Kind Gottes, Kind der Natur – Die theistische Evolution und die Entstehung des Menschen
Widerspricht der Schöpfungsglaube der Evolutionstheorie? Aus katholischer Sicht lässt sich eindeutig sagen: Nein. Die Kirche bietet mit der „theistischen Evolution“ ein Konvergenzmodell an, das seine Anfänge in der Metaphysik Thomas von Aquins hat und eine wichtige Stütze im Denken Pierre Teilhard de Chardins findet.
Die beiden Schöpfungsberichte der Genesis
Das erste Kapitel des biblischen Buchs Genesis kennt auch derjenige, der nicht zu den regelmäßigen Kirchgängern zählt. Der Schöpfungsbericht kann zu den großen Erzählungen unseres Kulturkreises gerechnet werden. Hier geschieht die Erschaffung des Menschen als getreues Abbild Gottes.
Es gibt noch eine zweite, weniger bekannte Schöpfungserzählung im zweiten Kapitel der Genesis. Darin wird geschildert, wie Gott der Erde Lehm entnimmt und den Menschen daraus formt. Als ein aus der Natur stammendem Wesen ist in diesem Menschen wenig übrig vom Ebenbild. Oft sind diese beiden Sichtweisen gegeneinander ausgespielt worden.
Hier das Kind Gottes, mit voller Würde und erhobenem Geist, dort das Kind der Erde, schon der schmutzigen Metaphorik nach mit Ungemach behaftet. Einmal ist der Mensch Kind Gottes, ein anderes mal Kind der Erde.
Statt das eine Kind gegen das andere auszuspielen, wie es das frühe Christentum und die Patristik (namentlich Augustinus) mit ihrer Naturskepsis taten (für Augustinus war alles Natürliche verdorben, woraus noch der Pietismus seine Überbetonung der Gnade gegenüber der Natur ableiten sollte), kann man auch die Erzählungen zusammen bedenken, wie das in der mittelalterlichen Scholastik (namentlich bei Thomas von Aquin) geschah.
Für diesen Versuch des Zusammendenkens von Schöpfung und Naturprozess hat sich der Begriff „theistische Evolution“ eingebürgert.
Theistische Evolution
Die Idee der theistischen Evolution ist folgende: Die Natur erscheint uns als zweckhaft organisiertes Ganzes, dessen Prozesse eine teleologische Struktur aufweisen, die sich durch eine genauere Betrachtung aber nicht entschlüsseln lässt.
Die Welt erscheint uns also einerseits zutiefst sinnvoll, anderseits erfahren wir von diesem Sinn nichts durch die Naturwissenschaft, die uns aber für die Beschreibung und Erklärung der Prozesse selbst durchaus befriedigende Theorien bereitstellt.
Daraus folgt, dass wir entweder einer Täuschung unterliegen und uns die Zwecke in der Natur und den Sinn der Welt nur einbilden (dann nämlich, wenn die Naturwissenschaft schon alles erklärte und jede weitere Frage unsinnig wäre), oder aber, dass es Zwecke und Sinn tatsächlich gibt, sie jedoch außerhalb der Natur gesucht werden müssen.
Über die Gültigkeit der beiden metaphysischen Weltanschauungen wird heftig gestritten und es kommt zu Missverständnissen und Verirrungen, denen die Vorstellung einer theistischen Evolution entgeht. Sie beinhaltet nämlich, dass die Evidenz des Telos’, den wir bei alltäglichen Natur- und Weltbeschreibungen unweigerlich eingestehen (Wir sagen etwa: „Vögel bauen Nester, um darin ihre Eier abzulegen und ihre Jungen groß zu ziehen“), die Existenz einer nicht-natürlichen, absichtsvollen und geistigen Ursache nahe legt, von der die Zwecke und der Sinn stammen.
Eine Ausprägung dieser Ursache ist der christliche Gott. Gott wird als Ursache seiner selbst (causa sui) zur Ursache der Potentialität, die der Natur eingeschrieben ist. Gott legt gleichsam seine Kunst in die Natur hinein, so lautet die von Thomas von Aquin entwickelte Idee, welche die theistische Evolution begründet.
Thomas spricht in seinem Kommentar zur Aristotelischen Physik von der Natur als „die den Dingen eingestiftete Vernunft (gemeint ist damit ein Potential zur Selbstentfaltung, J. B.) einer Art Kunst, nämlich der göttlichen, durch welche diese Dinge auf ein bestimmtes Ziel hingeordnet werden“.
Es ist die der Natur eingestiftete Konsistenz, die uns als Sinn aufscheint, die jedoch in der Naturkausalität selbst nicht aufweisbar ist. Die theistische Evolution nach Thomas von Aquin hebt also den Widerspruch von einerseits nicht-zweckhafter, mechanistischer Naturkausalität, die nicht zu unserer Erfahrung passt, und andererseits einem als zweckhaft und sinnhaltig erfahrenen Weltganzen, das von der Naturwissenschaft nicht eingefangen werden kann, mit metaphysischen Gründen und eingedenk der theologisch einschlägigen Offenbarung auf und überführt die vermeintliche Konfrontation der Weltdeutungen in eine Konvergenz von Schöpfungsvorstellung und Evolutionstheorie.
Gott wird dabei als transzendente Ursache des Lebendigen begriffen, nicht als dessen immanenter Anfang. Gott wird damit zum Urgrund des Menschen.
Reflexion und Mutation: Menschwerdung nach Teilhard de Chardin
Der Jesuit Pierre Teilhard de Chardin bringt Thomas’ Gedanken der theistischen Evolution auf den Punkt: „Gott macht, daß sich die Dinge selber machen“. Die Evolution des Menschen ist für ihn ein beständiger „Fortschritt geistiger Bewusstheit“.
Doch ab wann (ab welchem Grad „geistiger Bewusstheit“) können wir von „Menschen“ sprechen? Diese Frage stellt sich Teilhard de Chardin und versucht, sie in dem 1956 erschienenen Buch La Place de l’Homme dans la Nature (deutsch: „Die Entstehung des Menschen“) zu beantworten, nachdem er bereits in seinem Hauptwerk Le Phénomène Humain (1955), das in der deutschen Übersetzung den Titel „Der Mensch im Kosmos“ trägt, für diese Antwort eine anthropologische Grundlage gelegt hatte.
Teilhard beschreibt die Entstehung des Menschen als Schritt in die Reflexion. Der Schlüssel ist dabei die Gemeinschaftsbildung, in dem „das letzte und zweifellos höchste Streben der Natur nach Komplexität zum Ausdruck kommt“.
Doch: Wann betritt der Mensch das Land des Denkens?
Die Menschwerdung entpuppt sich als ambivalent: Einerseits geschieht die Entstehung der Spezies „Mensch“ wie bei anderen Spezies auch, anderseits stellen wir beim Menschen „von Anfang an gewisse Eigenschaften fest, die eine höhere Stufe von Lebendigkeit erkennen lassen, als wir sie bei den anderen Arten antreffen“. Mit dieser widersprüchlichen Genese des Menschen befasst sich Teihards Theorie.
Teilhard behauptet einerseits, die Entstehung des Menschen sei „eine Mutation, die in ihren äußeren Merkmalen allen anderen Mutationen gleich ist“.
Andererseits unterscheide sie sich, so Teilhard, in ihren Ergebnissen von allen anderen Mutationen. „Wir sehen uns“, schreibt er, „der überraschenden zoologischen Tatsache gegenüber, daß sich auf der Erde vom Ende des Tertiärs ab das entscheidende Streben der Evolution offensichtlich auf den Menschen konzentriert.“ Teilhard benutzt einen telelogisch aufgeladenen Evolutionsbegriff („Streben“), weil er erkannt hat, dass „alles darauf hindeutet, daß das Leben seit dem Pliozän die besten Kräfte, die ihm noch verblieben, ganz auf den Menschen ansetzte, wie ein Baum auf seinem Gipfel?“
Teilhard führt weiterhin aus, dass „im Lauf der letzten zwei Millionen Jahre zwar sehr viele Gruppen ausgestorben sind, dagegen außer den Hominiden in der Natur keine wirklich neue Gruppe mehr zum Durchbruch gekommen ist“.
In sehr metaphorischer Sprache streicht er die menschliche Besonderheit heraus: „An sich sollte schon diese bezeichnende Tatsache unsere Aufmerksamkeit und unseren Verdacht wecken. Wie viel mehr erst eine eingehendere Untersuchung des Phänomens des Menschen. Welch schäumende Kraft, welch ein Überschwang, welche Einmaligkeit begegnen uns doch in diesem letztgeborenen Kind der Erde!“
Angesichts dieses Menschenbildes wird die Ambivalenz der Teilhardschen Theorie deutlich: Einerseits ist der Mensch einmalig und seine besonderen Fähigkeiten lassen auf den schöpferischen Eingriff Gottes schließen, andererseits ist er auch nur ein „Kind der Erde“, also der Natur.
Sein Erscheinen verdankt sich einer Mutation, aber, so Teilhard, einer „in ihrer Art einmaligen Mutation“, insofern, als „in dem Phylum, das aus dieser Mutation hervorging, fast von allem Anfang an vier Merkmale festzustellen sind, die an Stärke etwas Außergewöhnliches, an Neuartigkeit etwas ganz Einmaliges darstellen: eine außergewöhnliche Dynamik der Ausbreitung, eine einmalige Schnelligkeit der Differenzierung, eine unerwartete Dauerhaftigkeit der Fortpflanzungskraft und schließlich eine in der Geschichte des Lebens bislang unbekannte Fähigkeit des Zusammenwachsens von Zweigen innerhalb ein und derselben Gruppe“.
Woher jedoch kommt diese Einmaligkeit?
Mit dieser Frage eröffnet sich der Raum für den Schöpfungsgedanken. In der Tat: Der einmalige, besondere Eingriff einer Intelligenz scheint angesichts der einmaligen, besonderen Mutation ein nicht von vorneherein abwegiger Gedanke zu sein.
Teilhard de Chardin ermöglicht es uns, den Menschen sowohl als Ergebnis der Evolution als auch als Resultat eines schöpferischen Eingriffs zu betrachten – als Kind der Natur und als Kind Gottes.
Darwin selbst würde sich im Grabe umdrehen, wüsste er, dass auf dem Rücken seiner Evolutionstheorie ein Kampf der Weltbilder stattfindet.
Zu Recht, denn dafür gibt seine epochale Erkenntnis zur Entwicklung des Lebens aus zwei Gründen keinen Anlass – zum einen, weil sie nichts über den Ursprung des Lebens aussagt und zum anderen, weil sie den Glauben gerade dadurch stärkt, dass sie Gott methodisch aus der Naturbetrachtung ausklammert und damit einer engstirnigen Lokalisation Gottes entgegensteht, und damit die Unendlichkeit und Allgegenwart Gottes als des „Ganz Anderen“ (Rudolf Otto) unterstreicht, die im Christentum grundlegend ist.
Sowohl die schöpfungstheologischen Vorstellungen Teilhard de Chardins als auch Thomas von Aquins teleologischer Gottesbeweis sind auf den Gedanken einer gottlosen Natur angewiesen.
Auch wenn also einige Interpreten Charles Darwins Evolutionstheorie für weltanschaulich umwerfend halten:
Wer wegen Darwin Atheist wird, hat nicht verstanden, an was er nicht glaubt.