Seelische Krankheit – Seelisches Leiden in der Philosophie
Allgemein wird eine seelische Krankheit (alias psychische Störung) von einer körperlichen Erkrankung unterschieden. Tatsächlich zeigen sich seelische Leiden allerdings auf mehreren Ebenen, die allesamt das Leben des Menschen erheblich beschweren. Philosophisch gesehen, handelt es sich bei mentalen Zuständen (Gefühle, Gedanken, Wahrnehmung) um weit mehr als psychische Phänomene.
Seelische Störungen & ihre Ursachen
Nach der Philosophie gibt es keine rein psychischen Störungen, die sich ausschließlich auf den menschlichen Geist erstrecken. Vielmehr geht es um ein ganzheitliches Krankheitsgeschehen, das Körper & Kognition gleichermaßen beeinflusst.
Seelische Krankheit oder psychische Störung?
Im Grunde bewegt sich die Psychiatrie und Psychopathologie schon seit ihren Anfängen (19. Jahrhundert) in den Gefilden der Philosophie. Andererseits zeigt sich in den Medizinwissenschaften wie in kaum einer anderen Disziplin der allgemeine Körper-Geist-Dualismus nach Descartes.
Mit dem Siegeszug der Neurowissenschaften werden nun auch „psychische Störungen“ weitgehend biologisch erklärt. Nämlich durch abweichende Aktivitäten im Gehirn, die mit dem subjektiven, persönlichen Erleben eines Menschen gleichgesetzt werden.
Vgl. auch: Philosophie der Psychiatrie
Wenn wir ehrlich sind, dann handelt es sich hierbei um eine Replik auf einen Leitsatz des letzten Jahrhunderts: „Psychische Krankheiten sind Gehirnkrankheiten“ (Wilhelm Griesinger 1817–1868). Das zeigen insbesondere neuere Schlagwörter, wie zum Beispiel das Konzept der Neurodiversität oder die längst widerlegte Serotonin-Hypothese bei Depressionen.
Doch wie zulässig ist eine derartige Reduktion von menschlichem (Er-)Leben auf Materie?
Gefühle, Fantasie, Vorstellungen, Begierden und Gedanken sind nicht greifbar. Sie lassen sich auch nicht durch molekulare und neuronale Prozesse hinlänglich erklären.
Denn naturwissenschaftliche Methoden nehmen den Menschen nur von außen wahr, der subjektive Erlebnisgehalt wird ausgeklammert.
Doch eine Seelische Krankheit, wie die Depression oder Angststörung, beschränkt sich nicht nur auf die Psyche. Genauso wenig, wie eine körperliche Krankheit nur das leibliche Wohlbefinden einschränkt.
Als Verlegenheitslösung hat sich daher das Fachgebiet der Psychosomatik etabliert, welches sich mit den Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist beschäftigt.
Philosophisch verstanden ist es jedoch fraglich, ob es sich um eine Wechselwirkung handelt, die zwischen 2 ontologisch unabhängigen Substanzen stattfindet, oder nicht doch eher um eine gestörte Einheit, die sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren kann.
Bedeutung des Begriffes Seele
Die Einheitlichkeit des Menschen wird meist im Begriff der Seele ausgedrückt.
Die Idee der Seele findet sich nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Religionswissenschaft, sowie Psychologie und Medizin.
So unterschiedlich die Seele auch aufgefasst wird, in allen Disziplinen haftet ihr etwas Flüchtiges, Fluides und Unsichtbares an, welches für wesenhafte Einheit oder Ganzheitlichkeit verantwortlich ist.
In vielen alten und modernen Sprachen (griech. psyche, lat. anima, indisch atman) gehört der Begriff Seele zum Wortfeld „Wind, Hauch, Atem“ – was auf die Lebensbewegung (Atmen) des lebendigen Körpers hinweist, aber auch auf die Vorstellung von etwas nicht Greifbarem und Flüchtigem.
In der traditionellen Philosophie ist die Seele das formgebende Prinzip des Lebens, aber auch ein Überbegriff für kognitive Vorgänge. Zum Beispiel: Akte des Denkens, Erinnerns, Wahrnehmens, Fühlens, Wollens – des Selbst an sich.
Das Leib-Seele-Problem (Körper-Geist-Dualismus)
Das Seelen-Konzept der Neuzeit ist wesentlich vom sogenannten Leib-Seele-Problem geprägt, das sich in Folge von Descartes Werken auftat.
Descartes betrachtet die geistige (res cogitans) und die materielle Substanz (res extensa) als getrennt (jedenfalls wurde er so interpretiert) – was die Frage aufwarf, wie Seele und Körper sich dann überhaupt beeinflussen können.
In der heutigen Zeit findet der Begriff Seele kaum mehr Anwendung in den Wissenschaften. Ganz einfach, weil er so viele metaphysische Konnotationen mit sich bringt (vgl. die mystischen Seelen-Konzepte der Esoterik).
Stattdessen beschränken sich Wissenschaften, wie die Psychologie, auf Beschreibungen und Erklärungen von menschlichen Akten des Denkens, Fühlens, Vorstellens und des Verhaltens.
Die große Frage nach der Seele, dem Ich, dem Selbst oder der Identität müssen dabei notwendigerweise offen bleiben. Auch das Verhältnis zwischen geistigen und neurophysischen Vorgängen bleibt ein Rätsel.
Der Philosoph Karl Jaspers bezeichnete diese Vorstellung als „Hirnmythologien“. Denn was krankhaft oder gesund ist, lässt sich allein am Zustand eines Gehirnes nicht ablesen.
Seit dem 20. Jahrhundert gibt es jedoch in Philosophie, Psychologie und Anthropologie eine phänomenologische Bewegung (Husserl, Merleau-Ponty etc.), die sich wieder um ein einheitliches Verständnis bemüht: Die wesensstiftende Eigenart der Seele erscheint hier im Konzept des gelebten Leibes.
Mehr erfahren » Leib & Leiblichkeit – Körper haben, Leib sein
Das Kausalitätsproblem (Ursache-Wirkung)
Schwierig ist auch die Bezeichnung „Ursache“ bei seelischen Krankheiten. Die Bedingungsstrukturen von psychischen Störungen sind so komplex, unüberschaubar und vielfältig, dass sich sich nicht mit einem simplen Ursache-Wirkungsprinzip erfassen lassen.
Wenn ich panisch bin, zeigen sich im Gehirnscan wahrscheinlich erhöhte Gehirnaktivitäten in bestimmten Arealen. Diese Korrelation ist aber keine Kausalität.
Meine Panik ist auch nicht identisch mit dieser Gehirnaktivität. Denn dieser Zustand umfasst weit mehr als einen lokalen Prozess im Gehirn. Panik zeigt sich in der Verfassung des gesamten Organismus & in der Interaktion mit der Umwelt.
Subjektivität & Selbsterleben bei seelischer Krankheit
Subjektives Erleben ist nicht reduzierbar. Das Selbsterleben bildet aus philosophisch-phänomenologischer Sicht sogar die Haupt-Dimension seelischer Krankheit.
Schließlich macht es einen Unterschied, ob ich sage: „Ich fühle mich leer und traurig“ oder „Tamara fühlt sich leer und traurig“, (vgl. Hermann Schmitz: neue Phänomenologie).
Während im ersten Satz ein Erlebnisgehalt zum Ausdruck gebracht wird, der uns unmittelbar affiziert und das Gesagte in seinem emotionalen und kognitiven Gehalt entfaltet, schafft der zweite Satz eine Distanz, in welchem der Bedeutungsgehalt verkümmert und einer sachlichen Analyse weicht.
Das „Ich“ der 1.-Person (Erlebnisperspektive) ist nicht einfach durch ein „Sie/Er“ in der 3.-Person (Beobachterperspektive) zu übersetzen.
Eine seelische Krankheit umfasst im Kern stets das Selbstverhältnis einer Person zu sich und der Umwelt. Vielsagend ist in diesem Zusammenhang, dass psychische Krankheiten im 19. Jahrhundert noch als Alienation bezeichnet wurden, ein Sich-selbst-und-anderen-Fremdwerden (1).
Und wirklich ist gerade die Selbstentfremdung in einer seelischen Krankheit, die Betroffene so fundamental, brutal und beängstigend quält.
Der Psychiater Wolfgang Blankenburg prägte hierfür die pointierte Formulierung: „Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit“.
Gemeint ist damit, das plötzliche Herausfallen aus dem gewohnten, natürlichen Lebensvollzugs.
Nichts ist mehr so, wie es war und sein soll. Stattdessen ist die erlebte Wirklichkeit fraglich, von tiefschürfenden Zweifeln belastet und alles andere als gesichert.
Um dieses Selbstverhältnis wieder zu seiner natürlichen Selbstverständlichkeit zurückzuführen, braucht es ein echtes Verständnis dafür, was in einer seelischen Krankheit mit einem Menschen passiert, anstatt oberflächliche Symptombekämpfung.
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Quellen:
1) Thomas Fuchs: Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und ihre Anwendung. In: Die Psychiatrie 4/2010; 7: 235–241 © Schattauer GmbH
2) Hermann Schmitz: Neue Phänomenologie
3) Tobias Skuban-Eiseler: Alles noch normal? Im Graubereich zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Erkrankung
4) Metzler Lexikon der Philosophie
5) De Gruyter: Altgriechisch Lexikon