Die therapeutische Beziehung aus dem Blickwinkel von Levinas und Co.
Von Dr. Michael Mehrgardt (1):
Therapeutische Abstinenz
… wird von manchen Patientinnen und Patienten als Zurückweisung und emotionale Distanzierung empfunden. Wollen, sollen oder müssen wir uns von Fachfremden vormachen lassen, wie wir die therapeutische Beziehung zu gestalten haben? Müssen wir uns gar vorwerfen lassen, unser Gegenüber mittels evidenzbasierter Diagnostik und Methodik zu einem seelenlosen Werkstück zu degradieren?
Die Kontrastierung der heutigen Psychotherapie mit den Ansichten einiger französischer Poststrukturalisten kann uns weiterhelfen.
Wo eine Diagnose ist, ist kein Gespräch.
Wo kein Gespräch ist, ist keine Begegnung.
Wo keine Begegnung ist, ist keine Heilung.
Unzufriedenheit mit Psychotherapie
Vor einiger Zeit war in der Tagespresse zu lesen, dass laut Arztreport 2020 der Barmer Ersatzkasse jeder dritte Patient mit seiner Psychotherapie unzufrieden ist (2).
Reicht es, wie eine Psychotherapieforscherin anmahnt, wirklich aus, den Ball an den Patienten mit dem Hinweis zurückzuspielen, seine Therapie-Erwartungen seien unrealistisch hoch?
Ist bessere Aufklärung seitens der Psychotherapeutin, wie gefordert, die Lösung?
Ein derartiger Befund sollte vielmehr Anlass sein, das eigene therapeutische Handeln sowie die ihm zugrunde liegenden Prämissen aus einer anderen, für manche von uns fremden - oder vergessenen? - Perspektive zu beleuchten:
Wie sehen wir denn eigentlich unseren Patienten?
Und wie uns selbst als sein Gegenüber?
Um einen klärenden Blick auf die Problematik der therapeutischen Beziehung werfen zu können, möchte ich Leserin und Leser dazu einladen, mit mir einen - zugegebenermaßen etwas beschwerlichen - Umweg zu den Denklandschaften einiger Philosophen einzuschlagen.
Am Ende dieses Weges können wir uns bei dem einleitenden Motto dieses Essays wiedertreffen. Wenn dabei der Fokus auf Zeichen, Wörter, Texte, Sprache gerichtet wird, dann stelle der Leser sogleich die Analogie zu seiner Patientin her, die sich notwendigerweise ebenfalls in Zeichen, Wörtern, Texten, Sprache - verbal, nonverbal oder durch Auslassung - offenbart.
Ferdinand de Saussure, Michel Foucault und Jacques Derrida
Von der Allgemeinen strukturalen Linguistik von Ferdinand de Saussure, (3) auf welche sich viele der poststrukturalistischen oder postmodernen Denkerinnen und Denker beziehen, möchte ich hier nur die Quintessenz betonen:
Das Zeichen als kleinstes bedeutsames Element der Sprache setzt sich, wie die beiden Seiten eines Blattes Papier, zusammen aus dem
Bezeichnenden (Signifikant)
und dem Bezeichneten (Signifikat).
Frei von jeglicher innerer oder logischer Verknüpfung miteinander, ist das Verhältnis zwischen beiden willkürlich und beliebig. Anders ausgedrückt:
Nicht die Referenzen zwischen Zeichen und realem Objekt, sondern allein die Differenzen der Zeichen zu- und voneinander generieren Bedeutung; de Saussure spricht von der Arbitrarität (= Beliebigkeit) des Zeichens.
Sprache kann demgemäß ausschließlich durch ihre konventionelle Konstitution Sinn generieren und intersubjektive Kommunikation ermöglichen.
Auf dieser Grundlage haben sich viele Autoren der Gefahr fixierter Begriffsbildungen, starrer Konzepte oder einseitig-interpretativer Textanalysen entgegengestellt.
Zum Beispiel macht Michel Foucault anhand der Geschichte des Wahnsinns (4) plausibel,
… dass die Diagnose Wahnsinn sich nicht aus ihren Symptomen, sondern allein aus ihrer Differenz zur Vernunft herleiten lässt.
Diese Differenz, nicht etwa eine vermeintliche Essenz des Wahnsinns, erzeugt die Konvention dessen, was unter Vernunft und Nicht-Vernunft oder Wahnsinn zu verstehen ist.
Foucaults Analyse zeigt weiterhin auf, dass immer einer der Pole solcher Begriffspaare als schlecht, krank oder falsch abgewertet wird und eo ipso sein Pendant zum Maßstab des Guten, Gesunden, Schönen und Normalen aufsteigt.
Ein weiterer Theoretiker, Jacques Derrida, richtet sich mit Hilfe seines Dekonstruktions-Konzeptes gegen fixierte Orthodoxien, und zwar im Bereich der Textanalyse.
Da die herrschende Sprache fähig sei, starre Gebilde vorzutäuschen und sogar Opposition zu vereinnahmen, komme ihr ein totalitärer Charakter zu.
Um diese Gefahr zu minimieren, postuliert Derrida - in Kontrastierung der klassischen hermeneutischen Diktion - drei wesentliche Aspekte der Textanalyse:
erstens die Suche nach Widersprüchen und Aporien eines Textes;
zweitens das Zulassen und Fördern vielfältiger und subjektiver Lesarten eines Textes;
drittens die Aufwertung von Sekundärtexten und Kritiken gegenüber dem Primärtext, um diesen somit zu ergänzen und zu vervollständigen. (5)
So entstünden immer neue Verweise und Spuren von Be-Deutungen, die wiederum neue Verweise und Spuren hervorbrächten. Derrida schreibt:
Der Text ist kein Zentrum. Der Text ist diese Offenheit ohne Grenzen der differentiellen Verweisung. (6)
Damit meint er, dass ein Text nicht nur die eine, richtige Auslegung oder Interpretation zulässt, welche sich exclusiv dem kompetentesten Fachmann oder der kreativsten Wissenschaftlerin offenbart, sondern vielerlei Lesarten - auch solche, die vom Autoren weder intendiert noch bedacht worden sind - bereithält. Übertragen auf Psychotherapie und Psychiatrie will dies sagen: Es gibt nicht nur die eine, die richtige Diagnose, sondern vielfältige, sich stetig wandelnde Sichtweisen auf die Patientin.
Man solle also Texte - und ebenso: seinen Patienten - so lesen, dass man ihnen möglichst wenig Gewalt antue, weder im Sinne einer Umbiegung auf eigene Konzepte noch im Sinne einer Ausrichtung auf ein Ziel, bspw. dem Text einen letztgültigen Sinn zu entnehmen. An die Stelle eines vorgeblich transzendentalen Signifikats solle die différance treten, so dass die „Lektüre“ der Welt das Ausgegrenzte wieder ans Licht bringen könne.
Erläuterung:
Anstelle einer ausführlichen Darstellung sei hier nur eine kurze Definition versucht:
Die différance (in „falscher“ Schreibweise mit a) ist jene Bewegung, durch welche sich Sprache „als Gewebe von Differenzen“ (7) stetig bildet und wandelt: Ein Wort könne keine Materialisierung seines übergeordneten Sinnes sein. Vielmehr verändere sich die Bedeutung eines Begriffs bei jedem Gebrauch. Jedes Wort werde so zur Spur, die auf die gegenwärtige, vergangene und auch zukünftige Bedeutung verweise. (8)
Das Wort "Interesse" bspw. lässt verschiedene Bedeutungen anklingen wie: Wunsch nach Mehrwissen, Anziehung, Hobby, Geld, Vorteil, Geschäftsbeteiligung, Beziehung, Gruppe von Menschen. Sachin Ketkar drückt dies so aus:
„One word leads to another word and that word leads to yet another [...] and finally we never come out of the dictionary [...] there is no final meaning.“ (9)
Also sei es eine Illusion, zu denken, wir könnten das Wort, den Text, die Patientin verstehen.
Emmanuel Levinas und die Phänomenologie der Beziehung zum Anderen
Angesichts dieses „Eigenlebens“ der Sprache müssen wir uns doch eingestehen:
Wir können nie wissen, was wir sagen (oder schreiben); nie verstehen, was wir hören (oder lesen), und dies unabhängig davon, ob wir an einer privaten Kommunikation oder an einem fachlichen Diskurs teilhaben.
Können wir also den Anderen ergründen?
Können wir wissen, was er denkt und fühlt?
Können wir die Ursachen seines Leidens erblicken?
Können wir die Partnerin verstehen, die Patientin diagnostizieren? Können wir voraussagen, wie sie reagieren wird, können wir eine Prognose abgeben?
Können wir sicher wissen, was gut für sie ist, wenn wir Ratschläge erteilen, Interventionen durchführen oder Methoden anwenden?
Machen wir unser Gegenüber - wie uns selbst - nicht zum Objekt? Nehmen wir, in Buberscher Terminologie, eine Ich-Es-Beziehung zu ihm - wie zu uns selbst - auf?
Emmanuel Levinas charakterisiert in seiner Phänomenologie der Beziehung zum Anderen das Du als verschattet, unergreifbar, absolut anders, als einen zu mir nicht nur relativ Anderen.
Der Andere ist nicht reduzierbar, nicht zurückführbar: nicht auf meinen Besitz, nicht auf meine Gedanken, nicht auf mein Sosein. Andreas Gelhard sieht in Levinas‘ Philosophie ein Denken,
[…] das sich mit nicht unbeträchtlicher Härte gegen jede Ideologie der ‚harten Wirklichkeit‘ richtet (10)
und das geprägt ist
[…] durch ein tiefes Misstrauen gegen jede Form integrativer Gewalt, die Distanzen zerstört, Unterscheidungen verwischt und den Einzelnen im ganzen aufgehen lässt. (11)
Für Levinas scheint in der Beziehung zum Anderen die Erfahrung einer Fremdheit auf, für welche die wegen der unaufhebbaren Zukünftigkeit radikale Fremdheit des Todes das Muster ist.
Denn die Tatsächlichkeit des Todes liege nicht irgendwo in der Zukunft, sondern sei ein Zustand des Noch-nicht, zu dem sich das Dasein verhalten müsse: Der Tod ist niemals jetzt (12), schreibt er.
Ebenso wie der Tod sich dem Seienden absolut entziehe, sei auch der Andere radikal unergreifbar.
Im Unterschied zu Martin Heidegger, der mit der Möglichkeit, sich verstehend zum Tode zu verhalten, eine Art Verkehrung des Fremden ins Eigene (13) vollziehe, seien laut Levinas der Tod wie auch der Andere schlechterdings unverständlich, sei unsere Beziehung zu beiden nur als Beziehung zum Geheimnis denkbar. (14)
Dennoch resultiert aus Levinas‘ Phänomenologie keine solipsistische Philosophie; die Begegnung mit dem Anderen vollzieht sich nämlich nicht per Zugriff und Aneignung; sondern nur durch Anerkenntnis seiner unergreifbaren Andersheit kann sich die sinnliche Erfahrung des Anderen, kann sich die Liebe zum Anderen ereignen:
Die Liebe […] ist ohne Grund, sie überfällt uns und verwundet uns und dennoch überlebt in ihr das Ich […]. (15)
Sie […] ist wie ein Spiel mit etwas, das sich entzieht, ein Spiel, das absolut ohne Entwurf und Plan ist, ein Spiel nicht mit dem, was das Unsrige und was zu einem Wir werden kann, sondern mit etwas anderem, etwas immer anderem, immer Unzugänglichem, immer Zu-Kommenden […]. (16)
Auf die Tatsächlichkeit dieser radikalen Fremdheit gründet schließlich Levinas‘ Ethik: Die Beziehung, von Edmund Husserl noch als eine symmetrische zwischen Ego und Alter Ego gedacht, ist nur als eine asymmetrische zu denken, in der der Andere Gott näher ist als ich. (17)
Da sich die Beziehung zum Anderen wesentlich in der Sprache vollzieht, verlangt das Wort des Anderen eine Antwort; es ist ein Anruf, der mir gilt und der in seiner Unmittelbarkeit einen Imperativ der Sprache darstellt; keine Antwort zu geben ist nicht möglich, weil auch ihr Ausbleiben eine Antwort ist.
Mit diesem unentrinnbaren Anspruch des Anderen an mich kann in Levinas‘ Augen erst eine sinnvolle Ethik beginnen. (18) Denn in der Beziehung zum Anderen sieht Levinas eine
[…] Antwort auf das Seiende, das […] nur eine persönliche Antwort zuläßt [sic]: einen ethischen Akt. (19)
Dieser bestehe aber nicht in gehorsamem Befolgen von Normen und Leitlinien, sondern er verlange eine Verbindlichkeit, die jeder Beziehung zum Anderen innewohnt und die nicht bereits vor der Begegnung als Regel feststehe. Da existenziell mit dem Anderen verknüpft, kann das Subjekt der Verantwortung und Sorge um diesen nicht ausweichen.
Vielmehr werden Freiheit und Spontaneität des Subjekts durch diesen Anspruch des Anderen infrage gestellt, weil
[…] unsere Verantwortung […] über das Beabsichtigte hinaus […] geht. (20)
Infragestellung und Beschränkung der eigenen Freiheit: Genau dies ist das Momentum der Levinas‘schen Ethik.
In einem weiteren Schritt stellt Levinas dem jeweiligen Anderen noch einen Dritten, einen anderen Anderen, bei, der ebenfalls Anspruch auf meine Antwort und Anerkennung seiner radikalen Fremdheit erhebt. Insofern ist dieser relationalen Ethik zudem die Forderung nach Gerechtigkeit immanent.
Ein kritischer Blick auf die Grundlagen der heutigen Psychotherapie
Stellen wir die Gedankengebäude von Foucault, Derrida und besonders Levinas dem Denk- und Handlungsparadigma heutiger Psychotherapie gegenüber, können wir lapidar festhalten, dass diese kaum miteinander kompatibel sind.
Philosophische Erörterungen sollen und können nicht Errungenschaften der wissenschaftlichen Psychotherapie diskreditieren; sie können und sollen aber psychotherapiefremde Perspektiven bereitstellen, die als Korrektiv dienen. Als solche fordern sie manchmal zu Besinnung und Umkehr auf.
Doch auch wer derartigen Diskursen nicht folgen kann oder mag, kann sich angeregt sehen, allzu selbst-verständliche eigene Haltungen anhand dieser Kontrastierung kritisch zu beleuchten.
Werfen wir also einen zusammenfassenden Blick auf die Unvereinbarkeiten und Kontraste:
Diagnosen
Die heute übliche diagnostisch-objektivierende Betrachtung des Patienten lässt diesen in völliger Transparenz vor seiner Therapeutin erscheinen. Allerdings stellt sich die Frage, ob in dieser Transparenz überhaupt Essenzielles zu Tage treten kann.
Der Terminus Diagnose ist abgeleitet von dem altgriechischen dia-gi-gnóskein mit der ursprünglichen Bedeutung durch und durch erkennen, beurteilen. Interessanterweise geht gleichermaßen das Wort Norm i. S. von Richtschnur, Regel, Maßstab auf das griechische gnómon (Kenner, Beurteiler) und schließlich auf gi-gnóskein (erkennen, urteilen) zurück. (21)
Das bedeutet, dass schon in der etymologischen Entfaltung des Begriffes Diagnose diese beiden Bedeutungen konstitutiv enthalten sind:
die heuristische Inbesitznahme der Patientin durch ihren Therapeuten und
die normative Beurteilung, welche, sofern man Foucault zu folgen bereit ist, als Gegenpol zum Gesunden, Guten, Normalen in der Diagnose das Kranke, Schlechte und Normabweichende erblickt.
Sollten diese Doxai [in etwa: ungeprüfte Prämissen; vgl Pierre Bourdieu (22)] dem wissenschaftlichen Psychotherapieprozess tatsächlich innewohnen, würde dies erklären, warum Patienten mit ihrer Psychotherapie unzufrieden sind und warum so manche von ihnen angeben - sofern man wirklich fragt -, sich von ihrem Gegenüber diskriminiert zu fühlen. (23)
Dem steht die von Levinas postulierte Unergreifbarkeit des Anderen gegenüber. Wäre diese Leitmotiv der therapeutischen Behandlung, würde sich der Therapeut zur Patientin wie zu einem Geheimnis beziehen, einem Geheimnis, welches in viel höherem und tieferem Ausmaß therapeutische Neugier, Fragen, gemeinsames Ergründen und Auswege-Suchen verlangte.
Messen und Quantifizieren
Mittels wissenschaftlicher Studien, Fragebögen, Evaluationen werden nicht nur Diagnosen - für den Patienten unwiderlegbar - untermauert und in felsenharte Fakten verwandelt; es wird darüber hinaus sogar noch eine Dimension des Seins erschaffen, über die auf Seiten des Patienten völlige Unkenntnis herrscht, welche aber von seiner Therapeutin entschlüsselt und mit einem Wahrheits-Stempel versehen wird.
Diese vorgeblich essenzielle Dimension des Wesens des Patienten begründet, da nur der Fachfrau sichtbar, eine weitere - nunmehr qualitative - Distanzierung letzterer von ersterem.
Der quantifizierende Zugriff auf den Patienten stellt aber in poststrukturalistischer Sicht eine totalitäre Aneignung desselben durch den Behandler dar.
Demgegenüber erlaubt und fordert Derridas Dekonstruktions-Konzept mehrere Lesarten des „Textes“ Mensch, wobei die Lesarten des Fachmannes und die der Patientin selbst gleichberechtigt nebeneinander stünden.
Die von de Saussure gefolgerte Arbitrarität der Zeichen und die sich daraus ergebende Bedeutungsgenese allein durch die Differenz (gesteigert noch in Derridas différance) würden im Missverstehen den normalen Ausgangspunkt jedes Gesprächs sehen.
Begriffe man aber Missverständnis, Arbitrarität und Ambiguität als quasi natürlichen „Nullpunkt“ jeder Kommunikation, würde ihr Prozess gegenüber ihrem Ergebnis eine Aufwertung erfahren. Die Wahrheit wäre eine gemeinsame, statt dass sie Ergebnis einer wissenschaftlichen Quantifizierung wäre.
Wissenschaftliche Evidenz
Blicke ich auf mein bisheriges Therapeutenleben von etwa 1974 bis heute zurück, komme ich nicht umhin festzustellen: Der Modus therapeutischer Seminare hat sich gewandelt von anfangs eigenen sinnlichen Erfahrungen hin zu der heute eher üblichen Wissensvermittlung mittels powerpointbasierten Darstellungen von Statistiken und dem Einüben vorgegebener Methodenstandards. Persönliche Begegnung und sinnlich berührende Übung in der Weise eines Experimentierens und Herausfindens habe ich seit vielen Jahren nicht mehr erlebt.
Ja sogar: Während ich erstmals in diesem Essay in der Ichform, also von eigenen sinnlichen Erfahrungen schreibe, wird mir bewusst, dass ich gerade eine wissenschaftliche Regel verletze. (Eine solche persönliche Perspektive würde von einem Lektorat sicherlich zurückgewiesen werden!)
Andererseits wissen wir alle, dass nicht Erklärung, Einüben von Methoden, Befolgen von therapeutischen Regeln veränderungsmächtig sind, sondern allein die beeindruckend-sinnliche Erfahrung.
So kommt Levinas zu dem Schluss, dass die Bejahung der Unergreifbarkeit des Anderen nicht nur kein Hindernis für die zwischenmenschliche Begegnung, sondern gar die Voraussetzung für die sinnliche Erfahrung des Anderen, für die Liebe, darstellt.
Sollten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, bei dem Wort Liebe gerade zusammengezuckt sein? - Dann leiten wir sogleich zur Essenz der therapeutischen Beziehung selbst über:
Therapeutische Abstinenz und Ethik
Therapeutische Abstinenz ist zum Schutze des Patienten unerlässlich.
Wenn aber Abstinenz darin besteht, der Patientin jegliche persönliche Reaktion und Stellungnahme vorzuenthalten, vergrößert dies das Erleben von Distanzierung, ja Zurückweisung und Entwertung auf Seiten der Patienten.
Die Haltung der Abstinenz im letzteren Sinne wird gefördert durch das wahrscheinlichkeitszentrierte Paradigma der heutigen Psychotherapie; denn nichts anderes bedeutet letztlich das Primat der Evidenzbasierung. Damit ist das Vorgehen nur scheinbar individuumszentriert!
Faktisch ist es aber unpersönlich, nomothetisch (in etwa: Gesetzmäßigkeiten beschreibend) statt idiografisch (in etwa: den Einzelnen betrachtend) und - siehe oben - normativ. In einer Psychotherapie, mit dieser Implikation betrieben, haben persönliche Stellungnahmen der Behandlerin keinen Platz, und auch der Patient stört nur solange den Betrieb nicht, wie er sich in das Schema der psychotherapeutischen Befunde und Methodik einfügt.
Insofern ist auch das persönliche Antworten der Therapeutin, wie von Levinas gefordert, nicht angebracht; da aber keine Antwort notwendigerweise ebenfalls Antwort ist, und zwar zurückweisende Antwort, vergrößert sich die erlebte Diskriminierung.
Die allermeisten der Behandlerinnen und Behandler sind, wie ich vermute, eher freundliche und ihrem Patienten zugewandte Menschen. Allerdings spitzt sich damit das Problem eher zu, da sich die Patientin ihr „merkwürdiges“ Erleben nicht erklären kann und es auf eigene Fehlwahrnehmungen oder Ähnliches attribuiert.
Wenn persönliches Ver-Antworten diskreditiert wird, wenn dem Patienten Be-Gegnung vorenthalten wird, ist es nur konsequent, dass eine persönliche Ethik der Therapeutin sich gar nicht ausbildet.
Eine persönliche Moral wird meines Wissens in Ausbildungsgängen, Fortbildungen oder Intervisionen allenfalls als Störung oder Fehler betrachtet oder hinter vorgehaltener Hand dem anderen zugeflüstert.
Das persönliche Ver-Antworten ist hinter das Erlernen und Befolgen einer Listen-Ethik, dem reinen Aufzählen verbotener Verhaltensweisen, von Berufsverbänden und Ethikkommissionen zurückgetreten. Es hat nichts (mehr) zu sagen.
Jetzt hat uns der gemeinsame Weg zur Inschrift des Ausgangspunktes zurückgeführt. Diese wollen wir mit de Saussure, Foucault, Derrida und Levinas nochmals betrachten:
Wo eine Diagnose ist, ist kein Gespräch.
Wo kein Gespräch ist, ist keine Begegnung.
Wo keine Begegnung ist, ist keine Heilung.
Gaustautor Dr. phil. Michael Mehrgardt setzt sich mit seinem Vlog auf YouTube und Blog mindroad.de für eine humanistische Grundhaltung in der Psychotherapie ein. Sieh Dir seine Videos an, darin teilt er wertvolle therapeutische Tipps bei Angst, Depressionen & Co.
Quellen:
1) Dieser Artikel wurde in verkürzter Form veröffentlicht in: Michael Mehrgardt, 2020: Die therapeutische Beziehung aus dem Blickwinkel von Lévinas und Co. VPP aktuell, 51, Dezember 2020, S. 10 – 12.
2) Lübecker Nachrichten, „Sonntag“, vom 26./ 27.04.2020, S. 6
3) Münker, S. & Roesler, A., 2012: Poststrukturalismus. Springer/ Metzler Stuttgart, S. 3 ff.).
4) nach: Münker, S. & Roesler, A., 2012: Poststrukturalismus. Springer/ Metzler Stuttgart, S. 15.
5) Münker, S. & Roesler, A., 2012: Poststrukturalismus. Springer/ Metzler Stuttgart, S. 140 ff.
6) zitiert nach: Engelmann, P.: Postmoderne und Dekonstruktion. Reclam 2015, S. 21.
7) vgl.: Derrida, J.: „Die différance.“ In: Engelmann, P.: Postmoderne und Dekonstruktion.
Reclam 2015, S. 90.
8) nach Clemens Meier: Jacques Derrida. Crashkurs, https://www.youtube.com/watch?v=wFoH4i46v6s (zuletzt abgerufen am 23.01.2020).
9) nach Dr. Sachin Ketkar, Unit 5.3. Derrida and Deconstruction – DifferAnce, https://www.youtube.com/watch?v=WJPlxjjnpQk (zuletzt abgerufen am 23.01.2020).
10) Gelhard, A.: Levinas. Reclam, Leipzig, 2005, S. 8.
11) ebd., S. 20.
12) zitiert nach Gelhard, A.: Levinas. Reclam, Leipzig, 2005, S. 28.
13) ebd., S. 29.
14) zitiert nach Gelhard, A.: Levinas. Reclam, Leipzig, 2005, S. 29.
15) ebd., S. 32.
16) ebd., S. 33.
17) ebd., S. 49.
18) ebd., S. 50.
19) ebd., S. 55.
20) Emmanuel Lévinas: Zwischen uns. Carl Hanser Verlag, 1995, S.14.
21) vgl. Duden, Herkunftswörterbuch Band 7, Bibliographisches Institut Mannheim/ Wien/ Zürich, Stichwörter „Diagnose“ und „Norm“
22) Bourdieu, P., 20185: Entwurf einer Theorie der Praxis. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 331.
23) Mehrgardt, M., 2007: „Die therapeutische Unschärferelation.“ In: Gegenfurtner, N. & R. Fresser-Kuby (Hg.): Emotionen im Fokus. EHP, Bergisch Gladbach, S. 240-272.