Angst vor Blicken bei Sozialphobie – Im Blick des anderen
Die Blicke der anderen sind für Menschen mit Angststörung, v.a. Sozialphobie, ein gefürchteter Moment. Die Augen werden zum Spiegelbild eines verzerrten, hässlichen Selbst. Aber was genau passiert da bei Sozialphobikern*innen? Und warum spielt der Blick anderer Menschen so eine große Rolle? Der Philosoph Sartre lieferte interessante Denkansätze.
Augenkontakt & Sozialphobie
Die Angst vor fremden Blicken ist wesentlich bei Sozialer Phobie.
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– Existenzielle Scham ist das Wesen der Sozialphobie
– Die Schamangst (Furcht vor beschämenden Erfahrungen)– Die Rolle des Blickes (bzw. Auges)
– Doch warum spielt das Angesehen-werden so eine große Rolle für Betroffene?– Angst vor Blicken & Augenkontakt
– Der Blick des anderen (Sartre)
– Entfremdung & Korporifizierung
– Dein Selbst als Objekt
– Scham & Macht– Fazit: Angst vor Blicken
Die Augen der anderen
Sie fühlen sich stechend & kalt an. Durchbohrende Blicke von allen Seiten.
Einige Menschen mustern mich direkt. Ihre Augen wandern neugierig an mir, an meinem Körper herab, der mir in diesem Augenblick in seiner ganzen Unzulänglichkeit bewusst wird.
Andere schielen herablassend herüber. Im Spiegel Ihrer Augen deformiere ich zu einem Objekt, bewertet und entwertet.
Das ist spätestens der Moment, in dem die Panik aufwallt!
Mein Herz rast. Dröhnend schlägt es gegen meine Brust, als wollte es gleich platzen. Meine Beine zittern, alles dreht sich.
In diesen wenigen Sekunden läuft ein ganzer Film in meinem Kopf, in dem ich panisch & verzerrtem Gesicht zusammenbreche. Und niemand hilft mir.
Existenzielle Scham ist das Wesen der Sozialphobie
Egal wo Du bist, überall begegnest Du den forschenden & neugierigen Augen fremder Personen.
Was für die meisten Leute normaler Alltag ist, ist für Betroffene der Angststörung ein Seiltanz über den Abgründen der eigenen Daseinsberechtigung.
Eine Sozialphobie hat nichts mit Schüchternheit oder Introvertiertheit zu tun. Beides sind Charaktereigenschaften.
Ein introvertierter Mensch ist zurückhaltend und in sich gekehrt – aber nicht verängstigt.
Schüchterne Personen können wiederum tatsächlich etwas Angst vor fremden Kontakten haben, das ist aber nicht krankhaft oder leidvoll.
Mehr als bloße Angst…
In der herkömmlichen Psychotherapie wird die Sozialphobie ganz selbstverständlich allein über ihre Angst-Komponente charakterisiert. Und vielfach mit einem Mangel an Sozialkompetenz in Verbindung gebracht.
Doch auch das sind oberflächliche Etiketten, die nicht das Wesen der Sozialphobie erfassen. Wenn überhaupt bildet die Angst nur einen Teil der Realität von Betroffenen ab. (Vgl. auch Existenzängste)
Noch viel relevanter, als die blanke Angst, ist das tiefgreifende, toxische Schamgefühl, das Betroffene durchweg quält. Siehe auch Angst erleben – die phänomenologische Struktur der Angst
Die Schamangst
(Furcht vor beschämenden Erfahrungen)
Als Sozialphobikerin habe ich keine Angst vor Menschen, sondern vor Beschämung in Form von Abwertung, Spott oder Abweisung durch andere.
Die imaginären Bilder in meinem Kopf, die mich aus dem Blickwinkel des anderen zeigen, drehen sich stets darum, wie ich vom anderen in verschiedener Art und Weise entwürdigt werden könnte. Und sei es nur über einen abwertenden Blick oder Gedanken.
Es wäre daher in jeder Psychotherapie ziemlich wichtig, die Schamangst in den Fokus zu rücken, anstatt allein die Angstphänomene zu behandeln.
Die Rolle des Blickes (bzw. Auges)
Soziale Angststörungen können sich in verschiedenster Art und Weise ausdrücken. Während die einen größte Angst vor einzelnen Situationen haben, wie zum Beispiel davor, mit anderen Menschen zu sprechen oder mit ihnen zu essen, leiden die anderen unter der generalisierten Angst, von anderen genau beobachtet & verspottet zu werden.
Viele Experten (vgl. Wurmser, Seidler) betonen, die Rolle des Angeschaut-Werdens beim Schamgefühl. Es geht hier also durchaus um eine Art Visualisierung.
Eine wesentliche Bedingung für das Aufkommen von Scham ist die Öffentlichkeit: die wirkliche oder gedachte Aufmerksamkeit von anderen.
Doch warum spielt das Angesehen-werden so eine große Rolle für Betroffene?
Augen sind nicht nur ein Organ der Wahrnehmung, sondern auch der “Wahrgebung”.
Alles, was Du siehst, ist nicht einfach da, sondern wird von Deinem Körper, Gehirn und Geist gleichzeitig interpretiert.
Der Blick hat dadurch in vielen Kulturen der Welt eine zentrale Bedeutung.
Auch in der Entwicklungs-psychologie geht man davon aus, dass die Augen der Mutter das wichtigste Objekt für ein Baby sind, die dem Kind wichtige emotionale Informationen verraten.
Diese Theorie wird von der Emotionspsychologie gestärkt, die einen direkten Zusammenhang zwischen Blickkontakt, Intimität und Scham sieht. Der Emotionsforscher Tomkins spricht sogar davon, dass
„die Wechselwirkung zwischen den Augen die intimste Beziehung ist, die zwischen den Menschen möglich ist.“ (6)
Angst vor Blicken & Augenkontakt
Augenkontakt stellt also 2 Menschen in einen Bezug zueinander.
Diese Beziehung ist im Fall von Angststörungen jedoch negativ geprägt,
Du wirst nicht einfach nur von jemandem angesehen, sondern bis ins tiefste Mark von forschenden Blicken durchdrungen, die dich abschätzen und beurteilen.
Die Augen der anderen erhalten in Deinem Kopf den Charakter einer Überwachungskamera, die alle Deine Bewegungen und Gefühlsregungen in Großaufnahme prüft.
Ob beim Essen oder Trinken in der Öffentlichkeit, Schreiben, Küssen oder Telefonieren – in Deiner Wahrnehmung wirst Du komplett auf Fehler, Können & Wert durchgescannt.
Ganz besonders auf die Fehler, so als befändest Du Dich in ständiger Gefahr als Hochstapler & minderwertiger Mensch entlarvt zu werden.
Der Blick des anderen (Sartre)
Was passiert da eigentlich genau?
Beim Existenzphilosophen Sartre finden wir interessante Denkimpulse: Er führt aus, was passiert, wenn Dich der Blick eines anderen Menschen erfasst.
„Ich befinde mich in einem öffentlichen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und längs des Rasens Stühle. Ein Mensch geht an den Stühlen vorbei.
Ich sehe diesen Menschen, ich erfasse ihn gleichzeitig als einen Gegenstand und als einen Menschen.“
– Sartre, S. 457
Evtl. interessant für dich:
Entfremdung & Korporifizierung
In diesem Augenblick wirst Du Dir Deiner selbst bewusst: Du siehst Dich so, wie Du dem anderen erscheinst.
Du wirst zum Objekt, zum An-sich-sein für den anderen, der die Rolle des Subjekts einnimmt.
vgl. auch Korporifizierung
„Ich werde erblickt, d.h. ich werde aus meiner eigenen Zentralität herausgerissen und zu einem Gegenstand innerhalb einer fremden Welt. Der Blick dezentralisiert meine Welt.
Auch meinen Körper sehe ich nur in Ausschnitten, zumal mein Gesicht bleibt mir verborgen, immer "im Rücken" meines Blicks.
Vermittels dieses blinden Flecks bemächtigt sich nun der Blick des Anderen meines Leibes, erfasst ihn und verwandelt ihn in einen gesehenen Körper.“
Mit einem Schlag erkennst Du, dass Du vom anderen getrennt bist. Der Blick stellt keine Beziehung, keine Gemeinsamkeit her, sondern schmettert Dich ins bedrohliche Abseits.
Dein Selbst als Objekt
Als Mensch, der an Schamkrankheit leidet, geht die Verbindung zu Deinem Körpergefühl verloren.
Du erlebst Dich nicht mehr als Einheit, fühlst Dich in Dir selbst fremd.
Im Blick des anderen wirst Du zum physischen, körperlichen Objekt degradiert.
Die Blicke der anderen verdinglichen
Die Blicke erscheinen Dir nicht neutral oder wohlwollend. Es geht hier auch gar nicht so sehr, um den Inhalt der Wertung – also, ob es eine Abwertung oder sogar Aufwertung ist.
Es geht hier überhaupt darum, von jemanden BEWERTET zu werden.
Dazu braucht es übrigens keine reale Situation. Der objektifizierende Blick des anderen kann auch rein in der Fantasie bestehen.
Scham & Machtgefälle
Schamgefühle gehen immer mit Ängsten einher: nämlich der Angst vor Bloßstellung, Verachtung, Erniedrigung.
Das Angst- & Schamerleben ist so brutal, dass es zur Derealisation & Depersonalisation kommen kann: einer Entfremdung & Abspaltung von der Welt und / oder dem eigenen Selbst.
Sartres „unmittelbarer Schauder“ (S. 246) beschreibt die Schamerfahrung sehr gut. Er drückt damit aus, wie heftig der Affekt aus Angst & Scham unkontrolliert, ja sogar schmerzhaft auf Körper & Geist übergreift.
Hinzu kommt ein Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber dem anderen, der Dich erblickt.
Du bist hilflos der Macht des anderen unterworfen.
„Das Fremde nimmt nicht nur wahr, beobachtet nicht nur, sondern bekommt Beurteilungsmacht“
(Seidler, 7)
Scham betrifft immer Dich als ganze Person. Sie nimmt Dir als Sozialphobiker*in die Daseinsberechtigung, erschüttert Dein ganzes Welt- und Selbstbild.
„Scham ist ein Zustand der Verstörtheit ausartender reflexiver Akt, der dadurch scheitert, dass der Mensch sich in ihm, vor einer Instanz, von der er sich abwendet, als etwas erfährt, was er ‚nicht ist’, aber auf unentrinnbare Weise ‚doch ist’.“
(Günther Anders, 6)
Die kognitive Repräsentation des Selbst
Die Ausführungen Sartres & der phänomenologisch-anthropologischen Psychiatrie (vgl. Phänomenologie) stimmen mit psychologischen Erkenntnissen überein: die Rolle des fantasierten Selbstbildes, der kognitiven Repräsentation des Selbst. (vgl. das Kognitive Modell von Clark & Wells 1995), spielt eine tragende Rolle.
Sozialphobiker*innen konstruieren in ihrem Kopf eine Vorstellung von sich selbst, wie andere sie sehen. Meist visuell oder akustisch. Das Selbstbild ist dabei extrem negativ verzerrt.
Beispiele:
Fürchtest Du vor anderen zu erröten, siehst Du eine Vorstellung von Dir mit leuchtend rotem Gesicht, brennend und mit entstellter Mimik.
Hast Du Angst, Dich vor anderen durch Ungeschicklichkeit zu blamieren, bestürmen Bilder Deinen Geist, in denen Du stolperst, auffallend idiotisch wirkst oder sonst etwas Peinliches machst, während die anderen Dir amüsiert zusehen.
Fazit: Angst vor Blicken
Laut Existenzphilosophie, phänomenologischer Psychiatrie & Schematherapie stecken hinter Angststörungen oft tiefgreifende, existenzielle Schamgefühle
Das ist deswegen eine schlüssige Theorie, weil für Sozialphobiker*innen & KDS-Patienten - & Patientinnen das Angeschaut-werden eine zentrale Rolle im Schamerleben spielt. Denn Scham & Blickkontakt hängen eng zusammen.
Menschen mit Sozialangst nehmen ihre Mitmenschen in einer angst- und schambesetzten Sicht wahr: Alles & jeder wirkt bedrohlich.
Im Blick des anderen entstehen in Angstpatientinnen und Angstpatienten Filme im Kopf, die eine stark negative kognitive Repräsentation des Selbst aus der Perspektive des anderen zeigen.
Sartres Erklärungen verdeutlichen, dass es viel mehr der Akt der Wertung ist, der Schamgefühle wachruft, weniger der Inhalt des Urteils.
Quellen:
1) Ceren Dogan: „Die Angst, das Gesicht zu verlieren“: Phänomenologische und psychoanalytische Zugänge zum Schamerleben und der sozialen Phobie
2) dpa: Die Furcht vor den Blicken der anderen
3) Hans Morschitzky und Thomas Hartl: Raus aus dem Schneckenhaus – Soziale Ängste überwinden
4) Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts
5) Tamara Niebler: Angst verstehen – Angststörungen mit Philosophie erklären
6) Jens Tiedemann: Schamgefühle und –konflikte in der Psychotherapie
7) Günther H. Seidler: Scham und Schuld - Zum alteritätstheoretischen Verständnis selbstreflexiver Affekte
8) Dunja Voos: Scham – ein zwischenmenschliches Gefühl (Medizin im Text)
9) Mario Jacoby: Scham-Angst und Selbstwertgefühl – Ihre Bedeutung in der Psychotherapie
10) U. Stangier, T. Heidenreich, M. Peitz: Soziale Phobien – Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsmanual