Wut tut gut
KONFLIKTLÖSUNG #2:
Wut, Aggression und Gewalt
In diesem Kontext differenziere ich diese Begriffe nicht, sondern benutze sie gleichbedeutend.
Die Peanuts
Eine Figur der Peanuts, vielleicht war es Charly Brown, hat einmal gesagt:
Liebe heißt, den Anderen niemals um Verzeihung bitten zu müssen!
Das ist, finde ich, ein sooo schöner Satz!
Aber leider ist er Bullshit!
Wenn ich diesem Ausspruch genauer nachspüre, stelle ich nämlich fest:
Das stellt eine hohe moralische Norm und ein hohes Ideal dar, die kaum erfüllbar ist!
Die Partnerin ist derjenige Mensch auf Erden, der dich am schlimmsten verletzen kann!
Der Partner ist derjenige Mensch, dem gegenüber du die stärkste Wut empfinden kannst!
Meine These: Gewalt ist geil.
Oftmals sind Aggression und Wut Reaktionen auf Verletzungen oder Ungerechtigkeiten, die uns von Anderen zugefügt werden. Aber diese Gefühle treten auch ohne Auslöser auf. Gewalt ist nicht nur Reaktion. Wut braucht keinen Grund. Aggression ist ein menschliches Bedürfnis.
Es ist ein Fehler, zu denken, dass …
Wut, Gewalt und Aggression nur entstehen, wenn du von jemandem verletzt worden bist;
nur Kranke, Kriminelle und Perverse Gewalt ausüben;
Leute, die Gewalt anwenden, sich von dir und mir und den „Normalen“ grundsätzlich unterscheiden.
Gewalt ist Sehnsucht nach Wirkung und Intimität
Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch Lust zur Gewalt hat. Glaubst du das nicht? Wie erklärst du dir dann, dass …
Menschen so gerne Krimis oder Horrorgeschichten sehen oder lesen?
Ego-Shooter-Spiele so beliebt sind?
es so viele „Seh-Leute“ bei Unfällen gibt (und kaum einer hilft!), die sich am Blut und den Schmerzen anderer zu ergötzen scheinen?
Terror und ihre Opfer – als bspw. die Flugzeuge in die Twintowers krachten – so gerne, ausführlich und in Großaufnahme im TV gezeigt und angeguckt werden?
in den sogenannten Milgram-Experimenten die Versuchspersonen ihren Schülern so bereitwillig vermeintlich tödliche Stromstöße gegeben haben, und das auch dann, wenn sie deren Schmerzensschreie und flehentliche Bitten, aufzuhören, direkt miterlebten? (Hier findest du Erläuterungen zu diesem Experiment: https://de.wikipedia.org/wiki/Milgram-Experiment
Das machen nur Andere, denkst du? Stell dir einfach vor, du kommst in einen Raum, im dem ein großer Turm aus Bauklötzen steht. Niemand sieht dich – na, hättest du keine Lust, den Turm einfach umzuhauen??
Woran könnte es liegen, dass das Ausüben von Gewalt so tief in unsere Emotionen eingewurzelt ist?
Ich finde die folgende Erklärung plausibel:
Gewalt vertreibt das Erleben von Ohnmacht. Sie gibt einem das Gefühl der Macht. Sie stellt eine intime Nähe zum anderen her. Man kann auch sagen: Gewalt befriedigt das Bedürfnis nach Wirkung und Intimität.
Beispiel 1:
Ihr streitet. Du erklärst deinem Partner deinen Standpunkt. Du redest, erläuterst, argumentierst, aber egal, wie sehr du es versuchst: Er versteht dich nicht, glaubt dir nicht, sieht die Sache anders, als sie doch nun mal war – wie kann er sie so verdrehen?! Er reagiert mit Missachtung, mit Verachtung, legt dir in den Mund, was du gar nicht gesagt hast, wischt deine Argumente beiseite, hört sie nicht einmal an. Er will dir überhaupt nicht zuhören! Am Ende lässt er dich wie ein dummes Gör einfach stehen und verlässt auch noch den Raum! Du fühlst dich ohnmächtig! Welch schreckliches Gefühl! Dabei weißt du doch genau, dass du im Recht bist! Wie kann er nur so gemein und so falsch sein?! So dumm? So blind? Am liebsten würdest du ihn anschreien, beschimpfen, packen, schütteln und ohrfeigen. Du willst, dass er dich ENDLICH wahrnimmt und ernst nimmt und spürt. Und du willst ihn auch ENDLICH wieder fühlen …!
Beispiel 2: Du bist ein 13-Jähriger Junge. Häufig balgst du zum Spaß mit deinen Freunden. Natürlich geht es vordergründig darum, wer der Stärkere ist. Mindestens genauso wichtig ist, dass du auf diese Weise einem Menschen so nahe sein darfst, wie es dir sonst nicht möglich (oder erlaubt) ist: wenn du auf ihm hockst und ihn festhältst; wenn du in seinem „Schwitzkasten“ steckst und deine Nase sich unter seiner schweißnassen Achselhöhle befindet … (Mädchen können diese Bedürfnisse nach Intimität in diesem Alter vermutlich direkter zum Ausdruck bringen.)
Solltest du tatsächlich so etwas noch nie gefühlt haben, sehe ich 3 mögliche Gründe:
Du warst noch nie in einer engen emotional-leiblichen Beziehung.
Du hältst deine Gefühle, Bedürfnisse und Grenzsetzungen zurück und richtest sie gegen dich selbst.
Wenn 2. zutrifft, siehe hier: https://www.die-inkognito-philosophin.de/wegweiser unter RetroflexionDu hängst einer Ideologie an, die jegliche Aggressionsäußerung untersagt und dir aufträgt, sie in eine gewünschte Kommunikationsweise zu übertragen (zB: Liebe deine Feinde! Nur Ich-Botschaften senden! Gewaltfreie Kommunikation!).
Wenn 3. zutrifft, siehe unter 2. und siehe unten!
Das Dilemma
Aggressionslust versus Friedenssehnsucht
Du befindest dich in einem Konflikt: Einerseits fordern deine Hormone, deiner Aggression freien Lauf zu lassen. Andererseits nehme ich an, dass du – sofern du kein empathiefreier Soziopath bist, aber dann würdest du dir solche Beiträge ja auch nicht anschauen – niemanden ernsthaft verletzen oder gar töten willst. Du würdest unter den Konsequenzen leiden, die sich aus deinen Schuldgefühlen genauso ergäben wie aus etwaiger Strafverfolgung und Entschädigungsforderungen! Und in aller Regel willst du auch deine sozialen Beziehungen nicht zerstören.
Wie kannst du also damit umgehen, dass du einerseits Wut und Gewaltlust in dir spürst, andererseits ja aber keine Gewalt ausüben darfst und willst?
Kommunikations- u. Konfliktlösungs-Strategien
Mit Strategien, die du überall pädagogisch unter die Nase gerieben kriegst, kommst du nicht weiter!
Wenn du in Kommunikations- oder Konfliktbewältigungs-Trainings lernst,
wie man verletzende Botschaften vermeidet und stattdessen Ich-Botschaften sendet,
wie man partnerzentriert und aktiv zuhört,
wie man gewaltfrei miteinander kommuniziert,
wie man seine Gefühle, Wünsche und Grenzen klar benennt und den Anderen ermutigt, es auch zu tun,
wie man Kompromisse eingeht,
wird eben übersehen, dass Wut ein Bedürfnis ist, dass Gewalt sich Ventile sucht und Wege bahnt.
Beispiel 3:
Du bist stinkig, weil dein Typ die Küche wie einen Saustall hinterlassen hat! Wieder mal!! Die Wut kocht in dir. Adrenalin überschwemmt dich. Dein Puls steigt zur Decke. Du ballst die Fäuste. Am liebsten würdest du ihm eine reinhauen! Aber jetzt solltest du – gemäß Gewaltfreier Kommunikation – zu ihm sagen:
”Ich fühle mich wegen der Küche gerade gar nicht gut. Können wir einen Weg finden, wie wir die Küchenarbeit so zwischen uns aufteilen, dass wir beide damit zufrieden sind?”
Jetzt mal ehrlich: Würdest du das hinkriegen?? Ich sicherlich nicht!! Vielleicht würde ich es noch schaffen, mit einer Ich-Botschaft zu beginnen:
”Ich wünsche mir … ,”
und spätestens dann würde mein Ärger sich ein Ventil suchen:
”… dass du alte Sau deinen Arsch hochkriegst und ENDLICH sauber machst!!”
Reihenfolge beachten!
Was ist das Problem dabei? Das Problem besteht in der richtigen Abfolge: Bevor du konstruktiv, gewaltfrei und unter Vermeidung von Du-Botschaften kommunizieren kannst, musst du irgendwie mit deiner aggressiven Erregung klar kommen. Du brauchst Mittel, um deine Wut auf unschädliche Weise loszuwerden.
Aber bitte renne jetzt nicht los, gehe nicht in die Muckibude und stemme wie wild Gewichte!! Denn wenn du das tust, läufst du Gefahr, dich selbst zu schädigen: Du trampelst beim Laufen zu stark und überlastest deine Gelenke, du überforderst beim Heben deine Sehnen, du stresst dein Herz-Kreislauf-System. Diese Gefahr besteht, sobald Wut die Regie übernimmt und nicht dein achtsamer Wunsch nach einem stärkenden Training.
Wut braucht Sicherheit und einen Adressaten!
Während blindes Sporttreiben und Abreagieren eher schädliche Wirkungen haben, sollte die konstruktive Wut-Äußerung in einem Sicheren Raum (s.u.) erfolgen. Außerdem muss die Wut an die Person adressiert werden, der sie gilt.
Die folgenden Aggressions-Rituale sollen dir und euch helfen und Anregungen geben. Du kannst mit deiner Partnerin auch Variationen verabreden oder ganz andere Rituale erfinden.
Ziel der Aggressions-Rituale ist, Aggressionen auf unschädliche Weise an den Anderen zu richten, abzubauen und damit destruktive, eskalierende und zerstörerische Gewalt und Wut zu verhindern.
Und ganz besonders beachtet immer:
Keines der folgenden Rituale stellt eine Aufforderung zur körperlichen, sexuellen oder psychischen Gewalt dar!
Die Wut-Rituale
Okay - manche der folgenden Rituale führe vielleicht lieber nicht mit deinem Chef oder deiner Vorgesetzten durch, auch - und besonders - nicht auf einem Betriebsfest unter Alkohol!
Die Regeln
Zunächst stelle ich euch die Regeln vor, die für alle Übungen gelten. Spezielle Regeln für die einzelnen Rituale werden gesondert aufgeführt:
Regeln: Ihr einigt euch auf das jeweilige Ritual und versichert euch, dass die Regeln eingehalten werden.
Der SICHERE RAUM: Jedes Ritual findet im Sicheren Raum statt. Sicherer Raum bedeutet insbesondere:
- Jede*r kann sich absolut darauf verlassen, dass keine Gewalt gegen sie oder ihn ausgeübt wird!
- Ihr habt Zeit.
- Ihr seid sicher, dass euch niemand hört oder sieht – denn klar ist: Was ihr jetzt macht, überschreitet gesellschaftliche Tabus!
- Es gibt genügend Platz, so dass sich keiner verletzen kann.
- Stellt sicher, dass ggf eure Kinder nicht geängstigt oder gar traumatisiert werden!Der Adressat: Wichtig ist, dass du deine Wut an jemanden richtest bzw adressierst. In diesem Kontext ist das der Mensch, mit dem du das Ritual machen willst. (In anderen Beiträgen wirst du lernen, dass diese Übungen auch mit nicht anwesenden oder gar verstorbenen Personen möglich sind.)
Freiwilligkeit: Jedes Ritual ist freiwillig.
Gemeinsame Gestaltung: Jedes Ritual darf verändert, abgelehnt oder abgebrochen werden. ZB sind manche Rituale für Menschen mit Gewalt- oder Missbrauchserfahrungen nicht möglich, weil dabei alte Traumata hochkommen können (Intrusionen, Flash-Backs, Retraumatisierungen). Wenn also heftiges Atmen, Geschrei, eine drohende Haltung oder Schlagen von Angst oder Erstarrung begleitet werden, führt dieses Ritual bitte nicht aus!
NEIN ist NEIN! Bei einem Nein! oder Stopp! wird das Ritual sofort beendet.
Begründungen müssen nicht gegeben werden.
Spezielle Regeln: Zusätzlich zu den allgemeinen Regeln gelten für jedes Ritual spezielle Regeln und auch zusätzliche Regeln, auf die sich das Paar verständigt.
Jetzt stelle ich dir/ euch einige Rituale vor, die meine Frau und ich in dem Video demonstrieren.
Danke, Kirsten, für deine Mitwirkung!
Ja/ Nein-Ritual
Ihr einigt euch, wer A und wer B ist.
A und B stellen sich mit ca. 1 Armlänge Abstand gegenüber auf.
A beginnt und sagt zu B: Ja!
Dann sagt B Nein! zu A.
Am Anfang wechselt ihr euch ab, beim Maximum darf’s durcheinander gehen.
A steigert Lautstärke graduell bis zum max. Schreien.
B kopiert die Lautstärke.
Beim Maximum versuchen A und B, sich gegenseitig zu übertreffen.
Dann werden beide leiser, bis am Ende beide flüstern.
Spezielle Regeln:
Es dürfen keine anderen Wörter, zB verletzende Ausdrücke, verwendet werden!
Ihr dürft euch sehr nahe kommen, vermeidet aber körperliche Berührungen!
Beschimpfungs-Ritual
Ihr einigt euch, wer A und wer B ist.
A und B stellen sich mit ca. 1 Armlänge Abstand gegenüber auf.
Beide einigen sich auf jeweils 1 Schimpfwort, welches A zu B und B zu A sagen darf. Diese Schimpfwörter dürfen „deftig“ sein, aber nicht ans „Eingemachte“ gehen. Sie sollten nicht zu lang sein, damit sie sich gut brüllen lassen.
Zunächst abwechselnd, dann auch durcheinander, werfen A und B sich diese Ausdrücke gegenseitig an den Kopf, zB:
Dumme Kuh! – Alter Sack!Ihr werdet zunächst lauter, dann leiser (wie bei Ja/ Nein).
Spezielle Regeln:
Es dürfen keine anderen Wörter, zB verletzende Ausdrücke, verwendet werden!
Ihr dürft euch sehr nahe kommen, vermeidet aber körperliche Berührungen!
Jeder hat das Recht, verletzende oder aufgeladene Ausdrücke zurückzuweisen!
Raubtiere
Jede Person stellt sich vor, ein bestimmtes Raubtier zu sein.
Wenn gewünscht, teilen A und B sich gegenseitig mit, welches Raubtier sie gewählt haben.
A und B stellen sich mit ca. 1 Armlänge Abstand gegenüber auf.
Jetzt versuchen A und B, den Anderen zu bedrohen, klein zu machen, zu beherrschen, zu vertreiben oder ihm Angst zu machen, zB durch: Fauchen, Brüllen, Knurren, Rufen, Schreien, Drohgebärden, Fratzen oder mittels furchteinflößendem Mundgeruch ;-) …
Spezielle Regeln:
Es werden nur Laute fabriziert, keine Wörter, besonders keine verletzenden Ausdrücke!
Ihr dürft euch sehr nahe kommen, vermeidet aber körperliche Berührungen!
Droh-Skulptur
A und B bauen sich wieder einander gegenüber mit 1 Armlänge Abstand auf.
Durch Körperhaltung, Anspannung aller Muskeln, böse und bedrohliche Mimik etc. versuchen beide, den Anderen zu dominieren.
Spezielle Regeln:
Wahlweise werden nur Haltungen und langsame bedrohliche Bewegungen eingesetzt.
Es kann auch vereinbart werden, dass zusätzlich Atem-, Keuch-, Fauchgeräusche gemacht werden dürfen.
Kein Lautwerden! Keine Wörter! Keine körperlichen Berührungen!
Schlagende Verbindung
Eine liebende Verbindung kann mitunter auch eine schlagende Verbindung sein, wie du im Folgenden siehst.
Gehe bei dieser Übung besonders achtsam mit deinem Gegenüber um!
A und B schlagen sich abwechselnd mit der flachen Hand auf den Po.
Vorher haben sie sich auf Häufigkeit und Abfolge geeinigt, zB: A beginnt und schlägt 3 x, dann ist B dran ...
Dabei darf lustvoll gekeucht oder gestöhnt werden.
Beide können sich auch auf einen – etwas schrägen – Satz einigen, der beim Schlagen gesagt werden darf. ZB:
- Es tut mir mehr weh als dir, aber leider muss ich dich bestrafen!
- Du ungezogene kleine Göre!
- Du unartiger Bengel!
- Gerne auch: Ich will doch nur dein Bestes!Vorteile dieses Rituals sind, dass Po und Hand etwa gleich weh tun, dass A und B sich näher kommen, dass diese Übung durchaus erotisch „entgleisen“ kann ...
ACHTUNG:
Dieses Ritual sollte nicht durchgeführt werden, wenn einer der Partner Gewalt oder sexuellen Missbrauch erlebt hat!
Risiko: Traumata (Intrusionen, Flash-Backs) können auftauchen und zu Panikattacken oder Dissoziationen führen.
Spezielle Regeln:
Nur mit der flachen Hand schlagen!
Nur auf die „gepolsterten“ Stellen des Partner-Pos hauen!
Sofort beenden, wenn eine Person STOPP! sagt!
Nichts anderes als das Vereinbarte sagen!
Weitere Hinweise
Behutsamkeit
Geht bei diesen Übungen bitte rücksichtsvoll und achtsam miteinander um. Denkt an den Ö-kologischen Egoismus, der besagt: Dir kann es nur so weit gut gehen, wie es deinem Partner gut geht!
Erfolge der Rituale
Ihr habt diese Übungen erfolgreich miteinander durchgeführt, wenn ihr zB …
euch auf den nächsten Streit - und insbesondere die Aggressionsrituale - freut,
euch danach entspannt, befreit, entlastet fühlt,
miteinander lacht,
albern werdet,
euch gegenseitig kitzelt,
wenn ihr zuversichtlich seid, dass ihr das Problem in Zukunft lösen könnt,
wenn ihr anschließend Sex habt …
Viel Spaß mit den Ritualen und alles Gute für eure Beziehung!
Im nächsten Video …
erkläre ich, warum ich mit Empathie bzw Verstehen so meine Probleme habe …