Homo Timore – Die philosophische Anthropologie der Angst

Jede Person ist mit dem Gefühl von Angst vertraut und fürchtet sie zugleich. Doch was ist es, das uns Menschen für Ängste empfänglich macht? Interessante Ansätze finden sich in der philosophischen Anthropologie.

Homo Timore

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ÜBER ANTHROPOLOGISCHE WISSENSCHAFTEN

“Was ist der Mensch?” – fragte Kant im 18. Jahrhundert und brachte damit einen Diskurs in Gang, der in die heutige Wissenschaft über den Menschen, die Anthropologie, mündet. Im Grunde gibt es aber nicht eine Anthropologie, sondern viele verschiedene Perspektiven innerhalb dieses Faches: philosophische, theologische, kultursoziologische, ethnologische, medizinische und biologische.

Obwohl anthropologische Ansätze keine festgelegte Natur des Menschen annehmen, gehen sie von allgemeingültigen Grundvoraussetzungen der menschlichen Existenz aus. So lassen sich sowohl die Struktur als auch das spezifisch Menschliche an der Angst verstehen.

 

Struktur menschlicher Ängste

In früheren Forschungen wurde eine unbestimmte Angst von einer konkreten Furcht unterschieden. Doch neueste Ansätzen verwerfen diese klare Trennung. Stattdessen wird die Angst graduell eingeordnet. Sie bewegt sich auf einer Skala zwischen diffuser Ängstlichkeit und konkreter Furcht.

So unterschiedlich sich das Phänomen der Angst beim Einzelnen auch ausprägen mag – die grundlegende Struktur ist bei jedem Menschen gleich.

Siehe auch Wie fühlt sich Angst an? (Philosophie) – die phänomenologische Struktur der Angst

 

Struktur der Angst

Wer Angst hat, der…

  • fürchtet sich stets vor etwas (Wovor)

  • verspürt übermächtige Impulse, zu fliehen oder zu vermeiden (Wozu)

  • fühlt sich in seinem ganzen Sein bedroht (Worum)

 

Angst neigt zur Selbstquälerei

Ähnlich wie Eifersucht, meinte der Philosoph Sören Kierkegaard. Und tatsächlich ist das ein weiteres wichtiges Charakteristikum: Angst nutzt die Macht der Fantasie und malt schlimmste Katastrophenszenarien aus.

Normalerweise können wir gut zwischen realer Wahrnehmung und Vorstellung unterscheiden. Doch diese Differenzierungsfähigkeit wird in der Angst förmlich ausgehebelt, die Grenzen zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit beginnen zu verschmelzen.

Philosophisch betrachtet, liegt in der Angst ein Moment der Selbstentfremdung.

In jedem Fall stellt die Angst, wie alle Emotionen, eine Form des menschlichen Selbstverhältnisses dar, d.h. sie kann als Reaktion auf die Gefährdung des eigenen Selbst betrachtet werden – egal ob auf vitaler, gesellschaftlicher oder existenzieller Ebene. Vgl. auch die Phänomenologie

 

Grundlagen der Angst in der Anthropologie

Herzrasen, Schwitzen, angespannte Muskeln und erhöhte Wachsamkeit zeugen von der biologischen Funktion der Angst als Warnsystem. Sie aktiviert den gesamten Organismus, um ihn auf Flucht oder Kampf einzustellen.

Im Verlauf der kulturellen Entwicklung tritt jedoch die primäre, lebenserhaltende Funktion der Angst eher in den Hintergrund. Anstelle dessen gewinnt die Angst vor sozialen und existenziellen Bedrohungen immer mehr an Bedeutung.

Im Zusammenhang mit Angststörungen stellt sich die Frage, inwieweit Gegensätze und unvermeidbare Konflikte in der menschlichen Natur vorhanden sind, die unter bestimmten Umständen zu psychischen Krankheiten führen können.

Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs geht von einer anthropologischen Vulnerabilität aus, also von einer speziellen psychischen Gefährdung, die aus der Konstitution des Menschen entspringt. Zu nennen sind hier:

 

1) Der Mensch als physiologische Frühgeburt

Bereits in den ersten Lebensmonaten und -jahren erfahren wir Angst. Der Mensch wird (verglichen etwa mit Menschenaffen) unfertig geboren, Adolf Portmann nennt ihn eine “physiologische Frühgeburt”.

Er ist von Geburt an allerlei Gefahren ausgesetzt und äußerst schutzbedürftig. Dabei scheint die Angst biologisch die Gefahr eines Verlusts von Nähe und Zuneigung von Bezugspersonen und damit von lebenswichtiger Sicherheit zu signalisieren.

Gleichzeitig bringt die “Unausgereiftheit” des menschlichen Körpers und Geistes flexible Möglichkeiten zur Entwicklung mit sich. Das macht selbstbestimmt, kann aber auch auf verschiedenste Weise misslingen und daher ängstigen.

 

2) Angst als gesellschaftlich-regulierende Funktion

Angst spielt aber auch eine Rolle im sozialen Gefüge des Menschen. So trägt Angst zur internen Steuerung des Verhaltens innerhalb der Gemeinschaft bei.

Nach Sigmund Freud gleicht sie einem inneren Wächter für Selbstkontrolle, damit die Regeln der Gesellschaft nicht verletzt werden und das Zusammenleben reibungslos funktioniert.

Aus der Offenheit der individuellen Handlungsfreiheit und den Anforderungen der Gemeinschaft können sich Widersprüche ergeben, die innere Konflikte auslösen. Tatsächlich sind Konflikte zwischen Individuum und sozialer Norm der häufigste Auslöser für Sozialphobien.

 

3) Vorstellungskraft & Zukunftsorientierung des Menschen

Die Angstbereitschaft des Menschen erhöht sich zusätzlich durch seine Vorstellungskraft. Die Vorwegnahme der Zukunft erlaubt es ihm, mögliche Bedrohungen – wie Krankheiten, Verluste, Trennungen, Notlagen oder Kriege – in Gedanken zu antizipieren.

Dadurch wird die Sorge um das eigene Dasein zu einer grundlegenden Struktur des Lebens (vgl. Heidegger). Das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit und Vergänglichkeit ruft notwendig Angst hervor.

 

4) Menschliche Willens- und Handlungsfreiheit

Schlussendlich ist Angst der Preis für die Offenheit des “nicht festgelegten Tieres” (Nietzsche) und somit für unsere menschliche Freiheit. Anstelle von Instinkten nutzt der Mensch die Kultur als Orientierungshilfe (vgl. Gehlen).

Die Tatsache, dass das Dasein für den Menschen nicht lediglich vordefiniert ist, sondern ihm auferlegt wurde, bringt gleichzeitig eine höhere, nämlich existenzielle Gefährdung mit sich.

Über die grundlegende Absicherung der Existenz hinaus, verwandelt sich das Leben für uns in ein Wagnis der Freiheit.

 
Mut hat, wer aus der Angst im Erfühlen des Möglichen zugreift in dem Wissen: Nur wer Unmögliches will, kann das Mögliche erreichen.

Der Mensch wird heute nicht geprägt, indem er sich zu eigen macht, was ihm aus der Tradition seiner Welt entgegenkommt.

Er ist in einem neuen Sinne auf sich als Einzelnen gestellt: Er muss sich selbst helfen – frei in der Leere des Nichts.
— Karl Jaspers
 

Fazit: Homo Timore

Angst ist eine grundlegende Erfahrung des Menschen, die sich sowohl im Körper, in gesellschaftlichen Kontexten und letztendlich auch in existenziellen Bereichen zeigt.

Aus Sicht der Anthropologie sind wir grundsätzlich angstanfällig und zwar wegen unserer…

  • biologischen “Unangepasstheit” an die Natur

  • Abhängigkeitsverhältnisse zur Gemeinschaft

  • Imaginationskraft

  • Willens- und Handlungsfreiheit

 

Bemerkenswert ist vor allem: Die Angst macht deutlich, dass die Selbstständigkeit des Einzelnen keine isolierte Autonomie bedeutet, sondern stets als Unabhängigkeit in Beziehung zum Du, also zur Gemeinschaft zu denken ist.

 

Quellen

(1) T. Fuchs und S. Micali: Die Enge des Lebens. Zur Phänomenologie und Typologie der Angst. In: Angst. Schriftenreihe der DGAP, Bd. 6, Verlag Karl Alber, 2017
(2) C. Demmerling und H. Ladweer: Angst. In: Philosophie der Gefühle. Metzler, 2007
(3) Metzler Lexikon der Philosophie: Angst. Metzler, 2008
(4) T. Fuchs: Anthropologische und phänomenologische Aspekte psychischer Erkrankungen. In: H.-J. Möller, R. Laux (Hrsg.): Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, S. 1-15. Berlin, Heidelberg: Springer, 2016

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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