Verstehen: Was bedeutet verstehen? – Ein philosophischer Essay

Was heißt, etwas oder jemanden zu verstehen? Verstehen hat irgendwie mit Verständigung zu tun, erschöpft sich aber nicht darin. Denn es gibt noch andere Zusammenhänge, in denen Verstehen eine Rolle spielt. Trotzdem hier ein Versuch, das Verstehen verständlicher zu machen.

Verstehen – Was heißt verstehen?

„Verstehst du auch, was du da liest?“

– Philippus fragt den Äthiopier, Apostelgeschichte 8,30

 

Was ist Verstehen?

Wenn wir vom Verstehen reden, dann meinen wir meist kommunikative Situationen: Wir haben einen Menschen vor uns und wollen verstehen, was das Gegenüber mitteilen will, denkt, fühlt. Im weiteren Sinne verstehen wir auch Gesten, Codes, Symbole, Bilder und Texte.

Das Verstehen verstehen

Das ist aber längst nicht alles, was wir unter Verstehen verstehen können.

Verstehen bedeutet auch, Sachverhalte bzw. Geschehnisse zu erklären.

Dann gibt es da aber noch das praktische Können, sich auf eine bestimmte Tätigkeit zu verstehen.

Auch Menschen können sich untereinander besser oder schlechter verstehen.

Ein Theaterstück oder Buch kann so und so verstanden werden – Und so weiter und so fort.

 

Wortherkunft des Begriffs “verstehen”

Es kommt natürlich nicht von ungefähr, dass wir heute das Wort “verstehen” so unterschiedlich nutzen. Eine erste Annäherung liefert die Etymologie des Wortes (1, 2). Bereits im Althochdeutschen wurde firstantan, -stān, -stēn zweideutig gebraucht: nämlich

  1. einerseits als “wahrnehmen, geistig auffassen”,

  2. andererseits als ‘im Wege stehen, versperren, verwehren”

Die 2. Konnotation wird weiter unten im Text noch eine Rolle spielen.

Heute nutzen wir nur noch die übertragene Bedeutung: verstehen heißt “begreifen, geistig erfassen, etw. beherrschen, deutlich hören” sowie (reflexiv) “mit jmdm. auskommen, gleiche Interessen, Ansichten haben” (2).

 

4 Formen des Verstehens

Verstehen hat auf allen Ebenen allgemein mit einer Sinnerfassung zu tun. Die Unterschiede in der Bedeutung kommen dann in der Art des Bezugs zustande. Salopp ausgedrückt: den Gegenstand des Verstehens.

  1. das Sprachverstehen

  2. das Handlungsverstehen

  3. das Verstehen von Erlebnissen & Ausdrücken

  4. das Verstehen von Ereignissen und Sachverhalten

 
Und das Unzweifelhafte aber erblickt kein Mensch, und es wird auch nie einen geben, der weiß (erblickt hat) in Bezug auf die Götter und alles, was ich nur immer erwähne;
denn selbst wenn es einem im höchsten Maß gelänge, etwas Vollendetes auszusprechen, so wüsste er doch selbst nicht (davon); Anschein (Meinung) haftet an allem.
— Xenophanes, Fragement 34

Xenophanes – Sturmvogel der griechischen Aufklärung

Die Aussage des Xenophanes von Kolophon (vgl. Vorsokratiker) ist eine der ersten antiken Ansätze über das Verstehen bzw die Erkenntnis des Menschen.

Das menschliche Wissen besteht für Xenophanes aus Vermutung (Meinung). Die Wahrheit sei nicht als solche erkennbar, doch sei es möglich, sich ihr allmählich anzunähern: „Nicht von Anfang an haben die Götter den Sterblichen alles Verborgene gezeigt, sondern allmählich finden sie suchend das Bessere.“

Im Endeffekt geht Xenophanes gar nicht darauf ein, ob es die Wahrheit an sich gibt, das lässt er offen. Im Gegensatz zu Homers und Hesiods Menschenbild postuliert der Philosoph die Freiheit des Urteils, das Verstehen, das nicht mehr den Göttern vorbehalten bleibt. Aber begrenzt ist.

 

Platon – Verstehen als besondere Art des Wissens

Die Epistemologie ist die Wissenschaft vom Verstehen/Wissen. Ein Ansatz über das Verstehen nimmt daher den altgriechischen Begriff zum Ausgangspunkt: die altgriech. Episteme ist in der Regel einfach mit ‚Wissen’ zu übersetzen.

Laut Hübner (4) stehen sich hier 2 Auffassungen gegenüber:

  • die Standard-Interpretation: Wissen = internalistisch. Es geht um eine gerechtfertigte Überzeugung. Rechtfertigung ist an Begründung gebunden, eine Wissensquelle.

  • Die neuere Interpretation: Wissen = externalistisch. Anstatt einer Begründung, kommt es auf die Art und Weise an, wie die Überzeugung gebildet wurde (also den Prozess).

Platon soll zwischen ‚Verstehen’ als besondere Art von Wissen (Warum-Wissen) von einem reinen Fakten-Wissen (Dass-Wissen) unterschieden haben.

die Frage ‚verstehst du, warum?’ zielt auf etwas anderes als die Frage ‚weißt du, ob?’. Deshalb klingt es nicht seltsam zu sagen ‚ich weiß, dass er einfach gegangen ist, aber ich verstehe nicht, warum’.” (4)

Verstehen bedeutet, etwas auf etwas Erklärendes zurückzuführen. Ein Zusammenhang wird hergestellt. Dazu braucht es eine Basis, die als wahr angesehen wird. Verstehen heißt also in ein Bestehendes, bereits Gegebenes einordnen.

 
Verstehen und Wissen bei Platon

Fakten als notwendige Bedingung für Verstehen

Im Altgriechischen ist das Wort “Episteme” für Wissen, Verstehen eng mit dem Verb “wissen” (oidein) verwandt, welches wiederum auf den Begriff "sehen'' zurückgeht.

Das ist bezeichnend für das altphilosophische Verständnis von Wissen und Verstehen: Etwas wird unter einer bestimmten Perspektive, in einem bestimmten Zusammenhang bzw. Kontext betrachtet.

  1. Der Akt des Sehens (Dass-Wissen), ist zwar notwendige Bedingung für das Verstehen (Warum-Wissen), daraus entsteht aber nicht automatisch ein Verstehen.

  2. Vielmehr ist das Verstehen eine bewusste selbstvollzogene Aktivität auf mentaler Ebene.

 

Ist Platons Verstehen kausalistisch?

Martin Elbe (7) sieht in Platons Beiträgen zum Verstehen ein kausales Denken: “Subjektivität wird zwar betont, diese aber unterschieden von der Wahrheit (dem Guten).” Die Idee als Ursache, die Erscheinung als Wirkung.

Ich bin mir nicht sicher, ob diese Interpretation so stichhaltig ist.

Schließlich werden Platons Gedanken über Wissen & Verstehen, Ursache und Wirkung, Sein und Werden als Gedankenspiele bzw. fiktive Dialoge inszeniert, die nie in einer absoluten Definition, einem Wissensanspruch enden.

Sie beanspruchen keine Letztbegründung im Sinne einer unumstößlichen Gewissheit und sie liefern keine unzweifelhaften Kriterien für eine Wissensdefinition.

 

Vielmehr liegt hier das Beeindruckende an Sokrates' Nicht-Wissen:

trotz einem bestimmten Vorwissen, verlernt Sokrates das Staunen nicht. Die Erkenntnis, dass alles menschliche Wissen nur vorläufig ist, begrenzt (auf sich selbst bezogen) und nicht zwingend richtig sein muss. Weder das eigene vermeintliche Wissen noch das von anderen. (vgl. auch Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß)

Der Mensch ist endlich (= Philosophie heißt, sterben lernen) und genau seine Begrenztheit, was das Leben als auch die Erkenntnisfähigkeit betrifft, muss ihm in jedem Bezug auf die Welt klar werden.

Wissen bzw. Verstehen ist für Sokrates an die unermüdliche Suche nach guten Gründen gebunden, also einem Appell zur dauerhaften (Selbst)Reflexion und demütigen Haltung zur Weisheit.

 

Hermeneutik über das Verstehen

Die Hermeneutik ist die Wissenschaft vom Verstehen. Konzentriert sich aber auf schriftlich fixierte Texte - was wiederum zu einer Verengung des Verstehens-Begriffes führt.

Sonach nennen wir Verstehen den Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen (...) Wie kann eine Individualität eine ihr sinnlich gegebene fremde Lebensäußerung zu allgemeingültigem objektivem Verständnis sich bringen?
— Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik

Wilhelm Dilthey (1833–1911) – Jeder ist in sein Bewusstsein eingeschlossen

Dilthey zielt auf das empathische Einfühlen in die andere Individualität ab. Wie gelingt 2 geschlossenen Systemen gegenseitiges Verstehen? Er geht grundsätzlich davon aus, dass jeder Mensch in seiner eigenen Individualität gefangen ist. Ich und Du sind voneinander getrennt.

Schlussfolgerung: Wir verstehen uns gegenseitig, weil wir alle dieselbe Form des Lebens (der „Lebendigkeit“) und Erlebens teilen.

Für Dilthey ist Verstehen bzw. Erkennen ein Erleben. Auch soll es beschreibend, nicht urteilend sein.

 
Der Vorgriff der Vollkommenheit, der all unser Verstehen leitet, erweist sich mithin selber als ein jeweils inhaltlich bestimmter. Es wird nicht nur eine immanente Sinneinheit vorausgesetzt, die dem Lesenden die Führung gibt, sondern das Verständnis des Lesers wird auch ständig von transzendenten Sinnerwartungen geleitet, die aus dem Verhältnis zur Wahrheit des Gemeinten entspringen.
— Gadamer, Wahrheit und Methode

Gadamer – Es braucht ein gemeinsames Vorverständnis

Hans-Georg Gadamer widerspricht Dilthey: Was uns in Gesprächen verbindet, ist die geteilte Lebenswelt und Tradition. Wir müssen nicht in eine fremde Innerlichkeit “eindringen”, um zu verstehen, sondern auf Augenhöhe Verständnis suchen. Also uns mit dem anderen Selbst in der Begegnung verbinden.

Verstehen ist eine Vollzugsform menschlichen Soziallebens.

Gleichzeitig erhebt Gadamer die Sprache zur ontologischen Kategorie (7). Dann lässt sich damit aber nichts über das nicht-sprachliche Verstehen aussagen.

Gibt es nicht auch ein vor-sprachliches Verstehen, ein einfühlendes, empathisches Verstehen, das sich unmittelbar ausdrückt und keiner Versprachlichung bedarf?

 
Das Dasein entwirft als Verstehen sein Sein auf Möglichkeiten.
— Heidegger, Sein und Zeit
Heidegger: Verstehen als Daseinsform

Heidegger: das Verstehen als Daseinsform

Weil unsere Fähigkeit zu verstehen, in jeder Situation gefordert ist, definierte Heidegger unser ganzes Leben als Verstehen:

Damit ist Verstehen keine spezielle Fähigkeit des Menschen, die er neben anderen Eigenschaften besitzt, sondern geht weit darüber hinaus.

Heidegger bestimmt Verstehen als eine Weise, mit der der Mensch all sein Können besitzt und in die Tat umsetzt. In anderen Worten:

 

Was auch immer Du tust, Du tust es verstehend

Wichtig ist, Heideggers Verständnis-Begriff in seinem Umfang zu verstehen: Es geht nicht um rationales Denken, sondern nichts Geringeres als das Begreifen von Bedeutungen und Sinn, also existenzielle Phänomene, die das Leben des Menschen durchziehen.

Noch einmal anders formuliert: Das Verstehen ist ein in-Beziehung-treten zur Welt.

Mit dem Verstehen erschließt sich der Mensch aktiv denkend die Welt in einem sinnvollen Zusammenhang. Nicht in abstrakter Form, so als würde man ein Objekt betrachten. Das wäre nämlich ein Missverstehen, eine oberflächliche Betrachtung anstatt Wesensschau.

Verstehen vollzieht sich in fühlender, wollender und handelnder Weise. Verstehen ist praktisch, es ist das In-der-Welt-Sein des Menschen.

(...) Wissen aber ist kein Entdeckthaben einer Tatsache, sondern das Sichhalten in einer existenziellen Möglichkeit.
— Heidegger, Sein und Zeit

Heidegger ist sich bewusst, dass sich jedes Wissen bzw. Verstehen im Zirkel des Verstehens bewegt. “Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.” (S. 153)

In der Phänomenologie ist das Erkennen immer mit einem Vorwissen verknüpft, das sich auf die Welt bezieht. Verstehen ist damit immer beschränkt, denn zu fragen, zu forschen und zu entdecken ist von einem Interesse geleitet (nicht von einer neutralen Einstellung) und steht damit unter einer speziellen Perspektive.

 
Levinas: Verstehen als Machtanspruch

Lévinas: das Verstehen als Machtanspruch

Sozialkritischen Charakter hat das Verstehen bei Lévinas.

Für ihn ist Verstehen eine Art der Vereinnahmung, es besitzt einen Herrschaftsanspruch: wenn ich glaube, einen anderen zu verstehen, dann ordne ich ihn in mein vorgefertigtes System ein, ohne dieses zu hinterfragen.

In diesem Zusammenhang wird oft auf das lateinische comprehendere verwiesen, übersetzt: umgreifen oder begreifen. Im weiteren Sinne also im Griff haben. Verstehe ich eine andere Person, versuche ich – nach dieser Definition – sie unter Kontrolle zu bekommen.

Die gleiche Konnotation ergibt sich, mit synonymen Begriffen:

  • wahrnehmen = für wahr nehmen, etwas als Wahrheit setzen

  • geistig erfassen/auffassen = etwas nehmen, festhalten

  • Verstehen in der 2. Lesart = versperren, im Weg stehen.

Ein vollkommenes Verstehen des anderen ist laut Lévinas aber gar nicht möglich. Denn der andere ist nicht ein bisschen, sondern „absolut anders“, eine „unendliche Fremdheit“.

Gerade im Kontakt und der Faszination dieser Fremdheit gründet jedoch die Verbundenheit unter Menschen, die jeden in Verantwortung nimmt, sich um den anderen zu bemühen.

 
Verstehen und Unverständnis

Fazit: Verstehen

Ich könnte noch mehr in die Tiefe gehen und viele weitere Ansätze aufzählen, die genauso interessant wären, aber dann würde dieser Blogtext nie fertig werden. Daher ein kleines Resümee:

Es scheint so, als hätte das Verstehen weit mehr mit einer Haltung zu tun als einem sachlichen Denkakt.

Ganz im Sinne der antiken Philosophie: Denken, Philosophieren, Verstehen unter Berücksichtigung der menschlichen Grenzen als Lebenseinstellung. Vgl. auch Was ist Philosophie?

Jedenfalls kann man sich gewaltig täuschen, in dem Glauben zu verstehen, warum etwas so und so ist. Das Gefühl des Verstehens garantiert kein Verstehen an sich.

Denn sobald die Grundlage falsch ist, mit der wir zu einer Beurteilung gelangen, ist auch die Konklusion falsch. Verstanden hätten wir in diesem Fall dann mal überhaupt nichts.

 

Der richtige Umgang mit Unverständnis

Wenn es sich beim Verstehen um eine ethische Einstellung handelt und eine Beurteilung, dann ist es auch konstitutiv für das Verstehen, wie wir mit dem eigenen Unverständnis umgehen.

Verstehe ich den anderen nicht, dann wäre es hinderlich, mein Unverständnis zu betonen. Enthalte ich mich aber dem Urteil “Nicht-zu-verstehen” und äußere es nicht voreilig, eröffnet sich mir als “Unverständigen” ein Feld von neuen Gedanken und Perspektiven.

 

Notwendige Voraussetzung:

  • die philosophische Tugend der Offenheit dem Anderen gegenüber.

  • Das Bewusstsein, dass ein binäres Entweder-oder-Denken naiv ist.

  • Die Geduld & Wertschätzung, dem anderen zuzuhören, anstatt dem Drang zu folgen, sofort Antworten zu liefern.

 

Genau hier liegt aber auch das Problem in heutiger Zeit

Die Normen der Gesellschaft fordern Eigeninitiative, schnelle Stellungnahmen, effektive Lösungsorientierung.

Nicht abwarten und nachdenken, sondern frühzeitig oder sofort agieren, so lautet die Devise.

Diese Einstellung nimmt menschlichen Begegnungen allerdings den notwendigen Raum, um sich öffnen und entwickeln zu können. Auf beiden Seiten der Teilnehmer.

 

Ein Gedanke zum Mitnehmen

Worauf es letztlich ankommt, ist der Ausgangspunkt, meine Stellungnahme.

Die Welt ist ziemlich komplex. Wir Menschen sind auch sehr komplex. Die Basis für gegenseitiges Verstehen wäre also:

Verstehen = das Verstehen, dass Welt & Mensch schwer verständlich sind.


Quellen:

1) Wolfgang Pfeifer et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993)
2) Duden: Herkunftswörterbuch der Deutschen Sprache, 2001
3) Metzler Lexikon der Philosophie
4) Hübner, Johannes: Was spricht dagegen, Verstehen als Wissen aufzufassen? In: Information Philosophie, Heft 4/2017
5) Gerhard Faden: Platons dialektische Phänomenologie, 2005
6) Dtv Atlas der Philosophie
7) Martin Elbe: Verstehen. Entwicklung, Theorien und Anwendungen der Interpretativen Soizalwissenschaft, 2022
8) Heidegger: Sein und Zeit, 1993

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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