Wie fühlt sich Angst an? – Philosophie: Was bedeutet Angst?

Angst gibt es in allen Kulturen und sie wird weltweit ähnlich erlebt: als Engegefühl, Hemmung und Ohnmacht. In der modernen Philosophie kommt der Angst des Menschen eine Schlüsselposition für das Selbst zu. Speziell die philosophische und psychiatrische Phänomenologie (Definition) untersucht, wie sich Angst anfühlt, was sie mit dem Menschen macht und was Angst für das Mensch-sein bedeutet.

Was ist Angst? Philosophie: Wie fühlt sich Angst an?

Dieser Text wurde im Original auf daz online (Deutsche Angst-Zeitschrift) veröffentlicht » zum Originalbeitrag

 

Die Enge der Angst

Einige halten Angst für ein Grundgefühl, andere für eine allgemeine Stimmung. Wie auch immer man sie definieren will, bereits der Wortlaut gibt Hinweise auf das leib-seelische Erleben von Angst beim Menschen. Etymologisch ist der Begriff Angst zum Beispiel verwandt mit:

• Indogermanisch: *anghu = beengen, würgen

• Altgriechisch: agchein = drosseln, die Kehle zuschnüren, Not

• Lateinisch: angustus = Enge, Beklemmung, Schwierigkeiten

Egal ob altgriechisch, keltisch oder altindisch – alle Begriffe, die mit Angst in sprachwissenschaftlicher Verwandtschaft stehen, drücken lautmalerisch mit dem gutturalen “ang” ein Abschnüren der Kehle aus. Konkret geht es immer um ein Enge-Erlebnis, das sich u. a. in körperlichen Regungen ausdrückt.

 

Die leibliche Facette der Angst

Neben Jaspers, Sartre oder Kierkegaard werden auch neuere Philosophie-Konzepte herangezogen, um das Angsterleben zu verstehen. Meist ist das die neue Phänomenologie von Hermann Schmitz: Der Mensch spürt Gefühle leiblich als Engung bzw. Weitung oder Spannung bzw. Schwellung.

Dementsprechend interpretiert Schmitz die Angst als gehemmten Fluchtdrang. Das Enge-Erlebnis in der Angst ist sozusagen die Enge des Leibes, in welchem die aufgestaute Energie um Weite ringt, die sie nicht erhält. Es geht um ein Nicht-Loskommen von dem, was einschränkt (Körper, Katastrophengedanken).

Dabei wird die Angst vor allem räumlich-zeitlich und leiblich verstanden. Doch an dieser Definition üben andere Phänomenologen Kritik – zu Recht: Angst zeigt sich nicht nur in körperlichen Regungen, sondern breitet sich auch atmosphärisch aus und verändert den Umraum. Darüber hinaus greift sie auch in den zeitlichen und zwischenmenschlichen Bezug ein und trifft damit das ganze Selbst- und Weltverhältnis des Menschen.

 

Komponenten von Angstgefühlen

Innerhalb der Phänomenologie finden sich verschiedene Ansätze, die existenzielle Aspekte der menschlichen Erfahrung beleuchten, um das subjektive Angsterleben besser zu verstehen.

Affektivität, Lebenswirklichkeit, Zeitlichkeit, Intersubjektivität, Leiblichkeit – all diese Komponenten sind Gegenstand von phänomenologischen Untersuchungen und ergeben zusammengenommen ein Bild, das vielfältige Einblicke in die Verfassung von Menschen mit Angststörungen gewährt.

 

So fühlt sich Angst an …

Lebenswelt & Raum

Verfremdung des Umraums

Als Lebenswelt wird diejenige Welt verstanden, die ein Mensch durch seine direkte Erfahrung wahrnimmt (vgl. Husserl). Sie ist die Welt, in der wir uns bewegen, handeln und existieren. Sie besteht jedoch nicht aus einer Ansammlung von Objekten, sondern umfasst neben materiellen Dingen auch unsere sozialen Beziehungen, unsere Kultur, unser Weltbild sowie die Bedeutungen, die wir all diesen Aspekten zuschreiben.

Die Veränderung der Lebenswelt ist ein zentraler Aspekt in vielen Selbstberichten von Angstpatienten. In der Angst erscheint uns die “Welt” bedrohlich und fremd. Der umliegende Raum wandelt sich zu einer bedrohlichen Kulisse voller Gefahren.

Diese Veränderung in der Welt- und Raumwahrnehmung, hinter der eine Trennung von Selbst und Umwelt steht, ist vor allem bei räumlichen Angststörungen auffällig.

  • So zum Beispiel bei der Agoraphobie: die gesamte Umgebung rückt in die Ferne und hinterlässt eine gähnende Weite, in welcher der Blick keinen Fixpunkt und der Körper keinen Halt findet.

  • Anders bei der Klaustrophobie: Hier drängt der Umraum unmittelbar auf Betroffene ein, beengt den Körper und hemmt den Geist.

 

Körper haben, Leib sein

Korporifizierung des Leibes

Eines der wichtigsten Konzepte in der traditionellen Phänomenologie stellt das Leib-Körper-Verhältnis nach Merleau-Ponty dar. Menschen sind die einzigen Wesen, die ihren eigenen belebten Leib als Objekt (= materieller Körper) beobachten können. Gleichzeitig ist der Leib das Medium, über welches Menschen die Welt erfahren.

Bei seelischen Krankheiten führt dieses doppeldeutige Verhältnis zum eigenen Leib allerdings zu einer Fixierung des objektiven Körpers. Der Leib ist nicht mehr selbstverständliches Erlebnismedium, sondern erscheint als fremde Macht, die kontrolliert oder manipuliert werden muss.

In der Angst erstarrt der gelebte Leib zum Körper, der sich durch Missempfindungen & Symptome (Herzrasen, Schwitzen, Schwindel) bemerkbar macht. In der Philosophie der Psychopathologie spricht man von Dis-Embodiment oder Korporifizierung.

  • Gerade hypochondrische Ängste passen hier ins Bild,

  • aber auch andere Phobien, bei denen die Selbstbeobachtung eine große Rolle spielt.

 

De-Intersubjektivität

Verlust der Zwischenmenschlichkeit

Phänomenologisch ist die Zwischenmenschlichkeit ein entscheidender Aspekt im Welt- und Selbstverhältnis des Menschen. Die prä-reflexive und empathische Verbindung zu den Mitmenschen ist untrennbar mit dem Realitätssinn einer Person verbunden. Menschen haben für andere Menschen eine Bedeutung.

In der Angst spüren jedoch viele Betroffene eine tiefgreifende Verunsicherung und Abgeschiedenheit von den Mitmenschen. Die natürliche Vertrautheit zu den anderen geht verloren. Und damit eine grundlegende Konstante von menschlichen Sinnbezügen.

  • Exemplarisch dafür stehen Sozial-Phobien. Hier scheint das Beziehungsgefüge auf das Äußerste bedroht. Betroffene verspüren die ständige Gefahr, isoliert oder verlassen, beschämt oder ausgestoßen zu werden.

 

De-Synchronisation

Störung des Zeitsinns

Den Menschen zeichnet aus, dass sich sein Zeitgefühl in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft teilt. Phänomenologisch kann zwischen impliziter Zeit und expliziter Zeit unterschieden werden.

Die implizierte Zeit ist prä-reflexiv, wir leben sie selbstvergessen, sind im Moment. Anders als die explizite Zeit: sie wird erlebt. Das Zeitgefühl hat aber auch eine räumliche und intersubjektive Komponente: Menschen synchronisieren sich zeitlich – einerseits mit anderen Menschen (Bsp. Gespräche, Verabredungen), andererseits mit der Umwelt (Bsp. Wach-Schlaf-Rhythmus, Jahreszeiten).

Zeitlichkeit ist also eine Dimension, die den Menschen mit Mitmenschen und Welt verbindet. Aber auch viele Risiken bereithält, wenn die Synchronisierung misslingt. Angst befällt oder packt plötzlich. Sie unterbricht damit jäh das Zeitgefühl und wirft den Menschen brutal auf die Gegenwart zurück. Ein Zukunftsbezug ist nur eingeschränkt möglich und extrem negativ.

  • Hier passen Zukunftsängste gut ins Bild

  • bzw. die generalisierte Angststörung (GAS). Betroffene werden von imaginären Katastrophenszenarien und einem diffusen Angstgefühl geplagt.

 

Willens- & Handlungsfreiheit

Verlust an praktischen Möglichkeiten

Willens- und Handlungsfreiheit können als Teilgebiet der existenziellen Freiheit gelten. Sie sind unweigerlich mit uns als Subjekt verknüpft, mit unserer zeitlichen und emotionalen Verfassung sowie unserer Lebenswelt.

Sich entscheiden und handeln zu können, setzt aber auch voraus, einen Möglichkeitsraum wahrzunehmen, sich selbst zu vertrauen, Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen und vieles mehr. Wie stark die Willens- und Handlungsfreiheit bei psychischen Krankheiten beeinflusst wird, zeigt sich u. a. in der Angst.

Viele Angstpatienten fühlen sich nicht frei und sind in ihrer Lebensführung stark beeinträchtigt.

  • Vermeidungsverhalten ist ein typisches Beispiel für den Verlust an Möglichkeiten, den Betroffene erfahren.

  • Auch entwickeln manche Zwangsstörungen als Bewältigungs- oder Schutzmechanismus.

 

Fazit: Wie fühlt sich Angst an?

Das menschliche Welt- und Selbstverhältnis ist sehr empfindlich. Wie empfindlich, zeigt sich im sozialen Zusammenleben oder eben bei psychischen Krankheiten. Ängste sind immer durch eine Entfremdung des Selbst- und Welterlebens gekennzeichnet.

Etwas in uns selbst ist plötzlich unserem Selbsterleben entzogen und tritt uns als Anderes gegenüber. Doch egal, was wir auch versuchen, dieses Andere kann die Kontrolle an sich reißen oder Teile von uns beherrschen.

Gleichzeitig gibt uns die Phänomenologie nicht nur ein prägnantes Bild davon, was es für Menschen bedeutet, mit pathologischen Ängsten zu leben – sie zeigt auch Wege der Behandlung auf, die gezielt auf die veränderte Erlebniswelt eingehen.

Insbesondere humanistisch-existenzielle Methoden sind hier zu nennen. Zum Beispiel Logotherapie & Existenzanalyse (Frankl), Daseinsanalyse (Binswanger), multimodale Therapien, gestalttheoretische Ansätze u. v. m. » Homo Timore – philosophische Anthropologie der Angst

 

Quellen

(1) T. Fuchs und S. Micali: Die Enge des Lebens. Zur Phänomenologie und Typologie der Angst. In: Angst. Schriftenreihe der DGAP, Bd. 6, Verlag Karl Alber, 2017
(2) C. Demmerling und H. Ladweer: Angst. In: Philosophie der Gefühle. Metzler, 2007
(3) Metzler Lexikon der Philosophie: Angst. Metzler, 2008
(4) Duden Herkunftswörterbuch, Brockhaus 2006

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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