Was bei Depressionen hilft #3
Retroflexion
So drehst Du den Spieß um!
Dieser Beitrag bietet Anregungen zur Selbsthilfe. Er ersetzt keine Psychotherapie.
Rückblick
In den Beiträgen über Depressionen #1 und #2 habe ich
mein wohltuend anderes Depressions-Modell vorgestellt. Du hast erfahren, wie Introjektion, Retroflexion und Deflexion zusammenhängen;
den Vorgang der Introjektion genau erklärt und dir viele Beispiele über derartige verinnerlichte Regeln, Glaubenssätze, Verbote, Gebote, Werte oder Normen gegeben. Ich habe die wichtigsten Symptome der Depression aus der Perspektive der Introjektion beleuchtet.
die Übersicht findest du hier » Wege aus der Depression
In diesem Teil erläutere ich, was sehr oft die Folge von unseren tief sitzenden Introjekten ist, nämlich das Zurückhalten und Gegen-Sich-Wenden von emotionalen und körperlichen Impulsen. Die Symptome der Depression werde ich in dieser Folge unter dem Blickwinkel Retroflexion untersuchen.
Was ist Retroflexion?
Definition
Retroflexion beschreibt ein scharfes Gegen-sich-selbst-Zurückbiegen. Wenn man Introjekte befolgen muss, ergibt sich zwangsläufig die Notwendigkeit, viele eigene Impulse, Gefühle, Bedürfnisse, Gedanken, verbale und körperliche Äußerungen, Verhaltensweisen zu kontrollieren.
Wir müssen uns also im Griff haben, zurückhalten, disziplinieren, mäßigen.
ACHTUNG!
Du wirst hier möglicherweise Sätze und Ausdrücke lesen, durch die du dich verletzt und beschuldigt fühlen könntest. Das ist gewiss nicht meine Absicht.
Bei Formulierungen wie: Du bist selbst verantwortlich, du schädigst dich selbst. etc betone ich 2 Aspekte, die zunächst unvereinbar erscheinen, nämlich …
dass ein Mensch unverschuldet und ohnmächtig in eine Krise geraten oder krank geworden ist,
und dass er mächtig genug ist, daran etwas zu ändern.
Dieser scheinbare Widerspruch sollte sich aber auflösen, wenn du diese beiden Stellen liest:
in diesem Beitrag die Absätze unter: Spätestens jetzt wirst du protestieren … und
die Einleitung zum ersten Teil dieser Reihe: Was bei Depressionen hilft #1.
Ein Einwand
Solltest du einwenden, dass doch dieses Zurückhalten für ein funktionierendes Miteinander unerlässlich ist, stimme ich dir zu. Aber bedenke, dass wir so furchtbar viele Introjekte bedienen müssen, die nicht wirklich nötig sind, die teilweise unsinnig, widersprüchlich oder gar lebensfeindlich sind.
Ja, wir brauchen Regeln des Zusammenlebens, die Selbstkontrolle erfordern, damit nicht jede Regung, jeder Trieb, jeder Impuls nach außen gerichtet wird und Schaden anrichtet.
Aus wichtigen Kulturtechniken sind kulturelle Fallgruben geworden!
Aber meines Erachtens haben Introjektion und Retroflexion ein Ausmaß angenommen, welches zunehmend zu psychischen, psychosomatischen und körperlichen Erkrankungen führt. Indem infolge dieser pathogenen Kulturtechniken auch notwendige zwischenmenschliche Botschaften ausbleiben, ermöglichen sie nicht das Miteinander, sondern erschweren es.
Konstruktive Kritik wird nicht mehr geübt, fruchtbare Auseinandersetzungen werden nicht mehr geführt, positive Gefühle nicht mehr geäußert, wichtige Informationen nicht mehr gegeben. Wir sind zu einem Volk von Beziehungsgestörten geworden.
Retroflexion macht krank!
Das Zurückhalten leiblicher und psychischer Energien ist immer dann ein Gegen-sich-selbst-Wenden dieser Kräfte, wenn es reflexhaft, ständig und unreflektiert erfolgt.
Dann ist es in vielfacher Weise krankmachend:
1) Physiologisch
Allein die Absicht, eine bestimmte Aktion auszuführen, erhöht die Spannung der zuständigen Muskelgruppen, und zwar, ohne dass überhaupt eine messbare Bewegung erfolgt. Je stärker der unterdrückte Impuls ist, desto höher dürfte auch die Spannung der muskulären Antagonisten sein.
Auf diese Weise erzeugst du chronische Muskelkontraktionen und fügst dir Rücken- und Kopfschmerzen zu.
Deine Atmung wird schwergängig, weil verhärtete Muskeln sie behindern. Magen und Gedärm zwicken, weil sie unter der angespannten Bauchdecke nicht mehr richtig arbeiten können.
Blutdruck und Herzschlagrate nehmen zu, weil sie immerzu Arbeit leisten, und diese Steigerungen werden in dem Maße chronisch, wie die bereitgestellten Energien nicht „abgerufen“ werden.
2) Energieverlust
Wiederholt sich dieser Prozess ständig oder wird er gar habituell, werden Unmengen an körperlichen und psychischen Energien verbraucht. Im Hintergrund arbeitet ein „Energiefresser“, der – ähnlich wie ein unnützes PC-Hintergrundprogramm – Schnelligkeit und Leistungsfähigkeit des Organismus herabsetzt.
Andere, lebenswichtige Aufgaben können nicht mehr, oder nur unter Qualen, ausgeführt werden. So werden das morgendliche Aufstehen oder der Besuch einer Freundin zur auslaugenden Anstrengung. Vgl. auch Morgen- und Abendtief
3) Selbstanklage
Zum bevorzugten Objekt all deiner kritischen Gedanken und Gefühle wirst zunehmend du selbst. Du hast Schuldgefühle, indem du dich selbst beschuldigst; du empfindest Scham, indem du dich selbst niedermachst; du bestrafst dich, indem du dich selbst anklagst; du haderst mit dir, indem du dich mit anderen vergleichst.
4) Die Macht des Unerledigten
Da das Äußern von Bedürfnissen, Gefühlen, Gedanken, Plänen etc ausbleibt, entsteht eine Spannung, die allem Unerledigten eigen ist. Alles Unerledigte drängt nämlich an die Oberfläche, behindert ein ruhiges Einschlafen und befördert stattdessen nicht enden wollendes Grübeln, kreisende Gedanken und motorische Unruhe. Vgl. agitierte Depression
5) Frustration
Wenn du nicht aussprichst, was denkst oder fühlst, nimmst du all deinen Bedürfnissen jegliche Chance auf Erfüllung. Stattdessen wirst du entweder gar nicht wahrgenommen, oder deine Mitmenschen fragen ständig, was mit dir ist, was du hast, was du brauchst, und machen dich mit ihrer fürsorglichen Belagerung zum bedürftigen Kleinkind. Das ist äußerst frustrierend!
6) Selbstunwirksamkeit
Du machst kaum noch die äußerst wichtige Erfahrung, dass du mit deinem Verhalten etwas bewirken kannst. Dein Denken, Fühlen, Handeln haben keinen Effekt mehr. Sie bewirken weder in dir noch in deiner Umwelt etwas. Du kannst nichts machen. Du bist ohnmächtig und hilflos.
Viele Fachleute sind der Meinung, dass die erlernte Hilflosigkeit eines der Hauptsymptome der Depression ist – oder sogar eine ihrer Bedingungen.
7) Soziale Verunsicherung
Kontakte sind – wie so vieles auch! – anstrengend geworden. Du offenbarst dich nicht. Du bist unsichtbar und un(be)greifbar. Du ziehst dich zurück. Insofern erfolgen keine sozialen Reaktionen und Rückmeldungen mehr. Du trittst aus der Welt heraus, die Welt um dich herum schwindet. Jeder Austausch zwischen dir und anderen, sozusagen der lebenswichtige Stoffwechsel, erlahmt. Ohne aber vom Gegenüber gespiegelt zu werden, ohne dessen Begreifen und auch dessen Widerstand fühlst du dich nicht mehr. Du bist nicht nur in deiner Existenz verunsichert, sondern sie selbst steht infrage.
8) Gegen dich selbst!
Impulse, die du habituell unterdrückst, richten sich zunehmend gegen dich selbst. Retroflexion schädigt immer den eigenen Organismus!
Pointiert können wir sagen – und dieser Satz enthält bereits einen Hinweis auf das, was dir später einmal helfen wird:
„Das was du eigentlich dem Anderen antun möchtest, tust du mit der Retroflexion dir selbst an! Die ursprünglich nach außen gerichteten Impulse wendest du nun gegen dich selbst! Das machst du nicht freiwillig und absichtlich – es ist zu deiner 2. Natur geworden!“
Depressive Symptome und ihre Retroflexionen
Anhand der wichtigsten Symptome depressiver Erkrankungen zeige ich auf, welche Retroflexionen dahinter stehen können:
Düstere Stimmung …
Hoffnungslosigkeit, Antriebslosigkeit, Ermüdbarkeit, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen:
Unter einer Depression bist du niedergedrückt oder du fühlst dich ganz leer.
Die Welt kommt dir düster vor, alles ist übermäßig schwer. Nichts geht mehr, nichts ist sinnvoll oder bedeutsam.
Du fühlst dich antriebslos, schnell erschöpft, du kannst dich nur schwer oder gar nicht mehr konzentrieren, und deine Aufmerksamkeitsspanne liegt nahe Null. Du hast keine Energie mehr, du kannst dich zu nichts aufraffen.
Wegen deiner kognitiven Einschränkungen brichst du Arbeiten ab oder machst Fehler. Lesen oder Filme gucken geht auch nicht mehr gut. Du bist ewig müde und bleibst vielleicht sogar den ganzen Tag über im Bett liegen.
Aus dem Blickwinkel der Retroflexion:
Vielleicht hast du dich schon viele Jahre im Griff. Die aufkommenden Energien deiner Impulse hast du immer niedergedrückt – nichts anderes bedeutet übrigens das Wort Depression, nämlich Herabdrücken!! – und bekämpft.
D.h. du leistest andauernd Arbeit, du erschöpfst dich und beutest dich selbst aus. Den riesigen Energie-Aufwand bemerkst du nicht einmal.
Dieser Prozess des Herabdrückens läuft ab, ohne dass du es bewusst initiierst oder auch nur mitkriegst, ebenso wie ein Hintergrund-Programm beim PC, welches ständig läuft und den Computer langsam und schwerfällig macht.
Unbemerkt hast du viele Jahre unnütze, selbstschädigende und auslaugende Arbeit geleistet, die ohne jeden Sinn, ohne Bedeutung, ohne Ziel war. Ihr einziger Zweck war, dich unsichtbar und für deine Umwelt bequem zu machen, ohne Ansprüche, Forderungen, Wünsche, Ecken und Kanten.
Dieses Retroflektieren, Dich-selbst-Herabdrücken hat natürlich immer nur diejenigen Impulse von dir betroffen, die dein eigenes Wohl zum Inhalt hatten. Arbeiten, für andere Dasein, sozial erwünschte Handlungen und Äußerungen, all das hast du ganz selbstverständlich „abgeliefert“.
„Dein Lebens-Motto, kurz gesagt :
Pflicht ja, Kür nein!“
Und nun stell dir vor: Nach Jahren des Dich-Deprimierens tritt jetzt eine Veränderung in dein Leben, positiv oder negativ, die wichtig ist und dein volles Engagement erfordert: Es kann
eine Erkrankung sein,
Konflikte auf der Arbeit,
eine Trennung – oder aber deine bevorstehende Heirat,
die Geburt deines Kindes,
die lang ersehnte Weltreise.
Jetzt bemerkst du, dass du die Energie, die du zur Bewältigung dieser Herausforderung bräuchtest, nicht mehr hast. Deine Batterien sind leer. Nichts geht mehr. Gerade jetzt! Die Depression, die dich jetzt ergreift, ist nichts anderes als das Resultat andauernden Energieverlustes.
Interessenverlust …
Verlust von Freude, sozialer Rückzug, Libidoverlust, erlernte Hilflosigkeit:
Du bist nicht mehr interessiert an beruflichen Dingen, an politischen und sozialen Ereignissen. Du ziehst dich von Freunden zurück, übst deine Hobbys nicht mehr aus. Lust auf Sex hast du auch nicht mehr. Wenn Probleme auftreten, bist du davon überzeugt, nichts machen zu können, um sie zu lösen. Es gibt nichts mehr, was dich packt. Deine früheren Träume und Leidenschaften sind wie ausradiert. Nichts von dem, was dir begegnet, ist dir wichtig.
Aus dem Blickwinkel der Retroflexion:
Du schadest dir, indem du dich deiner Ressourcen beraubst: deiner Freunde, deiner kraftgebenden Hobbys, deiner Interessen.
Lebensnotwendige „Nahrung“ und Anerkennung verhinderst du somit.
Du nimmst dir Mut und Zuversicht, indem du dir sagst, dass du sowieso nichts machen kannst. Du zementierst deine Ohnmacht.
Spätestens jetzt wirst du protestieren:
Ich beraube mich doch nicht selbst!, sagst du.
Ich schade mir doch nicht, ich verhindere doch nichts!
Und schon gar nicht willentlich oder aus Doofheit oder mit kalkulierter Absicht!
Es ist einfach nichts mehr da!!
Keine Energie, keine Lust, keine Kraft! Die ganze Welt ist mir doch verlorengegangen!
Natürlich, völlig richtig. Das sehe ich genauso wie du. Ich unterstelle dir überhaupt nicht, dass du selbst schuld bist an deiner Depression oder du faul bist, bequem und deshalb in die angenehme Schutzhöhle der Depression geflüchtet bist.
Das wäre zynisch, und ich vermute, dass du derartige Botschaften oft genug zwischen den Zeilen oder sogar ausdrücklich empfangen hast. Danach hast du dich vermutlich noch schlechter gefühlt.
Dennoch: Lass uns eine wichtige Unterscheidung treffen:
Schuld, Scham und Verantwortlichkeit: Du bist nicht schuld an deiner Krankheit. Du musst dich ihrer nicht schämen. Du bist nicht aus Faulheit oder Feigheit oder wegen irgendeines Fehlers erkrankt. Du bist nicht verantwortlich dafür, dass du gefälligst und schnellstmöglich diese Störung wieder beendest. Depression kann uns alle treffen. Depression ist ein soziales Phänomen, an dessen Entstehung wir alle teilhaben.
Ohnmacht und Mächtigkeit: Du fühlst dich vermutlich ohnmächtig, etwas zu ändern. Vieles kannst du tatsächlich nicht ändern, weil entsprechende Möglichkeiten dir strukturell nicht gegeben sind. Z.B. kannst du nicht verhindern, dass dein Chef ein übler Narzisst ist, dass bestimmte lästige Gedanken in dir auftauchen, dass dein Partner gerne Mohnbrötchen isst, dass es dunkel wird. Auch kannst du nicht bewirken, dass deine Tochter das Gedicht auswendig hersagen kann, dass es aufhört zu regnen, dass du 5 cm größer wirst, dass dein Freund die Mohnkrümel wegmacht.
Andererseits besitzt du Mächtigkeit …
… und zwar viel mehr, als du denkst:
Du kannst lernen, wie du einen narzisstischen Menschen manipulieren kannst – das geht übrigens super gut!
Du kannst einen quälenden Gedanken versuchsweise an jemand anders adressieren – das kann sehr aufregend sein!
Du kannst einen Mohnbrötchen-Zoll erheben, eine Kerze anzünden oder dich im Dunklen verstecken.
Du kannst ausprobieren, ob du durch den Regen 5 cm größer wirst oder dich einfach groß fühlst, wenn du den kalten Tropfen erlaubst, auf deine nackte Haut zu treffen.
Dazu erzähle ich dir eine kleine Geschichte:
Ein Ausbilder in Gestalttherapie hat einmal einen Gruppenteilnehmer gefragt:
Wie machst du das, dass ich immer deinen Namen vergesse?!!
Der Ton seiner Frage ist mir als vorwurfsvoll und beschuldigend in Erinnerung, und dieser Mitstudent hat sich angegriffen und niedergemacht gefühlt. Der Trainer hat wohl sein schlechtes Namensgedächtnis einfach dem Angesprochenen in die Schuhe geschoben. Vermutlich hat er sich auf dessen Kosten amüsiert und aufgespielt.
Andererseits: Stelle dir einmal vor, der Ton wäre liebevoll und unterstützend gewesen, geleitet von persönlichem Interesse an diesem Menschen, vielleicht sogar bezugnehmend auf eigene ähnliche Erfahrungen; es wäre eine Unterhaltung auf Augenhöhe gewesen.
Dann – und nur dann – hätte es eine fruchtbare Frage sein können:
Wie mache ICH, dass …?
So kann die Person eigene Anteile herausfinden und in Kontakt mit ihrer eigenen Mächtigkeit treten. ZB: Ich mache das, indem ich meine Fähigkeiten verheimliche, bescheiden bin, mich nicht in den Vordergrund spielen will, niemandem den Platz streitig machen will …
Und die Schlussfolgerung könnte ebenso gut sein:
Also kann ich es demnächst auch einfach nicht mehr oder auf völlig andere Weise tun!
Setze dir also versuchsweise einmal diese Brille auf: Wie mache ICH, dass …?
Wie bewirke ich, dass ich schlecht schlafe?
Wie mache ich, dass niemand meine Bedürfnisse wahrnimmt?
Dass ich bei jeder Sitzung Kopfschmerzen bekomme?
Wie kann ich bewirken, dass der andere mir seinen Stuhl anbietet und sich gut dabei fühlt?
Wenn du damit anfängst, wird sich dir, so behaupte ich, eine Welt von Möglichkeiten eröffnen.
Negative Gedanken,
Grübeln und Schlafstörungen:
Deine Gedanken sind durchweg negativ und düster eingefärbt.
Sie können sich auf alles Mögliche beziehen oder sind zwanghaft auf ein Thema konzentriert. Z.B. hast du im Internet aus Versehen einen verdächtigen Mail-Anhang geöffnet, und jetzt denkst du, dass jemand unter deinem Namen Sachen bestellt. Du kannst nicht aufhören, daran zu denken. Du kannst deshalb nicht schlafen. Es ist wie ein Kurzschluss im Denken. Das kann sogar richtig wahnhaft werden, so dass andere und du selbst dich für verrückt halten.
Aus dem Blickwinkel der Retroflexion:
Du richtest deine Ideen, Gedanken nicht mehr nach außen. Stattdessen wendest du sie gegen dich selbst. Statt dass du Andere, über die du dich zB geärgert hast, anklagst oder kritisierst, gehst du nur noch mit dir selbst ins Gericht. Dh dass du den Spieß gegen dich selbst richtest. Da du deine Gedanken nicht mehr durch zielgerichtetes Handeln „abarbeitest und erledigst“, bleiben sie aktiv. Des eigentlichen Adressaten beraubt, wenden sie sich gegen dich. Du quälst dich mit diesen unerledigten Gedanken, grübelst und raubst dir den Schlaf.
Ein kleines Beispiel von mir:
Während eines Mittags-Spazierganges hatte mich ein übler Typ bedroht und mir Bier ins Gesicht gekippt. Tagsüber war dieses unangenehme Erlebnis noch hinter allen möglichen Tätigkeiten verborgen, aber sobald ich im Bett lag, ging es los:
Ich quälte mich mit immer wieder neuen Vorstellungen, wie ich hätte reagieren müssen, warum ich so feige war, wie andere sich zur Wehr gesetzt hätten, was ich hätte sagen sollen etc. Mit diesen Gedanken raubte ich mir den Schlaf und setzte mich zudem unter Druck, wegen des morgigen Arbeitstages endlich schlafen zu müssen. Ich denke, du kennst so etwas. Das machte ich solange, bis …
Ja, dann nämlich fiel mir ein, dass ich ja einen Kurzkrimi zu schreiben hatte, der an der Lübecker Ostseeküste spielen sollte. Den Ort der Handlung hatte ich mir schon angeschaut. Ein paar Ideen hatten sich auch schon eingestellt.
Schlagartig wurde mir klar: Dieser widerliche Mensch wird mein Opfer! (= Spieß nach außen wenden …)
Kaum hatte ich diesen Gedanken gedacht, wusste ich schon, wie er sterben sollte: qualvoll, ohnmächtig und sehenden Auges, durch die Hände von alten Leuten, die von ihm terrorisiert worden waren. Der ganze Plot stand mir mit einem Mal klar vor Augen! Aufgeregt schrieb ich mir ein paar Stichwörter auf – und schlief zufrieden ein.
Schuldgefühle …
Selbstanklage, innerer Kritiker und Antreiber:
Merkwürdig, du bist ohnmächtig und hilflos bzgl der positiven und wichtigen Dinge. Was jedoch alles Negative angeht, bist du fast schon größenwahnsinnig: Du denkst nämlich, an allem Möglichen schuld zu sein.
Du bist schuld daran, dass dein Kind in der Schule Probleme hat, dass deine Frau unglücklich ist. Selbst schlechtes Wetter siehst du als persönliche Bestrafung an. Du allein bist verantwortlich dafür, all das zu ändern, hast aber keine Chance, weil du ja nichts machen kannst …
In dir drin gibt es eine Stimme, die dich seit Jahren schon antreibt: Du musst besser sein und schneller und hilfsbereiter und aufmerksamer und auch klüger, und abnehmen und Sport treiben müsstest du auch!
Wenn du wieder mal etwas nicht oder falsch oder schlecht gemacht hast, teilt dir diese Stimme mit, dass du eine Versagerin oder eine Memme bist. Nimm dir ein Beispiel an X, sagt diese Stimme. Manchmal klingt sie nach deinem Vater, manchmal nach deiner Tante, vielleicht auch nach deiner Grundschullehrerin. Mittlerweile hast du es aufgegeben, dich von dieser inneren Stimme antreiben zu lassen – deine Depression ist so etwas wie ein stummer Protest dagegen.
Aus dem Blickwinkel der Retroflexion:
Du traust dich nicht, deine Kritik nach außen zu adressieren: Vielleicht müsstest du mal ein ernstes Wort mit der Lehrerin deiner Tochter sprechen, vielleicht deinem Freund die rote Karte zeigen, weil er sich von dir bedienen lässt. Vielleicht hältst du eine Riesen-Wut auf einen verstorbenen Freund zurück, weil solche Gefühle ein absolutes NO GO! sind (Introjekt!). Du haderst mit Gott, von dem du dich verlassen fühlst, und klagst dich selbst für deinen mangelnden Glauben an. Den inneren Antreiber und Kritiker stellst du nicht zur Rede, du verjagst ihn nicht, weil du denkst, dass er ja Recht hat.
Angst, Erregung, motorische Unruhe
Obwohl du schlapp und antriebslos bist, bist du innerlich vielleicht total aufgedreht, hast andauernd das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren könnte, läufst nervös hin und her, hast Herzklopfen, Schweißausbrüche. Dein Körper ist eine einzige Qual!
Aus dem Blickwinkel der Retroflexion:
Das ist kein Wunder, denn alle Energien, die in dir entstehen und danach verlangen, in Handlung umgesetzt zu werden und sich so „zu verbrauchen“, hältst du ja unter dem Deckel. Du bist wie ein geschlossenes Holzfass, aus dem der Überdruck nicht entweichen kann.
Alkohol, Zigaretten, Medikamente …
Arbeits-, Spiel- Computer-Sucht:
Also bemühst du andere Helferlein, um dich zur Ruhe zu kriegen. Das hilft ja auch, zumindest immer für eine gewisse Zeit! Also machst du es immer wieder …!
Aus dem Blickwinkel der Retroflexion:
Ja, es lindert deine Symptome.
Gleichzeitig bewirken Suchtmittel, dass du immer mehr davon brauchst. Du hast dich vom Teufel einkreisen lassen! Und was vielleicht noch schlimmer ist:
Suchtmittel sind wahre “Retrofletten”!
Indem sie nämlich deine Energien, die „rauswollen“, betäuben, hindern sie dich daran, den Spieß umzudrehen, also deine Gefühle, Wünsche, Grenzen, Bedürfnisse nach außen zu wenden und an die betreffende Person zu adressieren. Sie verstärken somit den Prozess der Retroflexion!
Selbstverletzung, Suizidversuch und Suizid
Die allermeisten Menschen mit einer Depression denken bisweilen daran, dass sie nicht mehr leben wollen. Das Leben ist für sie einfach zu quälend geworden, und es gibt subjektiv keine Hoffnung auf Besserung. Manche Menschen versuchen gar, sich das Leben zu nehmen. Und leider gelingt es einigen von ihnen.
Aus dem Blickwinkel der Retroflexion:
Selbstverletzungen und suizidale Handlungen stellen die Extremform des Gegen-sich-selbst-Wendens negativer Energien dar.
Wenn du dich mit Selbsttötungs-Ideen beschäftigst, solltest du dir auf jeden Fall professionelle Hilfe holen. Bitte sprich dann auch mit deiner Therapeutin!
Suizidgedanken gehören zu der depressiven Symptomatik dazu. Sie sind nicht sofort Anlass für deinen Therapeuten, dich in eine Klinik zu schicken oder gar einweisen zu lassen!
Wenn du über deine Selbstmordphantasien sprichst, hast du bereits den ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht: Du hast aufgehört, dich damit selbst zu quälen, und adressierst stattdessen deine Bedürftigkeit an eine andere Person.
Das könnte gegen Depression helfen
Ich möchte dir Mut machen. Das Prinzip, über das ich hier spreche, ist sehr einfach. Es braucht allerdings Übung und auch Selbstüberwindung, weil vermutlich einige deiner Introjekte etwas gegen diese Methode einzuwenden haben. – Aber hattest du dir nicht schon vorgenommen, dich von deinen Introjekten nicht mehr so gängeln zu lassen??
Die Hilfe gegen Depression heißt ganz einfach: den Spieß umdrehen!
Ich gebe dir einige Beispiele. Auf meiner Seite Wegweiser - Theorie findest du weitere Hilfestellungen und Beispiele für Auswege aus der Depression. Speziell zum Spieß-Umdrehen kannst du hier gucken: Retroflexion.
Das Prinzip Spieß umdrehen!
Du hast dich im Laufe deines Lebens darin trainieren lassen, deine inneren Impulse zurückzuhalten und dich selbst zu verletzen. Jetzt beginne damit, den Spieß umzudrehen.
Beachte: Führe diese Übungen nicht gegenüber der betreffenden Person aus! Verletze weder dich noch andere! Das könnte zu Eskalation, Selbstüberforderung und Frustration führen!
Stattdessen kannst du diese Übungen in deiner Therapie durchführen oder mit einer vertrauten Person.
Solche Übungen sollten nur im Sicheren Raum stattfinden. Schaue dir dazu bitte unbedingt das Mindroad-Manual und - wenn du etwas weiterscrollst - die Regeln an.
Erst nachdem du deine Gefühle kennen gelernt, zum Ausdruck gebracht und „abgearbeitet“ hast, überlege dir, ob anschließend eine persönliche Klärung mit dem Adressaten deiner Gefühle möglich, sinnvoll und erfolgversprechend ist.
Zuckungen
Es ist gar nicht so leicht, die eigenen Retroflexionen und die ursprünglichen Impulse wiederzuentdecken! Vermutlich bist du super darin trainiert, das alles gar nicht mehr zu bemerken.
Hier die Anleitung:
Setze dich bequem hin. Schließe deine Augen. Stelle dir jetzt Personen deines vergangenen und gegenwärtigen Lebens bildlich vor. Links befinden sich die Leute aus deiner Vergangenheit, rechts diejenigen deines aktuellen Lebens. Direkt vor dir, in der Mitte also, sind die Menschen, mit denen du damals und heute zu tun hattest und hast.
Mit deinen Händen ergreifst du einen imaginären Spieß (oder einen realen Besenstiel?), dessen Spitze gegen deine Brust oder deinen Bauch zeigt. Stelle dir vor, wie du diesen Spieß in einem bewussten Akt umdrehst, also nach außen wendest und auf die Gestalten vor dir richtest. Jetzt lässt du seine Spitze über die Leute vor deinem inneren Auge wandern. Mache das langsam. Dabei stellst du dir jede einzelne Person intensiv vor.
Bei wem bleibt dein Spieß hängen?
Wo beginnt er zu zucken? Vermutlich sind das die Personen, mit denen du ein Hühnchen zur rupfen hast oder noch nicht im Reinen bist.
Welche emotionale Botschaft taucht in dir bei der jeweiligen Person auf?
Sprich sie laut aus. Suche nach der passenden Formulierung und probiere es immer wieder, bis sie passt.
Schreibe einen Brief an die Person
… den du aber bitte nicht abschickst! Das gibt dir Sicherheit und Mut, wirklich ALLES zu äußern, auch solche Gefühle und Vorstellungen, die nicht so toll sind wie zB Neid, Wut, Hass, Gewaltfantasien, Eifersucht, Missgunst, Geiz, Schadenfreude, „kindische“ Wünsche.
All das darfst du fühlen und ausdrücken!
Du bist deshalb kein schlechter Mensch.
Lies den Inhalt laut vor. Stell dir vor, wie deine Botschaften die betreffende Person erreichen. Diese ist zum Schweigen verdammt, jetzt bist du dran!
Versuche, deine Gefühle, Worte und Gesten so zum Ausdruck zu bringen,
dass du sie los wirst,
dass du eine Last ablegst,
dass ein Kloß im Hals sich auflöst,
dass die Enge in der Brust endlich nachlässt,
dass dein Kopf frei wird und dein Blick sich klärt,
dass dir warm wird,
dass du leichter wirst.
Es kann sein, dass du laut werden musst. Es kann sein, dass du schreien musst, deine Fäuste ballen, auf ein Kissen schlagen, um dich davon zu befreien.
Und vermutlich wird dir das eine oder andere Introjekt dabei begegnen, welches dich davon abhalten will, indem es dir den Hals zuschnürt und dich anschreit: Sei nicht kindisch! Das ist albern! Das bringt doch nichts! Das ist unvernünftig!
Deine unerledigten Gefühle wollen aber raus aus dir. Mach dir das Motto des Sommerschluss-Verkaufs zu eigen; denn:
Alles muss raus!
Zettelpfeile
Nimm ein Blatt Papier. Du malst ein Strichmännchen oder -frauchen auf die linke Seite: Das bist du selbst. Auf den rechten Rand machst du ein Kreuz. Das stellt eine andere Person, einen Gegenstand oder auch eine Idee, einen Plan, eine Aufgabe, einen bevorstehenden Termin etc dar.
Zuerst entscheidest du dich, wer oder was sich dort rechts befindet.
Dann machst du einen kräftigen langen Strich, der von dir ausgeht und mit der Spitze des Pfeils in dem Gegenüber endet. Dabei oder kurz danach formulierst du deine …
Emotionale Botschaft:
Diese beginnt mit Ich (oder Mir, Mich …),
dann kommt eine emotionale Bewertung (empfinde Liebe, Wut auf …, mag …, hasse …, habe Angst vor, Lust auf, freue mich über …)
und schließlich das Objekt, also: dich (oder mit dir, deinetwegen …).
Benenne dich klar und eindeutig, indem du ICH sagst! Verwende keine Nicht-Wörter wie man, frau, wir, alle Menschen …! Auch dein Gegenüber solltest du klar identifizieren, also zB Tante Isa statt: Leute wie dich! (Es kann aber auch eine Gruppe von Menschen sein, zB Ihr Frauen.)
Das kannst du mit mehreren Botschaften an dieselbe Person und auch mit verschiedenen Personen machen. Es mag sein, dass du eine bestimmte Veränderung (Umzug, neue PC-Software auf der Arbeit, eine neue Umgebung …) oder eine Begegnung mit einem Werkzeug blöd oder gut findest, dann ist diese neue, veränderte Situation oder eben dieser Hammer dein Objekt.
Finde heraus, ob diese Übungen etwas in dir verändern. Oder ist es (noch) schwer für dich, dich darauf einzulassen? Dann gehst du am besten nochmals zurück zu meinen früheren Beiträgen über Introjektion.
Im folgenden Beitrag
über Deflexion denken wir zusammen darüber nach, mit welchen Strategien Menschen sich daran hindern, sich all dieser Zusammenhänge bewusst zu werden. Die Videos zu den Textbeiträgen kannst du alle hier sehen: Wege aus der Depression