Wie nimmt man nicht wahr? Wie lösen sich Gestalten/ Figuren auf?
Und in der therapeutischen Situation geht es um den erfolgreichen emotionalen Kontakt oder um die Frage, wie ein solcher pathologischerweise verhindert wurde.
Mir ist weder aus Fachliteratur noch aus Supervisionen, Lehrtherapien oder Gestalt-Ausbildung in Erinnerung, dass in einer Therapiesequenz eine Figur-/ Kontaktauflösung als etwas SINN-volles (und nicht nur notwendiger Zwischenschritt) angestrebt worden wäre.
In diesem Zusammenhang möchte ich versuchen, die Begriffe „Gestalt“ sowie „Figur/ Grund“ zu klären. In Gestalttheorie wie -therapie werden „Gestalt“ und „Figur“ mitunter synonym verwendet (z. B. Köhler 1983, S. 189; Perls et al. 1991, S. 14, S. 18, S. 209). In dem jeweiligen Zusammenhang mag das legitim sein, sofern die Reizvorlage eine einzige Figur auf homogenem Grund darbietet.
In aller Regel ist der Hintergrund aber beileibe nicht vollkommen homogen und unstrukturiert (vgl. Wheeler 1993), sondern er enthält ebenfalls Gestalten. Wenn ich das Buch vor mir auf dem Schreibtisch fixiere, bildet dieses eine als Figur hervortretende Gestalt. Der Hintergrund besteht ebenfalls aus Gestalten: andere Bücher, Schreibtischutensilien, der Schreibtisch, der Stuhl, auf dem ich sitze, die Wand hinter mir, meine Kinder, von denen ich weiß, dass sie im Kinderzimmer spielen.
Wäre der Hintergrund nicht gestalthaft organisiert, wäre ich wohl sehr beunruhigt und desorientiert. Also: Die Figur ist diejenige Gestalt, auf die ich jetzt gerade meine Aufmerksamkeit richte; im nächsten Moment wird eine andere Gestalt zur Figur und die vormalige Figur zu einer Hintergrund-Gestalt.
Die Definition von Gremmler-Fuhr, dass nämlich die Figur und Hintergrund zusammen die Gestalt bilden (1999, S. 352, Fußnote), erscheint somit als etwas „konstruiert“, zumal in dieser Definition unklar bliebe, wie die Hintergrund-Gestalten (die ja nicht figurhaft wären) zu benennen wären.
Mein Hinweis auf die Termini „Figur“ und „Gestalt“ ist keine akademische Spielerei; vielmehr scheint deren undifferenzierte Verwendung mitverantwortlich für eine Fixierung auf Prägnanz- und Figurprozesse zu sein: Sowohl die gestalttheoretische Laborsituation als auch die gestalttherapeutische Intervention fokussieren jeweils nur eine einzige Figur: hier die eine zu beurteilende Wahrnehmungsfigur, dort der eine von der Therapeutin als wahrhaft beurteilte Kontakt.
Die anderen, ebenso möglichen Gestalten des Hintergrundes existieren somit in den Augen der Forscherin/ Therapeutin entweder nicht, oder sie werden a priori als nicht wahrhaftig („Deflexionen“) abgewertet (vgl. Wheeler 1993, S. 76). Gestalten, die im Hintergrund bereitstehen, werden also von vornherein nicht als ebenso mögliche, ebenso wahrhaftige Figuren anerkannt. Die gegenwärtige Figur wird so zum Selbstzweck, die Prägnanz zu ihrem Mittel.
Auch wenn Laura Perls und die Cleveland-School die Abfolge der Figurbildungen als „awareness continuum“ bzw. „experience cycle“ (vgl. Fodor 1998, S.54) konzeptualisieren, erscheint die Figur-Auflösung hier nur insofern bedeutsam, als sie Vorbedingung der Bildung der nachfolgenden Figur ist; diese wird aber nicht als sui generis bedeutsame Antithese der Figurbildung betrachtet. Insofern ist festzustellen:
Die zur Prägnanz und Figur gegenläufige Fähigkeit des erkennenden Organismus, die Konfluenz (Adaptationsfähigkeit, z. B. des Geruchssinnes; Dissoziationsfähigkeit, z. B. gegenüber Stressoren) werden vernachlässigt oder gar pathologisiert.
In diesem Zusammenhang scheint mir eine Erfahrung interessant zu sein, die ich immer wieder in Supervisionsgruppen mache: Eine Therapeutin berichtet mir von ihrer Arbeit mit einer Klientin, in der es gelungen sei, die bislang verdeckten, „wahren“ Gefühle heraus- und durchzuarbeiten: „Die Klientin ist“, berichtet die Therapeutin, „durch den ‚Engpass‘ hindurch gegangen, hat ihre Blockaden überwunden, hat ihre Gefühle von Wut, Trauer, Lust kennen gelernt, ausgedrückt und angenommen – mehrere Stunden Gestaltarbeit, wie sie im Buche steht – und es hat sich nichts verändert. Was soll ich denn noch mit ihr machen!?“
An derartigen Erfahrungen zeigt sich, so scheint mir, dass prägnanter, lebendiger und immer neuer, figurhafter Kontakt in der Therapie nicht alles sein kann. Jetzt nämlich, könnte man sagen, fängt die eigentliche Arbeit – im Beziehungs-Grund – erst an.
5. Im oben Gesagten scheint bereits durch, was ich für die negativste Folge des unter Punkt 1 aufgezeigten Widerspruchs und die schädlichste Auswirkung eines diesen Widerspruch nicht auflösenden Gestaltdenkens halte: die Idealisierung von Prägnanztendenz und gutem Kontakt. Während nämlich die impliziten Vorwürfe mechanistischer Anthropologien (z. B. Behaviorismus, Eigenschaftstheorien) an ihr Gegenüber diesen „nur“ partiell in Frage stellen („Weil du Stimulus X vermieden hast, hast du deine Angst verstärkt.“ Oder: „Diese Fähigkeit ist bei dir unterdurchschnittlich ausgeprägt.“), neigt die gestaltorientierte Kritik zur „ganzheitlichen“ Vernichtung: „Du bist nicht kontakt-/ beziehungsfähig.“
Oder wie Ischa einen Mitkandidaten nach fast 4-jähriger Ausbildung (und Zahlung der Ausbildungshonorare!) mit seiner abschließenden „Evaluation“ in seiner Gestaltidentität ganzheitlich vernichtete: „hopeless!“. Ich lasse Wheeler resümieren,
„[...] daß es so etwas wie Kontakt in irgendeiner idealen, platonischen, reinen und theoretischen Form, der dann in der Realität unglücklicherweise beschmutzt wird durch Widerstände wie Konfluenz, Projektion, Introjektion, Deflektion und all die anderen – überhaupt nicht gibt. Stattdessen ist die Ausübung all dieser Modi [...] Kontakt.“ (1993, S. 126).
Die Wertungen eines guten, lebendigen oder auch eines Ich-Du-Kontaktes sensu Buber, so möchte ich ergänzen, sind einzig und allein persönliche, aktuelle Stellungnahmen der Therapeutin; als solche gekennzeichnet – und nicht etwa als „Gestalt-Wahrheiten“! – dürfen sie behutsam (!) und fragend in die therapeutische Begegnung eingebracht werden, als persönliche Wertungen also, die gegenüber denen der Klientin in keinerlei Weise Vorrang haben.
Die Idealisierungsgefahr hängt auch dem gestalttheoretischen Prägnanzbegriff an. Hoeth stellt die Frage, ob nicht die Prägnanz als Wertideal zu Vereinfachungen und Stereotypisierungen verführen könne. So ist sicherlich die Weltsicht eines Menschen, der die Welt in „gut oder böse“ einteilt, als äußerst prägnant anzuerkennen. Prägnanz als alleiniges Bewertungsprinzip führt somit schnell zur Primitivprägnanz (Hoeth 1981, S. 202). In ihrer kritischen Analyse des Prägnanzbegriffes weisen auch Kanizsa & Luccio (1986, S. 102) auf dessen normativen Charakter hin.
6. Eine weitere Prämisse, auf welcher die Idealisierungen der figurhaften Prozesse „Prägnanz“ und „Kontakt“ beruhen, liegt in dem Gestalt-Dogma, das Natürliche sei, wenn es nur befreit werde, auch das Echte und Gute. Dementsprechend sei das Künstliche, Gemachte, Gespielte, sekundär Erworbene, Überlagernde, das die Natur Hemmende und Beeinflussende eo ipso das Schlechte, Unechte und Krankmachende. Petzold stellt diese Prämisse in Frage:
„[...] als ob das in der awareness Gespürte nicht gesellschaftlich präformiert sei, sondern unverstellbare Realität des Subjekts, ein Stück unberührter Natur [...]“ (2002, S. 79).
7. Mit der Überbetonung der einen, aktuellen Figur geht die Zeitperspektive, und gehen damit wichtige SINN-Potenziale, verloren. Allerdings wird der narrative Aspekt heute in der Gestalttherapie gewürdigt, z. B. in E. Polsters „Jedes Menschenleben ist einen Roman wert.“ (1987) oder Porteles „Wer bin ich?“ (2002).
8. Schließlich will ich die Tendenz, dem Ganzen einseitig den Vorrang vor dem Teil zuzusprechen, nochmals erwähnen (s. o.).
Die Quintessenz meiner Kritik an den Gestaltkonzepten aus der SINN-Perspektive lautet somit: Es erscheint wenig SINN-voll und eher schädlich, wollte man versuchen, SINN-Kriterien an bestimmte Gestaltkonstrukte wie Prägnanz, Figur, Grund, guter Kontakt, Wachstum, Ganzheit, Beziehung o. Ä. zu koppeln oder gar mit diesen gleichzusetzen. Eine solche Wertung kann nur eine persönliche Antwort auf die SINN-Frage sein.
Wenn wir als Therapeutinnen unseren Klientinnen derartige SINN-Prinzipien oder gar Holarchien vorgeben, hat das nichts mit Therapie und schon gar nichts mit Maieutik (Sokrates´ „Hebammenkunst“) zu tun; das wäre vielmehr Ausdruck von Macht, Selbstherrlichkeit und Anmaßung.
Wir können uns doch nicht anmaßen, dem Gestaltideal entgegengesetzte Werte wie z. B. die stoische Apatheia (Leidenschaftslosigkeit) oder die epikureische und skeptische Ataraxia (Gleichmut und Seelenruhe) einfach als SINN-los oder pathogen abzutun! Als persönliche Wertungen deutlich gemacht – und nur so! – kann die Therapeutin, wenn sie sich versichert hat, dass diese nicht als „therapeutische Wahrheit“ missverstanden wird, eigene SINN-haftigkeiten ins Gespräch einbringen.
Aber der SINN einer Klientin „Endlich-das-Drachenkleid-von-Miyake-Besitzen“ ist keinesfalls als geringwertiger gegenüber einem „Mit-dem-Universum-Einssein-Wollen“ aufzufassen (zumal wir nicht wissen können, ob mit beiden Formulierungen nicht letztlich ein und dasselbe gemeint sein könnte!)
Was wir tun sollten, um SINN in der Therapie erfassen zu können, ist, eine SINN-Matrix zu erstellen, die uns als Heuristik und Hermeneutik dienen kann. Eine solche Möglichkeit will ich im Folgenden kurz aufweisen.
Matrix
Wenn wir uns als Gestalttherapeutinnen mit SINN befassen, stehen wir – genauso wie bei den Fragen nach Therapieziel, -weg und -wahrheit – vor einer grundlegenden Entscheidung: nämlich ob wir, ausdrücklich oder heimlich, unseren Klientinnen vorgeben, was richtig (guter Kontakt) oder falsch (Konfluenz), was besser (mehr Wachstum) oder nicht ganz so gut (weniger Lebendigkeit), was reifer (Orientierung an universeller Fairness) oder unreifer (Golf GTI) ist.
Wenn wir diesen Weg wählen, halten wir unseren Klientinnen zwangsläufig – ausdrücklich oder in schweigender Geste – ihre Fehler und ihr „Noch-nicht-so-Weit“ und unseren eigenen (unerreichbaren) Vorsprung vor Augen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Klientinnen daran gesunden.
Wenn wir diesen Weg wählen, denken wir in Begriffen wie „Hierarchie“ oder „Holarchie“: Da herrscht jemand, behauptet, Ursprung, A & O zu sein – arché: Herrschaft, Ursprung, Prinzip. Da beansprucht jemand, Vertreter, Abgesandter, Wissender eines Heiligtums (hierós: heilig, gottgesegnet, heilige Scheu einflößend!) oder von etwas Allumfassendem (hólos: ganz; hóla: das Ganze, Weltall) zu sein.
Die andere Alternative, der ich mich verschreibe:
Die Gestalttherapie steht in der Tradition der Anarchie (anarchía: Herrenlosigkeit, Zügellosigkeit): Wir wollen doch nicht „Herren“ unserer Klientinnen sein! Ihnen doch keine Zügel anlegen! Oder doch? Wir wollen dieses doch nicht nur per Lippenbekenntnis nicht sein und nicht tun! Sondern uns, so gut wir imstande sind, auf Sinne und SINN unserer Klientinnen einlassen, mehr neugierig und fragend als „wissend“ und vorschreibend!
Ich fordere dabei nicht, als Therapeutin keine eigenen SINN-Werte einzubringen, sondern nur, dass wir dies nicht mit der Konnotation „Wahrheit“ oder „richtiger als du“ versehen. Ich plädiere also für eine bewusste und offene Handhabung des SINN-Themas, das Wagner (2000) in der Terminologie Groebens unter der wissenschaftstheoretischen Perspektive der „Einheit des Handelns“ (ibd., S. 423 f.) subsumiert.
In dieser Sichtweise wird der Mensch „[...] als reflexions-, kommunikations-, rationalitäts- und handlungsfähiges Subjekt angesehen.“ (ibd.). Demgegenüber stehen die reduktionistischen Menschenbilder des „Tuns“ bzw. „Verhaltens“, die SINN entweder vorgeben oder ausklammern.
Wollte man den ersten, nämlich normativ-reduktionistischen Weg gehen, stünde man vor der nahezu unlösbaren Aufgabe, Kriterien anzugeben zur Scheidung „wahrer“ und „höherer“ SINN-Gehalte von „unwahren“ und „niederen“.
In diesem Artikel habe ich feld- und gestalttheoretische Konstrukte diskutiert. Ich habe aufgezeigt, welche dieser Konstrukte geeignet sein könnten, als SINN-Kriterien zu fungieren (Valenz, Aufforderungscharakter, Zeitperspektive; Prägnanztendenz; guter Kontakt, Assimilation ...).
Ich habe aber auch drei Geschichten, vom knurrenden Ischa, von Jürgen und von Jochen, vorgetragen, die mich an solchen SINN-Kriterien zweifeln lassen. Ich möchte deshalb der Versuchung widerstehen, mich als Therapeuten als Wissenden, Besseren, Wahrheits-Näheren zu sehen. Wir haben keinen festen Standpunkt, keine zweifellose Erkenntnisgrundlage, die es uns erlauben würden, in Gehorsam fordernder Weise eine Hierarchie oder Holarchie von SINN oder gar einen höchsten, allgemeingültigen SINN zu definieren und diesen für die Klientin anzuzielen.
Meine Thesen will ich kurz zusammenfassen:
SINN darf in der Psychotherapie keine Norm sein, weil eine solche nur auf Macht gründen könnte;
SINN ist eine persönliche Wertung, die als solche, nicht aber als Wahrheit, in die Therapie eingebracht werden kann, aber nur dann und so weit, wie die Klientin in der Lage ist, diese als etwaiges Introjekt abzuwehren;
SINN „existiert“ in vielfältigen Facetten, die aus psychotherapeutischer Perspektive alle den gleichen Respekt verdienen. Bspw. treffe ich keine wertende Unterscheidung zwischen SINN-Aussagen wie
Der SINN dieses Satzes ist ...
Ich will unbedingt mal nach Liechtenstein!
Ich lebe für Gott.
(Wenn mir allerdings der SINN einer Klientin Bauchschmerzen bereitet, stelle ich mich ihr als Person in den Weg, arbeite vielleicht nicht mit ihr, sage ihr, dass ich das falsch finde; ich gebe ihr aber nicht zu verstehen, dass ihr SINN pathologisch ist.)
Die Alternative: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“?
Ja und nein.
Ja, weil s.o.; nein, weil wir doch statt „wissenden“ auch „suchende“ und „verstehende“ SINN-Systeme anlegen und verwenden können: Wir können eine Matrix von SINN-Facetten erstellen, die unsere SINN-Suche (Heuristik) und -Auslegung (Hermeneutik), gemeinsam mit unserer Klientin, anleitet.
In diese Richtung scheint mir auch der Artikel von Petzold (2002) zu weisen, der auf vielfältige SINN-Aspekte hindeutet, ohne SINN-Standards errichten zu wollen:
„Das Sinnthema gerät allzu leicht zur Verkündigung, zur Lehre [...] Collagierende Hermeneutik hingegen lädt Leserinnen und Leser zur ‚bricolage‘ (Lévi-Strauss 1972) ein, zu einem kreativen Puzzlespiel, da Sinn immer eine immens persönliche Dimension hat [...]“ (ibd., S. 57).
SINN ist plural und entsteht bzw. „geschieht“ in Polylogen (ibd., S. 60), und so kann eine heuristische SINN-Matrix, auch die umfassendste, immer nur einen winzigen Blickwinkel auf das SINN-Universum freigeben, bezogen stets auf den jeweiligen Kontext. Die erkenntnistheoretische Perspektive einer SINN-Matrix, die ich im folgenden Artikel entwerfen will, ist somit auch nur eine von vielen möglichen; weitere Perspektiven im psychotherapeutischen Kontext könnten sein: energetisch, leiblich, semantisch, spirituell, soziologisch ...
Und so möchte ich als Fazit dazu aufrufen,
sich von normativen und idealisierenden Konzepten zu verabschieden und
sich einem hermeneutischen und heuristischen Vorgehen zuzuwenden.
Eine solche Fassung könnte mit Hilfe neu zu erschaffender Matrizen erfolgen. Wie eine solche Matrix aussehen könnte, zeige ich in der erkenntnistheoretischen Vertiefung im nächsten Artikel.
Literatur:
Quellen-Angaben finden Sie am Ende des 3. Artikels (SINN #3).