Melancholie (Philosophie) – Bedeutung & Sinn der Schwermut
Die Melancholie begleitet den Menschen bereits seit biblischen Zeiten. Doch obwohl sich so viele große Geister den Kopf darüber zerbrochen haben, gibt es bis heute keine feste Definition. Ist die Melancholie eine menschliche Grundbefindlichkeit? Oder doch nur eine Modeerscheinung? Und wo liegen die Unterschiede zur Depression?
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
Das Gemälde „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer (Los Caprichos)“ von Francisco Goya gilt als eines der berühmtesten Bilder der Welt.
Inhaltsverzeichnis: Melancholie
Was ist Melancholie?
Das Wort Melancholie wird in der Alltagssprache, der Philosophie und den Wissenschaften unterschiedlich verwendet. Im Grunde reicht das Spektrum an Bedeutungen von tiefster Verzweiflung und Schwermütigkeit über die seelische Krankheit Depression bis hin zur genialen Reflexionsfähigkeit und Tiefsinnigkeit.
In allen Begriffsvarianten und Bedeutungen, die mit der Melancholie verknüpft sind, spielt die Traurigkeit eine wesentliche Rolle.
Melancholie als Lebensgefühl
Insbesondere Künstler inszenieren sich seit jeher über die wehmütige Lebensfreude, die kreative Höchstleistungen erst möglich machen soll.
Aus dem wehmütigen Weltschmerz entfalte sich so eine erstaunlich kreative Energie, an der die Betrachter, Zuhörer etc. teilnehmen können.
Vgl. auch Genie & Wahnsinn – Depressionen bei Schriftstellern
Bedeutungen der Melancholie
In unserer Vorstellung der Melancholie vermischen sich mehrere Interpretationslinien:
hauptsächlich eine ärztlich-physiologische Sicht auf die Krankheit (Melancholie als Krisenzustand bei Hippokrates, als Persönlichkeitskonstitution bei Galen)
und eine philosophisch-romantische Perspektive, welche die Melancholie als Basis für kreative und intellektuelle Höchstleistungen (Theophrast, Aristoteles) ansah.
3 Facetten von Melancholie
Diese Doppeldeutigkeit setzt sich bis in unsere Zeit fort und differenziert sich sogar weiter aus, denn mittlerweile steht die Depression für die krankhafte Form der Melancholie.
Ullmaier (3) bringt in seinem Essay 3 Bedeutungen der Melancholie auf den Punkt:
fest definierte Krankheit (Depression), teilweise auch im Sinne von Hypochondrie oder Überempfindlichkeit als Mode-Erscheinung; in jedem Fall ein geistiges Irre-sein (wie auch Mania oder Phrenitis).
Merkmal des Genies, Voraussetzung genialer Produktivität, besondere Empfänglichkeit gegenüber existenziellen Aspekten des Daseins.
vorübergehende Stimmung als menschliches Grundgefühl, das zu ertragen und zu vermeiden (im Sinne von Nr. 1) oder zu genießen und zu fördern (im Sinne von Nr. 2) ist.
Melancholie ist keine Depression
Die Melancholie ist eine Grundstimmung. Melancholiker sind sich der Schönheit und Vergänglichkeit des Lebens bewusst. (vgl. auch Was ist Schönheit?) Sie genießen die Einzigartigkeit bestimmter Momente, trauern aber auch um deren Flüchtigkeit. Sie denken mit Nostalgie an vergangene Zeiten zurück und schwelgen bisweilen in wehmütigen Erinnerungen.
Melancholie ist eine menschliche Grundkonstante, die genauso wie Freude, Trauer, Wut, Liebe oder Begeisterung zur menschlichen Natur gehört.
Jeder empfindet sie unterschiedlich stark. Insbesondere “hochsensible Menschen” neigen (nach eigener Aussage) dazu, tiefsinnig und nachdenklich zu sein und Dinge besonders intensiv zu fühlen.
Sinn von Wehmut & Melancholie
Der Sinn der Melancholie liegt möglichlerweise in der tiefen Empfindsamkeit, die sie in uns hervorruft. Die Psychologie denkt sich ihre Entstehung aus der Evolution der Empathie: die Fähigkeit zur Empathie & zum Mitgefühl hätten den Fortbestand unserer Art gesichert.
Denn Empathie ist für uns Menschen von unschätzbarem Wert. Im Gegensatz zu den meisten anderen Säugetieren kommen Menschen noch relativ unfertig zur Welt (physiologische Frühgeburt) und sind auf die Fürsorge anderer angewiesen. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und ihre Bedürfnisse zu verstehen, ist daher entscheidend für unser Überleben.
Die Melancholie soll eine Steigerung dessen sein. Sie ermöglicht es uns, noch tiefer in die Empfindsamkeit einzutauchen und unsere empathischen Fähigkeiten weiter auszubauen. In Momenten der Traurigkeit öffnen wir uns für unsere eigenen Gefühle und auch für die Gefühle anderer. Wir werden sensibler und können dadurch besser auf unsere Mitmenschen eingehen.
Etymologie der Melancholie
Das Wort Melancholie stammt von den griechischen Begriffen melas = schwarz und cholē = Galle. Melancholie bedeutet wörtlich übersetzt „Schwarzgalligkeit“. Hintergrund für diese Bezeichnung war die antike Humoralpathologie.
Die altertümliche griechische Medizin ging davon aus, dass Krankheiten auf einem Ungleichgewicht der 4 Körpersäfte des Menschen (Blut, schwarze und gelbe Galle, Schleim) beruhen. Im Falle der Melancholie lag ein Überschuss an schwarzer Galle im Körper vor, der zu melancholischen Stimmungen führen sollte.
Geschichte der Melancholie
Die Melancholie hat ihre ideengeschichtlichen Wurzeln zwar im antiken Griechenland, doch auch in früheren Zeugnissen werden melancholische / depressive Phänomene beschrieben. So zum Beispiel im altägyptischen Schriftstück (ca. 1850 v. Chr.) „Gespräche eines Lebensmüden mit seiner Seele“ (4).
Die Aufwertung der Melancholie in der Antike
Interessant ist vor allem, dass die Melancholie bereits in den antiken Tragödien des Eurpidides als Helden-Krankheit inszeniert wurde. Zum Beispiel im “Heracles”, “Ajax”, “Bellerophon”. Letztlich ist es u.a. Aristoteles, der den Wahnsinn bzw. die Melancholie aufwertet, wenn er sie als Wesensmerkmal großer Denker begreift.
Die Melancholie als Sünde im Mittelalter
Im Mittelalter wird die Melancholie in ihrer pathologischen Funktion zur Mönchskrankheit „Acedia“ und zur Kardinalsünde erklärt. Dank dem religiösen Setting ging es hier nicht mehr um eine Krankheit, die geheilt werden musste, sondern um eine moralische Gefahr für die gesamte Christenheit, die es zu verhindern galt. Hier steht die “Melancholie” allerdings in einem anderen Kontext: Sie wird eher als Schlaffheit, Trübsinn, Überdruss und Trägheit verstanden, nicht als geniale Schaffenskraft.
Melancholie in der Renaissance als Merkmal des Genies
In der Epoche der Renaissance (vgl. Marsilio Ficino) kommt es unter dem Einfluss des Neuplatonismus schließlich wieder zu einer Verbindung von Genie und Wahnsinn, wie sie unsere Vorstellung noch heute prägt.
Die Melancholie bekommt quasi einen neuen Anstrich und wird zur genialen Melancholie. Diese Doppeldeutigkeit (in Form von Wahnsinn und Genie) vermischt sich mit den modernen Diskursen über Depressionen und Schwermut.
Vgl. auch: Geschichte der Depression in Antike, Mittelalter und Neuzeit
Vorsicht vor Anachronismen!
Vormoderne Konzepte der Melancholie dürfen nicht so ohne weiteres mit unserem heutigen Verständnis von Depressionen oder Melancholie gleichgesetzt werden.
Das wäre zu naiv.
Denn dafür ist die Beziehung zwischen den früheren und heutigen Phänomenen viel zu lose und vage.
Die Melancholie in der Antike ähnelt eher dem, was heute als manisch-depressiv (bipolar), hysterisch oder psychotisch bezeichnet wird. In der Renaissance erhält sie eine starke Akzentuierung im Sinne des (göttlich) begnadeten Genies.
Freuds Melancholie-Theorie
Laut Freud ist Melancholie (die heutige Depression) ein Gefühl von intensiver Traurigkeit, Schuld und Wertlosigkeit. Hinzu kommen Tendenzen zur Selbstbestrafung und einem Verlust des Interesses an ehemals angenehmen Aktivitäten (Anhedonie).
In „Trauer und Melancholie“ (1917) grenzt Freud die Depression von der „normalen“ Trauer ab:
„Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tiefe schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung der Strafe steigert.“
Melancholie als Frauenkrankheit
Freud glaubte, dass die Depression durch einen tief verwurzelten Konflikt zwischen dem Ich und dem Über-Ich verursacht werde. Außerdem galt die Depression zu Freuds Zeiten als psychosomatische Störung, die fast ausschließlich unter Frauen auftrat (vgl. auch Depression: Symptome bei Frauen)
Unterschiede: Melancholie heute & Depression
Laut der modernen Psychologie ist die Melancholie als ein natürlicher und vorübergehender Gemütszustand anzusehen, der von Traurigkeit, Einsamkeit und Nachdenklichkeit geprägt ist.
Der Unterschied zur Depression besteht in der Ausprägung und der Dauer:
Eine Melancholie beeinträchtigt nicht das ganze Leben eines Menschen, sondern vergeht relativ rasch wieder.
Anders als die Depression: Sie umfängt alles, sie kann lange Zeit verharren und sie beeinträchtigt alle Lebensbereiche.
Melancholie
Gemütszustand, Stimmungstief, depressive Verstimmung
weniger schwerwiegend
Auslöser ist meist ein spezifisches Ereignis (Trennung, Verlust)
kürzer in der Dauer
“Symptome”
Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit,
Verlust des Interesses an Aktivitäten,
Veränderungen im Appetit oder Schlafmuster
und Schwierigkeiten beim Konzentrieren
Symptome der Depression
ernsthafte psychische Erkrankung, depressive Störung
schwerwiegend – können die Fähigkeit einer Person beeinträchtigen
Wochen, Monate oder Jahre anhaltend
Symptome
anhaltende Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit,
Anhedonie (Interessenverlust)
Appetit- und Schlafstörungen
starke Erschöpfung, Schwierigkeiten beim Konzentrieren
Selbstmordgedanken oder Selbstverletzung
Melancholie im ICD-11 (2022)
– Depressionen mit somatischem Syndrom
Melancholie ist zwar keine Krankheit, hat aber im neuen ICD-11 der WHO Einzug gehalten (Diagnoseschlüssel: 6A80.3). Die melancholische Depression bezeichnet eine schwere Ausprägung der depressiven Störung, die sich durch Gefühllosigkeit, Anhedonie und körperliche Symptome auszeichnet.
Funktion der Melancholie
Aus anthropologischer Sicht haben Gefühle meist bestimmte Funktionen bzw. Bedeutsamkeiten, die für den menschlichen Weltbezug essentiell sind.
Da die Melancholie zu den Traurigkeitsgefühlen zählt (1), wird ihr ein besonderes Erkenntnispotential zugesprochen und auf eine Hypothese zurückgeführt, die traurigen oder depressiven Menschen einen stärkeren Realitätssinn attestiert: den sogenannten depressiven Realismus.
Wie hier ausgeführt, fußt das gesamte Konzept allerdings auf irrtümlichen Interpretationen. Tatsächlich mag ein melancholischer Zustand eher von einer demütigen und bescheidenen Haltung geprägt sein.
Doch auch wenn die Gefahr der Selbstüberschätzung in dieser Stimmung geringer ist, bedeutet das nicht, dass Melancholiker einen direkteren oder klareren Zugang zu einer (wie auch immer vorgestellten) absoluten Wirklichkeit hätten.
Wollen wir die Melancholie als Stimmung (also eine Form von Grundgefühlen, wie Traurigkeit) auffassen, wäre die Analogie: Traurigkeit steht mit Verlust und Versagen in Zusammenhang. Ist die Melancholie eine Stimmung, also eine allgemeinere Form dieses Gefühls, dann kann auch sie unseren Sinn für das individuell Wertvolle schärfen.
Vgl. auch Trauer & Depression – Symptome, Bedeutung & Unterschiede
Fazit: Melancholie
In moderner Zeit wird Melancholie oft mit einer Art kreativer Schwermut gleichgesetzt (als Form der depressiven Verstimmung).
Für krankhafte Ausprägungen wird hingegen der Begriff Depression gebraucht. Bis heute ist diese Unterscheidung (“normale” Melancholie vs. pathologische Depression) allerdings umstritten und schon gar nicht trennscharf – vielmehr scheint es sich um eine naive Aneignung historischer Konzepte von unterschiedlichen Phänomenen zu handeln.
Das liegt in der Natur der Sache.
Wir sprechen hier von menschlichen Grundlagen, Selbst- und Weltverhältnissen sowie Erfahrungs- und Bewusstseinsdimensionen. Das alles sind existenzielle Bereiche, die nicht direkt greifbar oder einsehbar sind.
Die neu entflammte Diskussion um die Melancholie erscheint mir wie eine Neuauflage der Philosophie der Romantik, in welcher die produktive Schwermut & kreative Begabung des Genies bewusst inszeniert und zum Topos erhoben wurde.
Zumindest aus meiner persönlichen, subjektiven Erfahrung kann ich sagen, dass mich die Depression nicht zu einer kreativen Stimmung antreibt, sondern meine Kreativität hemmt. In meinem Selbsterleben ähnelt die Melancholie nur äußerst oberflächlich dem bodenlosen Seelentief, das mich in der Depression ereilt.
Ich halte die Melancholie (wohlgemerkt: nicht die Krankheit Depression!) ebenfalls für eine menschliche Stimmung, die kreative Räume in der Selbstreflexion eröffnen kann.
Dass sie derzeit wieder (im Vergleich zur Depression) idealisiert und romantisiert wird, hat viel mit den Melancholie-Diskursen früherer Zeiten zu tun.
Ein Potenzial zur Selbstentfaltung und Reflexion haben alle anderen Gefühle auch, wie zum Beispiel: Nostalgie, Leidenschaftlichkeit, Freude, Verliebtheit, Angst oder Traurigkeit.
Quellen:
1) Handbuch Philosophie der Gefühle: Melancholie
2) Metzler Lexikon der Phliosophie: Melancholie
3) Johannes Ullmaier: Melancholie als unvermittelbares Leid
4) Ingeborg Müller: Hieratischer Papyrus – Weltliteratur
5) Sybille Krämer: Melancholie – Skizze zur epistemologischen Deutung eines Topos. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 49, 1994
6) Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: ICD-11 Entwurfsfassung