Depression: Gesellschaft spielt eine Rolle bei der Volkskrankheit

Depressionen haben es unlängst zur Volkskrankheit geschafft. Damit erhält die Depression eine Bedeutung, die weit über den Einzelnen hinausgeht. Sie ist kein privates Problem von ein paar Menschen, sondern hat gesellschaftliche und politische Dimensionen, die klar benannt werden müssen.

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Depressionen & Individualismus

Depressionen sind längst kein persönliches Problem mehr, sondern haben eine gesellschaftliche & politische Dimension…

 

Individualisiert, selbstoptimiert und depressiv

Depressionen nehmen nicht erst seit der Corona-Krise zu (5,7). Bereits in den Jahren zuvor schlug die WHO Alarm, dass die Zahl an depressiven Störungen wächst (8). Mit Millionen von Betroffenen ist sie mittlerweile zur Volkskrankheit geworden.

Volkskrankheit in Zeiten der Individualisierung und des Neoliberalismus ist aber ein Widerspruch in sich. Ein kollektives Phänomen, das nur den Einzelnen an sich etwas angehen und vom Individuum selbst bewältigt werden soll. So interpretieren es zumindest kulturkritische Ansätze.

Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik

 

Gesundheit als Privatproblem

Genau das ist das Paradox bei Depressionen: sie sind stigmatisiert und werden dem einzelnen Menschen zur Last gelegt. Kannst Du Dich nicht anpassen, dann brauchst du eine Psychotherapie.

Vgl. auch Stigmatisierung in der Psychiatrie – Ignoranz & andere Übel.

Deine psychische Gesundheit obliegt Deiner eigenen Verantwortung.

So lautet die Botschaft, die „Krankheit“ entstehe durch einen Mangel an Anpassung. Mit dem (unvermeidlichen) Zwang zur Anpassung komme eben jeder unterschiedlich zurecht. Es seien zwar viele betroffen, aber nicht nur die Wirkung sei auf jeden unterschiedlich, auch die Bereitschaft zur Erkrankung sei individuell zu sehen.“ (Charlotte Jurk: Der niedergeschlagene Mensch, 19)

 

Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst

Dass Depressionen nicht nur Privatsache sind, will der französische Soziologe Alain Ehrenberg in seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ darlegen.

Die Depression ist für ihn „eine Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht.“ (1).

Sein Werk wurde bahnbrechend für die Depressionsforschung und als das erste, die öffentliche Diskussion prägende (sozial-)„wissenschaftliche[…] Standardwerk“ zur Depression bezeichnet. (16) Dabei wurde Ehrenbergs Arbeit oft falsch als eine weitere Form der Kulturkritik interpretiert. Eigentlich will Ehrenberg aber die Kulturkritik untersuchen, also auf einer Meta-Ebene ansetzen.

Waren im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts noch Neurosen auf dem Vormarsch, die als Befreiungsversuch von sozialen Zwängen verstanden wurden, ist heute die Depression an deren Stelle getreten. Mit dem großen Unterschied, dass es nicht mehr soziale Normen sind, an denen der Mensch erkrankt, sondern die vielen Freiheiten.

Eine ähnliche, aber abweichende Auffassung vertritt übrigens Viktor Frankl – vgl. Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn

 

Die Freiheit der Moderne & ihre Tücken

Heute stehen uns alle Türen offen – so zumindest die allgemeine Vorstellung vom modernen Individuum. Keine konservativen Verhaltensnormen des Bürgertums, keine starren Hierarchien und Machtstrukturen mehr, die Dich bestimmen und in Deiner Entwicklung einschränken. Doch was heute von vielen als Freiheit verstanden wird, erschöpft sich in oberflächlicher Selbstoptimierung – also Selbstverwirklichung durch Leistungssteigerung.

 

Der heutige Mensch schöpft sich selbst aus

Um dem neoliberalen Ideal an Aktivität, Kreativität und Produktivität gerecht zu werden. Diese Art von Ausschöpfung, besser noch: Selbst-Ausbeutung, treibt zur Er-schöpfung. Was bleibt, ist kein selbstbestimmter Mensch, sondern ein depressives Selbst:

Die Depression ... ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative. Gestern verlangten die sozialen Regeln Konformismen im Denken, wenn nicht Automatismen im Verhalten; heute fordern sie Initiative und mentale Fähigkeiten.“ (Alain Ehrenberg, 1)

Das Individuum unterliegt dem Zwang, sich persönlich zu entfalten und sich selbst um sein Lebensglück zu kümmern. Dabei sind Selbstentfaltung und Glück erstrebenswerte Dinge, die sich nur ohne Druck, Zwang und Anspruch von außen realisieren lassen.

 

Das Paradox: Freiheit für alle, aber nicht für jeden

Klar, wir haben heute mehr Freiheiten als Menschen in früheren Epochen. Recht auf Urlaub, reichhaltige Kultur, ein funktionierendes Gesundheitssystem – alles bedeutende Freiheiten, aber machen sie glücklich?

Vgl. auch Was macht glücklich – Glücksforschung über das glückliche Leben

Bereits Albert Camus stellte fest, dass Freiheit mehr aus Pflichten als aus Privilegien besteht.

 

Freiheit für jeden und die soll auch jeder nutzen

Das ist allerdings gar nicht so einfach, wie es sich die moderne Gesellschaft vorstellt. Zumindest nicht für jeden. Soziale Ungleichheit gibt es nämlich immer noch, auch wenn sie subtiler auftritt als in früheren Jahrhunderten. Und wer aus einem Milieu kommt, das nicht zur oberen Mittelschicht und höheren Klasse gehört, der oder die muss damit leben, dass die Chancen zur Selbstverwirklichung, Zukunftsentwicklung und Freiheitsauslebung ziemlich ungleich verteilt sind.

So müssen sich Angehörige bestimmter Gesellschaftsschichten weitaus mehr anstrengen, mehr leisten und mehr aus-schöpfen als andere. Das spiegeln auch Studien und Statistiken wider: Nicht nur Frauen, die eindeutige Nachteile haben, erkranken häufiger an Depressionen, sondern vor allem Menschen, die sozioökonomisch benachteiligt sind.

Evtl. auch interessant für dich: Jenny Marx, Harriet Taylor Mill, Mary Wollstonecraft, Virginia Woolf

 

Schaffst Du es nicht, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hindernisse zu überwinden und Dich selbst zu verwirklichen, wie es sich für den modernen Menschen gehört, dann ist das Dein Problem:

Das selbstverantwortliche Subjekt internalisiert den sozialen Widerspruch als eigenes Versagen. Oder um es im neoliberalen Vokabular auf den Punkt zu bringen: Depressionen sind die outgesourcten Transaktionskosten der neoliberalen Ordnung, die vor allem benachteiligte Gruppen zahlen müssen.

Wenn eine Frau neben Vollzeitjob, Haushalt und Kindern nicht ebenso viel Energie wie der männliche Kollege findet, um sich einzubringen, dann firmiert das oft als ihre eigene Schuld. Sie hätte sich ja anders entscheiden können. Wer neben dem Studium noch arbeitet, wird keine gering- oder unentlohnten Praktika machen, die in vielen Berufsbereichen unabdingbare Voraussetzung geworden sind. Pech gehabt.“ (14)

» Immer mehr psychisch Kranke – eine Mental Health Krise?

 

Depressionen durch ein Menschenideal, das nicht erfüllbar ist?

Immerhin hat es die psychische Gesundheit (auch befeuert durch Corona) in die Öffentlichkeit geschafft. Gerade auf Social Media werden Self-Care Tipps geteilt: Horche in Dich, genieße den Moment, sprich über psychische Probleme, bewege Dich ausreichend und und und. Leider hat die öffentliche Aufmerksamkeit für mentale Gesundheit einen großen Haken: Sie steht unter dem Diktum der oberflächlichen Selbstoptimierung.

Das Ideal, nach dem alle streben: der energiegeladene, aktive, erfolgreiche
und sich selbst glücklich machende Mensch. Der allgemeine „therapeutische Diskurs“ (9), wie ihn die Soziologin Eva Illouz nennt, ist also keine Aufklärung gegen Depressionen & andere psychische Krankheiten, sondern zementiert nur den Leistungsdruck, der neben der Arbeitswelt auch den Gesundheitsbereich erfasst hat.

 

Direkte Folge der Individualisierung

Plötzlich liegt alles vollständig in der eigenen Verantwortung, psychische Themen sind nur persönliche, individuelle Probleme – keine Relevanz für Politik und Sozialgefüge. So vermittelt sich größtenteils der allgemeine Hype um Mental Health.

Das moderne „Streben nach Gesundheit“ (Illich) ist die Kehrseite einer Entkörperung, die nach 150 Jahren Medizin- und Industrialisierungsgeschichte auch die Seele in ein Objekt geplanter Verfügbarkeit verwandelt hat.

Mentale Übungen, Entspannungstechniken, Bewußtseinserweiterung mit oder ohne chemische Aufputsch- oder Dämpfungsmittel – dies alles dient der Funktionalisierung des Seelischen im Dienst der Selbststeigerung.

Die Seele war einst die geheimnisvolle Mittlerin zwischen der Welt des Sichtbaren und dem Bereich jenseits der Sinne. Heute ist sie als Stoffwechselfunktion oder Gehirnstrom dem Bereich des Körperbesitzes zugeordnet …“ (19)

Vgl. Psychosoziale Faktoren der Depression und Entmenschlichte Menschenbilder

 

Fazit: Volkskrankheit Depression

Viele Menschen bewegen sich permanent am Limit und geraten so in einen Teufelskreis von eigenem Erwartungsdruck und gesellschaftlichen Anforderungen, die total überhöht sind. Depressionen sind aber keine Überforderung, das wäre untertrieben. Depressionen sind auch keine Reaktion auf zu viel Stress, dem sich mit genügend Erholung beikommen ließe.

Depressionen sind eine Krankheit, bei der der Punkt zur Überforderung längst überschritten wurde. Diesen Prozess rein biologisch & individuell zu betrachten, wird dem Menschen nicht ganz gerecht. Die Volkskrankheit Depression wirkt wie ein Symptom unserer Zeit: als Reaktion auf soziale & persönliche Anforderungen, die kein Mensch erfüllen kann.

Damit wären psychische Probleme überhaupt nicht krankhaft, sondern eine Form von kollektiven Existenzgefühlen, die Politik & Gesellschaft zu berücksichtigen haben. Hier auf die sozialen & wirtschaftlichen Ursachen von Depressionen & Co einzugehen, darin liegt eine Chance, die bislang leider nicht genutzt wird.

Vgl. auch Einsamkeit in der Depression sowie Einsamkeitsfähigkeit

 

Politik für psychische Gesundheit

Was genau müsste aber auf politischer Ebene passieren, damit psychische Krankheiten keinen sozioökonomischen Nährboden finden und so die seelische Gesundheit des Einzelnen gestärkt wird? Darauf hat die CDU-Politikerin Diana Kinnert im Deutschlandfunk Kultur geäußert:

Wir haben immer mehr Suizidversuche im Lockdown, wir haben Einsamkeit, die durch die Vereinzelung wächst, und Unsicherheit im Job, weil durch Automatisierung manchmal ganze Industrien wegfallen.“ (21)

Insbesondere Überforderung durch Arbeit und ständige Erreichbarkeit seien krasse Stressfaktoren, meint die Journalistin Ariane Bemmer (20). Doch auch Familienarmut, ungleiche Bildungs-Chancen, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Migration gehören zu den wesentlichen Faktoren für soziale Ungleichheiten. Vgl. Gesundheitliche Ungleichheit – Thema Armut & Depression. Das sind natürlich nicht die einzigen Elemente, welche die Politik wirksam und positiv gestalten kann.

Bessere und mehr Präventionsprojekte für psychische Gesundheit bräuchte es, wenn man schon über die Risikofaktoren Bescheid weiß. Leider kommt da wenig Konstruktives (ich erinnere nur an Spahns Vorschläge „vorinstanzliche Begutachtung“ und „Rasterpsychotherapie“). Bessere Maßnahmen wären ein bedarfsgerechter Ausbau des therapeutischen Angebots für Kassenpatienten, das mehr als dürftig ist.


Quellen:

1) Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst
2) Klaus Kufeld: Die erschöpfte Freiheit und der Wille zur Utopie
3) Thomas Kleinspehn: Überforderung des Individuums
4) Petra Bühring: Volkskrankheit Depression: Neuerungen in der Psychotherapie
5) Gesundheitsstadt Berlin: Pandemie hat zu Zunahme von Depressionen geführt
6) Bundesministerium für Gesundheit: Prävention Gesundheitsgefahren – Depression
7) Neurologen und Psychiater im Netz: Zunahme von Depressionen und Angststörungen durch Corona (News)
8) WHO: Depression and other common mental Disorders (Global Health Estimates), 2017
9) Eva Illouz: Die Idee der Liebe ist im Niedergang begriffen
10) Stiftung Deutsche Depressionshilfe e.V.
11) Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
12) Dr. Karsten Wolf: Überforderung
13) PTK Bayern: Leistungsdruck, Stress und Überforderung machen immer mehr Menschen psychisch krank
14) Julia Werthmann: Voll optimiert und stark erschöpft
15) Deutsches Ärzteblatt: Depression noch immer Tabuthema
16) Lara Gfrerer: Rezension vom 30.05.2016 zu: Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart.
17) Elisabeth von Thadden: Der Souverän dankt ab
18) American Academy of Pediatrics: Clinical Report – The Impact of Social Media on Children, Adolescents, and Families (2011)
19) Charlotte Jurk: Der niedergeschlagene Mensch. – Depression. Eine sozialwissen-schaftliche Studie zu Geschichte und gesellschaftlicher Bedeutung einer Diagnose (Doktorarbeit 2005)
20) Ariane Bemmer: Stress, Burnout, Depression – Die Politik reagiert hilflos auf die kranke Gesellschaft
21) Diana Kinnert im Gespräch mit Anke Schaefer: Warum unsere Seele politische Chefsache ist
22) Europäische Kommission, Generaldirektion Gesundheit & Verbraucherschutz: Bericht „Maßnahmen gegen Depressionen. Psychische Gesundheit und psychisches Wohlbefinden verbessern und die negativen gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen von Depressionen bekämpfen“ 2004 (als PDF online)
23) Bundesministerium für Bildung und Forschung: Erkrankungen des Gehirns – Depression: Schatten auf der Seele
24) Nils Heisterhagen: Depression – Individuelles oder gesellschaftliches Versagen?

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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