Depression als Christ – Wie kann das sein?

Eigentlich dürfte es so jemanden wie mich gar nicht geben: einen depressiven Christen. Ich bin katholischer Christ, glaube an Gott – und habe dennoch immer wieder mit Depressionen zu tun. Ja: dennoch. Der christliche Glaube vermittelt schließlich eine zutiefst positive, lebensbejahende, erlösende Botschaft: Gott liebt den Menschen, er nimmt ihn an, wie er ist und er schenkt ihm Anteil an seiner göttlichen Herrlichkeit. Diese Zusage soll alles überstrahlen. Jedes weltliche Problem soll im Licht des Glaubens betrachtet werden – und damit letztlich verschwinden.

 

Theorie und Praxis

Soweit die theologische Theorie. Die Praxis sieht anders aus.

Es gibt Situationen, in denen gerade dieser befreiende Glaube von belastenden Zweifeln angefochten wird. Nach Schicksalsschlägen, wenn die Theodizeefrage gestellt wird und ohne Antwort bleibt.

Und es gibt Lebenslagen, in denen der Zugang zum Glauben gehemmt ist. Depressive Phasen etwa. Dann tut es regelrecht weh, an die gebotene Freude des christlichen Glaubens erinnert zu werden:

Freut euch im Herrn zu jeder Zeit!
Noch einmal sage ich: Freut euch!
— Phil 4,4
 

Was aber, wenn das mit der Freude nicht mehr geht?

Wenn es einfach nicht mehr geht?

 

Lebenskrise und Glaubenskrise

Zusätzlich zur Lebenskrise kommt dann die Glaubenskrise. Die Krisen bedingen einander, befeuern sich. Die Anderen, das sind nicht nur die Erfolgreichen, während man selbst versagt hat, sondern auch die Erlösten, während man selbst im Zweifel versinkt und immer mehr verzweifelt. An sich selbst, am eigenen Glauben, an Gott.

Das Existenzielle der Depression zeigt sich schonungslos.

Das betrifft nicht nur Normal-Christen wie mich, sondern auch große Heilige. Ihre oft als „dunkle Nacht“ bezeichneten Zweifels- und Verzweiflungsphasen sind geradezu typische Bestandteile ihrer Biografien. Und wenn wir noch tiefer schürfen, wird klar, dass sich der depressive Christ in sehr guter Gesellschaft befindet.

Das Wort „Depression“ oder „depressiv“ kommt in der Bibel zwar nicht vor, doch wird die Krankheit in der Heiligen Schrift des Christentums an vielen Stellen mit ihren typischen Ausdrucksformen beschrieben: Traurigkeit, Mutlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Müdigkeit. Suizidgedanken.

 

Psalmen und Propheten – Zeugnisse von Depression in der Bibel

Die Psalmen 69 und 88 sind dafür eindrucksvolle Beispiele. Zugleich machen diese Klagegebete die Ambivalenz des gläubigen Vertrauens auf Gott deutlich: Das Gefühl, dass alles verloren zu gehen droht, wenn der Glaube verloren geht, mischt sich mit der letzten, unauslöschlichen Gewissheit, dass Gott allein die rettende Wende bringen kann, obwohl man gerade das momentan nicht wirklich zu glauben vermag.

Dennoch richtet sich das Gebet auf Gott, mal hilflos und anklagend, mal voll theologischen Trotzes. Die tiefe innere Gewissheit der Heilszusage Gottes und die aktuelle Überzeugung, von Gott so weit entfernt zu sein, dass die Einlösung der Zusage, die Erlösung also, durch die Distanz unmöglich geworden ist, ringen miteinander um die Aufmerksamkeit der Seele

Dieses Ringen wird in der Bibel oft beschrieben. Depressive Phänomene treffen dort auch mal Könige (wie Saul) und Propheten (wie Jeremia, Elija und Jona). Und spricht nicht Jesus selbst den Gedanken aus, der sich dem depressiven Christen immer wieder aufdrängt:

Mein Gott, mein Gott,
warum hast Du mich verlassen?
— Mk 15,34
 

Hiob – und DJ Ötzi

Letztlich kann es wohl nur darum gehen, eine Depression als Krankheit zu begreifen und anzunehmen, eine Krankheit, die jede und jeden treffen kann, unabhängig von Glaube und Weltsicht. Und dass diese keine Strafe Gottes ist, hat Jesus selbst klargemacht, indem er Krankheit und Sündhaftigkeit entkoppelte (vgl. Joh 9,1-3).

Vgl. auch: Depression als Strafe Gottes? – Ein Beispiel schlechter Theologie

Und vielleicht kann es gelingen, im Glauben Kraftquellen zu entdecken, die bei der Bewältigung der Depression helfen. Beispiele dafür gibt es jedenfalls, in der Bibel (etwa Hiob) und in der Welt heute (2). Weiterlesen: Hiob & die Depression – Ein Buch der Hoffnung


Quellen:

  1. Bibel

  2. KNA: DJ Ötzi: Der christliche Glaube half mir in der Depression (20.10.21)

Dr. phil. Josef Bordat

Gastautor Dr. phil., Josef Bordat ist studierter Philosoph, Soziologe & Dipl.-Ing. Er arbeitet als Journalist & Autor und setzt sich dezidiert mit religiös-philosophischen Themen auseinander. Auf seinem Blog und in seinen Texten gibt er Einblicke in eigene Depressionserfahrungen und deutet sie aus christlicher Perspektive.

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