Vera - Verletzungen in der Psychotherapie
1. Teil: Vera A will keine Abstinenz!
Ich denke oft an Vera A. Sie war eine beeindruckende Patientin. Und sie ist eine beeindruckende Frau.
Veras Geschichte ist ein Krimi
Nach ihrer Therapie hat sie mit mir zusammen einen Kriminalroman (Gar.Aus.) geschrieben:
In Briefen an eine Kommissarin beschreibt sie die furchtbare Geschichte des sexuellen Missbrauchs durch ihren Stiefvater. Dazu berichte ich an anderer Stelle mehr.
Bin ich eine Aussätzige?
Sie hat Mut zu sagen, was sie denkt – trotz allem. Gleich in der 2 Stunde fragt sie mich, ob wir uns nicht duzen können. Ihr sei es wichtig, sagt sie und erzählt mir, warum:
Aus anderen Therapien, besonders im stationären Bereich, habe sie sich nämlich oft von ihren Ärztinnen und Therapeuten von oben herab behandelt gefühlt, als Mensch 2. Klasse, als weniger wert, als aussätzig. Alle Behandler würden peinlichst darauf achten,
dass wir Patientinnen ihnen nicht zu nahe kommen oder sie gar berühren!
Sie habe das immer als Distanz, Kälte und Ablehnung gefühlt.
Allerdings würden, meint Vera, solche Sachen nicht in bösem Ton und oft auch nicht ausdrücklich gesagt, eher zwischen den Zeilen, per Körpersprache, Abwenden, Mimik …
Ok, du wirst vielleicht sagen:
Na ja, als Patient ist man ja auch sehr empfindlich und interpretiert da viel hinein.
Ich stimme dir zu. Ich denke aber, selbst wenn man Abstriche von solchen Äußerungen
macht, bleibt immer noch genug übrig, um dieses Erleben ernst zu nehmen.
Und: Wenn man als Psychotherapeut erst mal angefangen hat, seine Patientinnen ernsthaft zu fragen, wie sie uns als Behandlerinnen erleben, bekommt man oft Erlebnisse geschildert, die uns Fachleute nicht in einem allzu positiven Licht dastehen lassen.
Ein entlarvendes Erlebnis mit Vera
Jetzt möchte ich dir eine Geschichte mit eben dieser Vera A. erzählen, eine Geschichte, die ich ein wenig lustig finde. Aber mehr noch als dies ist sie, wie ich finde, für unseren Berufsstand peinlich und entlarvend:
Vor einiger Zeit hielt ich in einem kollegialen Fortbildungskreis einen Vortrag über falsch verstandene therapeutische Abstinenz. Abstinenz (Enthaltsamkeit) ist sehr wichtig. Sie bezeichnet die Notwendigkeit, dass die Therapeutin nicht in das Leben ihres Patienten verstrickt ist und somit keine gegenseitige Abhängigkeit entsteht. Diese Enthaltung von einer persönlichen Beziehung zwischen beiden ist gerade auch für die Patientin äußerst wichtig. Wenn der Behandler nämlich beginnt, seine eigenen Bedürfnisse mit und an der Patientin auszuleben, endet dies für Letztere oft katastrophal.
In diesem Fortbildungskreis ließ ich Vera A. von ihren Erfahrungen mit übertriebener, dh kalter, arroganter und zurückweisender Abstinenz berichten. Sie erzählte von vielen unbedachten, aber auch von manchen haarsträubenden Abgrenzungen, Abwertungen und Demütigungen.
Dabei, meinte sie, ist es doch gerade für uns Menschen in einer schweren Krise unheimlich wichtig,
dass wir auch mal Zuspruch erhalten, mal in den Arm genommen werden und das Gefühl kriegen, dass der Therapeut uns auch mag!
Dann fuhr sie fort:
Wir sind doch nicht ansteckend oder eklig oder so, und es ist doch nichts dabei, wenn man sich auch mal körperlich berührt oder sich mal einfach anlehnen möchte!
Während sie dies – in einer äußerst berührenden Weise – sagte, rutschte sie dicht an meinen Kollegen Herrn F., den sie sehr sympathisch fand, heran. F zuckte allerdings zurück, rutschte fort von ihr, verzog das Gesicht und wirkte überhaupt nicht amused!
Vera A und ich schauten uns an. Wir dachten vermutlich beide dasselbe: Genau! Das war genau das, was Vera A demonstrieren wollte!
2. Teil: Vera A. wünscht sich Halt
Vera, die wegen vielfacher Traumatisierungen infolge fortgesetzten sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen lange Jahre bei mir in Therapie war, beschreibt in dem folgenden Ausschnitt ihre Erfahrungen während eines Klinikaufenthaltes.
Sie litt an massiven Panikattacken, Schwindel, Übelkeit. Sie konnte ihr Haus nicht verlassen. Oft hatte sie Selbstmordgedanken, um sich aus dieser Qual zu befreien.
In der Klinik
Vera A. schreibt:
Ganze 8 Monate habe ich dort verbracht. Auf meine Ängste wurde dort nicht eingegangen, denn ich war die einzige Angstpatientin, und dafür lohnten sich die Übungen nicht, sagte die Ärztin mir.
Als ich nach einem viertel Jahr erwähnte, dass die Behandlung für mich wohl nicht richtig ist, bekam ich zur Antwort, ich könne ja nach Hause.
Wie sollte ich nach Hause, mir ging es doch noch genauso wie vorher?! Ich wollte das Rausgehen üben, Sicherheit beim Gehen bekommen und angstfrei sein.
Woche für Woche verging, ich hoffte auf eine Therapie – vergebens.
Als ich die Ärztin erneut ansprach und von dem sexuellen Missbrauch erzählte, fragte ich sie, warum es mir so geht. Ich erhielt zur Antwort:
‚Schauen Sie doch einmal bei sich selbst nach!‘
Bei mir selber nachschauen?, dachte ich, also habe ich Schuld [Anm. MM: an dem Missbrauch] !! Schuld an allem, was mit mir gemacht wurde! Ich muss mitgeholfen haben!
Ich musste mich also bestrafen! Ab sofort drückte ich meine Zigaretten an meinem Arm aus, je mehr und tiefer, desto besser. Nun werden alle sehen, dass ich reumütig bin. So habe ich die 8 Monate in der Klinik verbracht, in einem Gefühl von Schuld.
Bis ich genauso, wie ich ins Krankenhaus herein ging, auch wieder entlassen wurde. Meinen Schwindel und meine Angst nahm ich wieder mit nach Hause.“
Angst vor Nähe??
Später erzählte mir Vera A. von einem anderen Therapeuten:
Er war immer so distanziert, so von oben. Er wollte nicht, dass ich ihn berühre. Wenn ich ihm mal näher kam, wurde er so steif, ganz starr. Als wenn ich ihn beschmutzen würde!
Er ist was Besseres als ich, hat er mir so zu verstehen gegeben.