Homo solus – Doxai und Paradoxa des kulturellen Selbstverständnisses
von Dr. phil. Michael Mehrgardt:
Der postmoderne Mensch, der Homo solus, ist ein einsamer Steppenwolf, dem Halt gebende Beziehungen und - auf gesellschaftlicher Ebene - Sozialpartnerschaft, Gerechtigkeit und Chancengleichheit nicht mehr so recht gelingen wollen.
Können wir nur noch Single?
Laut Panorama-Bericht des ZDF vom 22.06.2023 (1) stieg der Anteil der Single-Haushalte in Deutschland von 19 % im Jahr 1950 auf knapp 41 Prozent in 2022.
(1) https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/haushalt-statistisches-bundesamt-familie-100.html
Ist Psychotherapie reine Psychotechnik?
Auch die Psychotherapie scheint mit Hilfe hoheitlicher Regelungen zunehmend beziehungslos geworden zu sein. Aber gerade in Zeiten, in denen die Psychotherapie staatlich gemaßregelt wird, benötigt diese, um nicht vollends zur Psychotechnik zu verkommen, den kritischen Blick auf ihre eigenen Prämissen. Und welche Brille gibt diesem Blick eine klarere und durchdringendere Schärfe als die gestaltpsychologische?*
* Hiermit meine ich vornehmlich die Berliner Schule der Gestalttheorie um Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Metzger, Wolfgang Köhler und Kurt Lewin. Ob diese kompatibel mit der Theorie der Gestalttherapie nach Perls, Hefferline und Goodman ist, ist umstritten.
Besinnen wir uns also der anarchistischen Tradition des Gestaltansatzes** und schauen in dem folgenden Essay auf einige Grunddimensionen menschlichen Leidens! Dadurch klärt sich der Blick für erstarrte gesellschaftliche Regeln (Doxai) und die Möglichkeiten, diese zu übertreten (Paradoxa).
** Nach meinem Eindruck hat die heutige Gestalttherapie ihre anarchistische Schärfe allerdings größtenteils verloren.
Das Kapitel, in dem ein alberner Witz erzählt wird
Es ist Nacht. Um eine Straßenlaterne torkelt, den Blick suchend auf den Boden gerichtet, ein Betrunkener. Ein Passant bleibt stehen, betrachtet dieses Schauspiel eine Zeit lang und fragt schließlich: „Suchen Sie etwas?“
„Hab‘ mein‘ Schschlssl verlohrn“, erwidert der Angesprochene lallend.
Daraufhin beteiligt sich der Passant hilfsbereit an der Suche.„Wo haben Sie Ihren Schlüssel denn verloren?“, will dieser wenig später wissen. „Ach, da hinn’n, inner Toreinfahd ...“
„Und warum suchen Sie dann hier?“ Entgeistert guckt der Helfer den Betrunkenen an, der sich verlegen am Kopf kratzt und erwidert:
„Hier isses heller ...“
Was ist ein Witz?
Sollten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, diesen Witz noch nicht kennen, dann nehme ich jetzt mal an, dass Sie über ihn lachen müssen. Warum aber lachen wir über Witze?
Weil sie, möchte ich antworten, Dinge miteinander in Verbindung bringen, die „eigentlich“ nichts miteinander zu tun haben, weil sie auf überraschende und ver-rückte Weise über Grenzen gehen, die wir eigentlich für unüberschreitbar halten.
Dennoch haben Witze eine geheime Logik, der wir uns nicht entziehen können, und genau dies macht die Spannung aus, derer wir uns dann per Zwerchfellspasmen entledigen.
Paradoxa
Insofern haben Witze mit Paradoxien viel gemein, nur dass Wissenschaftlerinnen über letztere ausgesprochen selten lachen können; eher raufen sie sich verzweifelt die Haare.
Ihre Strategie zur Spannungsreduktion besteht im Allgemeinen darin, dass sie das Paradoxon kurzerhand zum geistigen Sperrgebiet erklären, welches von reputationsgesteuerten Forschern nicht mehr betreten werden darf.
Vielleicht schieben sie noch eine Begründung nach (oder vor), in der sie streng auf unterschiedliche logische Ebenen oder Kategorienfehler des Paradoxons verweisen.
Paradoxien sind, mit Paul Watzlawick (5) gesprochen, Warnlampen, die zu blinken beginnen, sobald wir im Begriff sind, vertrautes Gebiet zu verlassen.
Hier geht’s nicht weiter! - sagt unsere Logik.
Betreten verboten! - stellt sich die herrschende Moral in den Weg.
Vorsicht: Hässlichkeit und Gestank! - meldet sich die Ästhetik, und das Machtwort spricht schließlich die pragmatische Vernunft mit ihrem Urteil:
Das bringt sowieso nichts!
Doxai
Aber dann meldet sich eine Stimme, die ein bisschen nach Thomas Kuhn und ein bisschen nach Paul Feyerabend klingt, welche die Neugier, den Reiz des Verbotenen herausstreicht: Warum sollten wir uns von den Doxai * einsperren lassen, von den Regeln also, denen nach Pierre Bourdieu sowohl Protagonisten als auch Antagonisten eines Sachgebietes fraglos Folge leisten? Über die nicht disputiert wird, weil das durch sie Verborgene zu banal, zu spekulativ, zu unwissenschaftlich, zu destruktiv oder zu unsichtbar ist?
* Doxa, vom Altgriechischen δόξα (dóxa), pl. Doxai, bedeutet Meinung. Bourdieu fasst mit diesem Terminus diejenigen Überzeugungen einer Gesellschaft zusammen, die von ihr unhinterfragt als wahr angenommen werden. Der „Gegenspieler“ der Doxa, das Paradox(on), pl. Paradoxa, bezeichnet eine scheinbar falsche Aussage, eine Aussage, die der zugehörigen Doxa widerspricht. Bei genauem Hinsehen weist sie jedoch auf eine höhere Wahrheit oder einen höheren Sinn hin.
Laut Bourdieu prallen in jedem Wissenschaftsbereich die etablierten, orthodoxen Auffassungen und die revolutionären, heterodoxen Entwürfe aufeinander. Er formuliert:
Das Feld der Argumente, welche Orthodoxie und Heterodoxie durch ihre Kämpfe definieren, ist abgegrenzt gegenüber dem Hintergrund des Feldes der Doxa, diesem Aggregat von Vorannahmen [...] welche die Antagonisten als selbstevident ansehen und außerhalb des Argumentationsgebietes, weil sie stillschweigende Bedingungen für die Argumente bilden.“ (7)
Die Doxai dienen, quasi als Konsens im Dissens, als gemeinsamer Boden, als umgrenztes Schlachtfeld, auf dem die Antagonisten ihre Kämpfe austragen.
Paradoxa drängen auf Grenzüberschreitungen
Gerade dieser „Bodensatz“ selbstverständlicher Wahrheiten und unbesprochener Prämissen soll uns hier interessieren; denn birgt nicht gerade das Neben-der-Doxa-Liegende, das Para-Doxon, Hoffnung auf geniale, weil ver-rückte Auswege aus den zahlreichen Dilemmata der Menschheit?
Ja, wir lachen über den Betrunkenen, wir rümpfen verächtlich die Nase. Aber wir tun dies, weil wir ganz selbstverständlich einer Doxa verhaftet sind, welche da lauten könnte:
Suche stets nur dort, wo du etwas verloren hast, sprich: wo es erlaubt ist!
Aber: Ist unser Betrunkener denn wirklich einfältig und dumm? Ist es nicht vielmehr so, dass sein Geist „gelockert“, d.h. losgelöst vom Normalen agiert? Wenn wir in diesem Witz die Komplexität erhöhen, bspw. indem wir uns eine längere Geschichte dazu einfallen lassen, wäre es doch durchaus vorstellbar, dass der am „falschen“ Ort Suchende auf eine Spur des Schlüssels stößt.
Vielleicht hat er den Schlüssel bereits vor Tagen verloren? Vielleicht ist seitdem viel passiert? Hat vielleicht jemand mit seinem Fuß gegen den Schlüssel getreten? Könnte etwa ein Kind mit ihm gespielt haben? Hat ein Wohlmeinender ihn im Hellen deponiert, damit er besser gefunden wird?
Komplexe Systeme
Man könnte sogar vermuten: Je komplexer das Gebilde ist und je mehr Prozesse in ihm ablaufen, desto wahrscheinlicher ist es, dass jeder beliebige Schlüsselsucher eine Spur jedes beliebigen Schlüssels ausfindig macht. Anders gewendet:
Wo immer man in einem komplexen System nach einem Schlüssel (= einer Lösung, einer Ursache) sucht, wird man auf eine Spur stoßen.
Das Problem dabei ist stets nur die Neigung des Forschers, die gefundene Spur, weil er sich der ungeheuren Komplexität des Feldes nicht bewusst ist, für die Ursache oder die Lösung zu halten.
Ich will das Paradoxon, welches zum Übertreten der von der Doxa gebotenen Grenze auffordert, noch als Negation der zugehörigen Doxa formulieren:
Suche stets da, wo du nichts verloren hast, d.h. wo es nicht erlaubt ist!
Es gibt sicherlich viele solche Doxai. Eine weitere Doxa ist:
Krankheit ist schlecht. Sie muss vermieden, bekämpft, ausgemerzt werden!
Das dazu „passende“ Paradoxon könnte lauten:
Es ist gesund, krank zu sein!
Lösungen, die Probleme machen …
Kommen wir nun zur Ausgangsfrage zurück, zu der ich sogleich meine Grundthese formulieren möchte: Wenn wir uns fragen, warum uns Beziehungen, Chancengleichheit, Sozialpartnerschaft und Gerechtigkeit nicht mehr so recht gelingen wollen, müssen wir konstatieren, dass wir an die Grenzen desjenigen Gebietes gelangt sind, welches durch die fraglos gültigen Doxai aufgespannt wird.
Wir finden keine befriedigenden Lösungen, egal ob sie konservativ oder fortschrittlich motiviert sind. Wir schieben uns nur gegenseitig die Schuld für die Misere in die Schuhe und damit die Verpflichtung, diese zu lösen.
Ich bin überzeugt, dass dieser Weg in die Sackgasse führt. Also bleibt uns nur der unbequeme und manchmal beängstigende Weg, an den Prämissen zu rütteln in der Hoffnung, neue Fragen zu (er)finden und so unseren Erkenntnisraum zu erweitern.
Paradoxa können Auswege sein!
Ich will also in der vorliegenden Arbeit versuchen, diejenigen Doxai ausfindig zu machen, die uns immer wieder daran hinderten und weiterhin hindern werden, förderliche soziale Gebäude zu errichten.
Im Anschluss daran werde ich die notwendigen Paradoxa formulieren, die uns einen Ausweg aus den gesellschaftlichen Aporien weisen können. Dies möchte ich von einem marginalen Standpunkt aus tun, weil ein solcher den Blick auf derart tief liegende Prämissen eher freigibt als die Perspektive eines institutionell Eingebundenen.
Ich werde diesen Blick als Psychotherapeut „vom Rande her“ auf den kulturellen, verborgenen Untergrund richten, an dem viele Menschen und alle Patienten - ohne es zu wissen - leiden.
Das Kapitel, in dem das Leiden nicht verrückt, sondern verrückend genannt wird
Meine Chancen, als Psychologischer Psychotherapeut einige dieser unbesprochenen Prämissen zu Gesicht zu bekommen, waren über viele Jahre recht gut: Ich konnte beobachten, dass Menschen, die mich in Lebenskrisen aufsuchten, genau genommen an immer wieder denselben zentralen Doxai unserer Kultur litten und paradoxe, über diese hinaus weisende Symptome produzierten, die sie selbst und ihre Umwelt typischerweise als „Störung“ oder als „ver-rückt“ empfanden.
Deshalb gaben sie ihnen Namen, die unmissverständlich verkündeten, dass es sich hier um fehlerhafte, unnatürliche Vorgänge handelte, welche auszumerzen seien.
Meine Perspektive war günstig, weil ich randständig, d.h. ohne feste institutionelle Eingliederung, arbeitete. Im Jahr 1999 wurden meine Kollegen und ich im Vollzug des Psychotherapeutengesetzes von einem riesigen Moloch namens „Gesundheitswesen“ geschluckt - Euphemisten bezeichnen diesen Vorgang als Integration. Die Psychotherapie erfuhr eine schulmedizinische „Behandlung“ und rüstet sich nun mit dem neuen Image der Psychomechanik zum Sturm auf die Patientenscharen.
Leider muss ich zugeben, dass sich auch mein Blick für das Ganze, Sinnhafte und Grundsätzliche unter der Gleichschaltung zu trüben begann. Ich hoffe jedoch, dass mich dieser mein Artikel und ähnliche Arbeiten anderer Autoren vor meiner vollständigen Verscheuklappung bewahren können.
Soziale Aporien
Um den Doxai, die ich hier vorstellen möchte, auf die Spur zu kommen, versuche ich, das Leiden Hilfesuchender auf die folgenden vier Grunddimensionen zu reduzieren, die ich als grundlegende Aporien unserer Kultur ansehe:
das Leiden am fehlenden Du:
Ich bin einsam, bin anders als die Anderen, bin nicht normal, gehöre nicht dazu, bin verrückt;das Leiden am fehlenden Wissen:
Ich sehe die Welt nicht richtig, nicht mich selbst und ebenso wenig den Anderen; ich weiß nicht, also bin ich nicht;das Leiden an fehlender Macht:
Ich kenne das Problem, kenne die Lösung, aber ich bin ohnmächtig, etwas zu tun;das Leiden am fehlenden Schatten:
Ich fühle in mir etwas, was zu mir gehört, was aber nicht da sein sollte: Böses, Trauer, Ungehorsames, Unnützes, Alter, Krankhaftes, Tod, Lust, Neugier.
Natürlich spüren heute im Allgemeinen weder die Patienten selbst noch die Behandler das kreative und kulturkritische, das Grenzen verrückende Potenzial der Symptome. In Bewegungen wie dem Sozialistischen Patientenkollektiv oder der Free Clinic Heidelberg, Ausläufern der 1968-er, erhoffte man von diesem revolutionären Aspekt der Symptome die Initialzündung für gesellschaftliche Veränderungen.
Heute ist davon keine Rede mehr.
Heute wird Leiden, ent-wesentlicht, entkernt, versachlicht, individualisiert; dem Leidenden wird nicht mehr begegnet, sondern Begegnung vorenthalten. Bezeichnenderweise wird Leiden heutzutage Störung genannt. Mit diesem ebenso unauffälligen wie genialen verbalen Kunstgriff des Zeitgeistes hat das chirurgische Problemlösungs-Modell Oberwasser bekommen.
Ja, es taucht nun nicht einmal mehr die Idee auf, es könnte Alternativen geben. Ich habe das Böse tief im Gesunden herausgeschnitten, pflegte vor Jahren ein Chefarzt seinen Patienten die an ihnen vorgenommenen Krebs-Operationen zu umschreiben. Und genau so wird heute Krankheit, werden Probleme überhaupt angesehen: als Störung, als Böses, das es herauszuschneiden und auszumerzen gilt.
Insofern fällt dieser Doxa, welches im Leiden am fehlenden Schatten aufscheint, die Funktion des Grenzwächters zu, indem es die gesellschaftlichen Aporien, bevor sie sich als solche offenbaren, dem Einzelnen aufbürdet.
Diesen Grenzposten beginnen wir zu verjagen, wenn uns unsere Störung wieder als Leid erfahrbar wird, wenn mit den erwachenden Sinnen auch der Sinn zurückkehrt und die Botschaften des Krank-seins durch die nachlassende Selbstanklage hindurch schimmern. Der Grenzposten kann seine Stellung nicht länger halten: Immer deutlicher gibt er den Blick auf wichtige Doxai frei, auf genau diejenigen „Selbstverständlichkeiten“, die verhinderten, dass wir uns selbst verstanden.
Ich will nun den Versuch unternehmen, die hinter den vier Grunddimensionen des Leidens stehenden Doxai zu identifizieren, um dann für jedes ein passendes Paradoxon zu entwickeln, von dem ich hoffe, dass es - in allgemeiner Betrachtung - förderlich für unser Wohlergehen ist und - in spezieller Sicht - positive Beziehungen, Chancengleichheit, Sozialpartnerschaft und Gerechtigkeit zu verwirklichen hilft.
In dem thematischen Zusammenhang dieser Arbeit werde ich dann auf die erste Doxa ausführlich eingehen und die verbleibenden Doxai anschließend in einer Zusammenschau blitzlichtartig betrachten. Wahrscheinlich müsste ich gar nicht mehr ausdrücklich erwähnen, dass ich keine absoluten Wahrheiten zu verkünden gedenke, sondern lediglich durch eine von vielen gleichermaßen möglichen Brillen schaue, eine Brille aber, für deren Verwendung ich nach Kräften werben möchte.
Die 4 zentralen Doxai
Nun zu den vier zentralen Doxai, die jeweils „hinter“ den oben aufgezählten Grunddimensionen des Leidens bzw. Aporien unserer Kultur stehen:
Die Identitäts- (bzw. topografische) Doxa
Ich bin ich, und du bist du.
Oder: A = A und A ≠ (ungleich) Nicht-A
(vgl. das Leiden am fehlenden Du);
Die Doxa des Wissenden
Die Realität ist prinzipiell erkennbar.
Oder: Wer nicht weiß, der nicht ist
(vgl. das Leiden am fehlenden Wissen);
Die interventionistische Doxa
Jedes Problem ist prinzipiell lösbar.
Oder: Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.
(vgl. das Leiden an fehlender Macht);
Die pragmatische Doxa:
Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Oder: Das Böse ist immer das Fremde.
Oder: Gut ist, was nützt
(vgl. das Leiden am fehlenden Schatten).
Zwecks Annäherung an die im Titel dieser Arbeit aufgeworfene These der Vereinzelung werde ich mich im Folgenden gründlich mit der ersten Doxa auseinandersetzen und aufzuzeigen versuchen, inwiefern diese einen äußerst hinderlichen Untergrund für ein konstruktives und effektives Miteinander bildet.
Ich werde aufzeigen, in welche Richtung der Diskurs fortentwickelt werden muss, um eine stabile Gründung für Beziehung und Sozialpartnerschaft zu errichten.
Anschließend werde ich einen Ausblick auf Wirkung und notwendige Änderungsrichtung der übrigen Doxai wagen.
Das Kapitel, im dem unser kulturelles Selbstverständnis dargelegt wird
Betrachten Sie mit mir einmal die Begriffe Chancengleichheit, Sozialpartnerschaft und Gerechtigkeit: Diese implizieren zumindest zwei Entitäten, zwischen denen irgendeine Art von Gleichheit usw. existiert (oder nicht). Darüber hinaus ist ein gemeinsames Kriterium (Chancen..., Sozial...) oder eine verbindliche Instanz (Moral oder Gesetz) angesprochen, eine Funktion also, welche ich in allgemeiner Diktion das Zwischen nennen möchte.
Wenn wir die Tiefenbedeutungen von Doxai analysieren wollen, können wir also nach dem Wesen der beteiligten Entitäten sowie des Zwischen fragen. Genauer:
Welches Wesen schreibt unsere westliche Kultur dem einzelnen Menschen einerseits und dem Zwischen(raum) andererseits zu?
Der zweite Teil der Frage ist schnell beantwortet: Meines Erachtens ist der Zwischenraum in unserem Verständnis fast ausschließlich formal definiert, d.h. durch physikalische Maße (wie Entfernungsmaße), durch Ge- und Verbote. Der Zwischenraum ist aber nicht wesentlich erfüllt.
Diese These möchte ich anhand unseres kulturellen Selbstverständnisses belegen, und dieses ist - so meine ich - gut anhand der Konstrukte zu erhellen, welche unsere Kultur über das Wesen des Selbst bzw. der Identität hervorgebracht hat. Ich will also versuchen, Selbst- und Identitätstheorien, Persönlichkeitsmodelle, Typologien, Charakterologien und Verhaltenstheorien in ihren Grundzügen darzustellen, voneinander abzuheben, um dann den grundlegenden Konsens im Dissens zu identifizieren und so zur Ebene der unhinterfragten Doxai vorzustoßen.
Es gibt die unterschiedlichsten Kategorisierungsversuche der bestehenden Theorien. Ich will mich auf eine Einteilung von Klaus Schneewind (8) beziehen, weil ich diese für die grundlegendste halte, was uns ja auf der Suche nach den gemeinsamen Prämissen eine gute Hilfe ist. Schneewind unterscheidet
(a) mechanistische Modelle in der Tradition der empiristischen Philosophie von
(b) organismischen Ansätzen, die aus dem philosophischen Idealismus hervorgegangen sind, und
(c) dialektischen Konzepten, welche auf entsprechenden Strömungen in der Philosophie gründen.
Mechanistische Modelle
Zu den mechanistischen Theorien zählen insbesondere die
Typologien
(bspw. von Hippokrates, Ernst Kretschmer, William Sheldon), in denen bestimmte Erscheinungsformen des menschlichen Charakters bestimmten körperlichen Merkmalen zugeordnet werden. Z.B. entspricht der Charaktertyp des Melancholikers dem Vorherrschen des Körpersaftes schwarze Galle.
Eigenschaftstheorien
(faktorenanalytische Persönlichkeitstheorien, z.B. von Raymond B. Cattell), in denen die Einzelnen durch die unterschiedlichen Ausprägungen von vorgegebenen Eigenschaften, ihr jeweiliges Eigenschafts-Profil, quantitativ voneinander abgehoben werden.
Freuds psychoanalytische Persönlichkeitstheorie
in welcher ein Triumvirat von psychischen Apparaturen – Es, Ich und Über-Ich – das menschliche Verhalten steuert.
Lerntheorien
(z.B. John B. Watson, Burrhus F. Skinner, Iwan Pawlow, Albert Bandura, Frederick Kanfer), denen gemäß Verhalten gesteuert wird durch Muster äußerer und innerer Reize, so dass „Inhalte“ von Persönlichkeit oder Selbst praktisch ohne Belang sind.
Diskussion
Die Differenzen zwischen diesen Modellen wurden zum Teil recht kämpferisch und ideologisch ausgefochten. Dennoch fanden und finden sie - aus einer grundsätzlichen Perspektive betrachtet - allenfalls auf einer mittleren Abstraktionsebene statt, bspw. hinsichtlich der Frage, ob Verhalten internal oder external gesteuert sei.
Insofern konnte als „fortschrittlicher“ Kompromiss auch lediglich ein additiver Interaktionismus („Beides ist richtig.“) gelingen, in welchem die grundlegenden Infragestellungen ausgeklammert blieben.
Gemeinsam ist diesen Menschenbildern die selbstverständliche Projektion technischer, mechanischer und hydraulischer Vorgänge auf das Lebendige.
Demnach ist Persönlichkeit aus beliebigen Einzelteilen summativ zusammengesetzt und wird angetrieben wie eine kartesianische Maschine, welche eindeutig, kontrollierbar und vorhersagbar funktioniert.
Im Gegensatz zu Descartes‘ Intention findet diese Maschinentheorie nunmehr nicht nur Anwendung auf die res extensa, die ausgedehnte Materie, sondern auch auf die res cogitans, das denkende Wesen.
Wolfgang Metzger (9) beschreibt und widerlegt diese impliziten Prämissen, die er den atomistischen, materialistischen, mechanistischen, eleatischen Grundsatz sowie den Grundsatz der Beliebigkeit und Unordnung nennt.
Symptomatisch für unsere Zeit ist, dass es gerade mechanistische Ansätze sind, welche die offizielle Richtlinienpsychotherapie beherrschen.
Auch wenn innerhalb des mechanistischen Lagers noch Glaubenskämpfe über den „wahren“ Verursachungsort geführt werden, sind diese Differenzen doch recht unwesentlicher Natur.
Die linear-mechanistische Grundhaltung nämlich mündet im Falle eines Defekts in einen pragmatischen Interventionismus, demzufolge
(a) dieser Defekt auf eine eindeutige Ursache reduzierbar,
(b) diese Ursache eindeutig erkennbar und
(c) mittels eines gezielten Eingriffs behebbar ist.
Auf die Bedeutung des Interventionismus werde ich später noch kurz eingehen.
Organismische Ansätze
Als Gegenströmung zu den mechanistischen Modellen können die organismischen Modelle aufgefasst werden. Sie erklären sich als Ausläufer des philosophischen Idealismus und der Humanistischen Bewegung in den Vereinigten Staaten, als deren Urheber Abraham Maslow gilt. Zu den organismischen Persönlichkeitstheorien zählen u.a.:
Die Selbsttheorie der Persönlichkeit von Carl Rogers
in der das Selbst als die zielgerichtete Tendenz des Organismus verstanden wird, sich zu aktualisieren, d.h. zu erhalten und weiter zu entwickeln.
Die Selbsttheorie der Gestalttherapie von Fritz Perls und Paul Goodman
in welcher das Selbst als das System der ständig neuen Kontakte definiert und an der gemeinsamen Grenze von Organismus und Umwelt verortet wird.
Selbstorganisationstheoretische (radikal-konstruktivistische) Ansätze
(bspw. Maturana & Varela, von Glasersfeld, von Foerster, systemische Familientherapie), in denen die Fähigkeit zur spontanen Ordnungsbildung, zur Konstruktion und sozialen Erzeugung der Welt hervorgehoben wird.
Diskussion
Organismische Sichtweisen verzeichnen als Gemeinsamkeiten
(a) das Interesse am ganzheitlichen Wesen des Menschen,
(b) die Zugrundelegung der Fähigkeit zur Selbstorganisation und Selbstreferenzialität,
(c) die Hintanstellung differenzieller Fragestellungen,
(d) die Rehabilitierung phänomenologischer und introspektiver Methoden,
(e) den Verzicht auf analytische Zergliederung zugunsten des Erfassens von Bedeutungszusammenhängen,
(f) die Betonung der Tendenz zur Selbstverwirklichung, zur Ordnungs- sowie Bedeutungsbildung.
In ihrer Kritik an den seelen- und sinnfreien Menschenbildern des mechanistischen Paradigmas und an seinen impliziten Ansprüchen nach fehlerlosem Funktionieren ist die humanistisch-organismische Bewegung sicherlich ein wichtiges Korrektiv.
Es darf aber nicht übersehen werden, dass diese gleichzeitig Wertungen und Normen konstruiert, die einerseits einladender klingen, andererseits aber auf subtilere und umfassendere Weise die Erfahrung des Ungenügens und Scheiterns produzieren.
Werte wie Emanzipation, sexuelle Befreiung, Selbstverwirklichung, guter Kontakt erfahren nur zu leicht ihre Deformation zu überhöhten Imperativen, deren Erfüllung dem Urteil selbstgerechter Gurus obliegt.
Wird in den mechanistischen Ansätzen der Mensch auf eine additive Ansammlung nahezu beliebiger Dimensionen reduziert, hinsichtlich ihrer jeweiligen Ausprägung quantifiziert, auf fehlerloses Funktionieren geprüft und ggf. instand gesetzt, so werden ihm im organismischen Ductus auf einfühlsame Weise, aber umso unmissverständlicher seine wesentlichen Schwächen vorgehalten:
Die Entwertung betrifft nun nicht mehr nur einzelne, behebbare Mangelfunktionen; die Entwertung wird ebenfalls umfassend und wesentlich: kontaktunfähig! beziehungsgestört! gepanzert! nicht im Fluss! reaktionär! ungeeignet! lebensfeindlich! etc..
Die gesamte Alltagsepistemologie wird gar als untauglich erklärt (Radikaler Konstruktivismus) und als eigentlicher Verursacher von Pathologie hingestellt (Systemische Familientherapie).
Dialektische Modelle
In der Definition dialektischer Konstruktionen tauchen viele Unstimmigkeiten auf: Die einen legen die Betonung auf die reziproke, interaktive Beziehung zwischen Person und Umwelt, eine Bestimmung, die allerdings einem rein mechanistischen Interaktionismus verhaftet bleibt.
Die anderen weisen die Unterscheidung zwischen unabhängigen (verursachenden) und abhängigen Variablen zurück und benennen dies als den Kern der dialektischen Zusammenschau.
Meines Erachtens reichen diese Bestimmungen nicht aus. Es reicht nicht aus, Dialektik als klappernden Rhythmus von Thesis, Antithesis und Synthesis zu verstehen, wie es Weischedel (10) einmal formulierte; es reicht nicht aus, diese anhand der drei Prinzipien des Widerspruchs, der Negation der Negation und des Umschlagens von Quantität in Qualität zu definieren.
Ich glaube, dass dialektische Zusammenhänge für uns Westler schwer zu begreifen sind, und zwar einfach, weil sie per definitionem nicht zu fassen sind. Wir müssen schon auf Nietzsche, Hegel oder Friedlaender zurückgreifen oder buddhistische Lehren heranziehen,
… um die Toleranz für begriffliche Unschärfe und logische Gleichzeitigkeit von einander negierenden Polen zu entwickeln, die für das Erfassen des dialektischen Prinzips vonnöten sind.
Meines Erachtens sind - mit Hegel (11) formuliert - weitere vier Bestimmungen unerlässlich, um einen dialektischen Zusammenhang zwischen den Polen A und B postulieren zu können:
Erstens gehören beide Pole untrennbar zusammen; das Eine kann nicht ohne das Andere existieren.
Zweitens sind beide nicht nur durch ihre Grenze zum jeweils Anderen bestimmt, sondern gründen ihr Sein in dem Sein des jeweiligen Gegenstücks.
Drittens enthält jeder Pol, da er nur durch die Negation des Gegenpols in seinem Wesen definiert ist, diesen stets auch in sich.
Und viertens vereinen sich beide Gegenstücke zu einer dialektischen Einheit, in welcher sie fortwährend sowohl sie selbst bleiben als auch ineinander übergehen.
Darüber hinaus muss eine dialektische Selbsttheorie, da sie die Frage nach „der Wahrheit“ sowohl im Zusammentreffen mehrerer Selbste thematisiert als auch im Aufeinanderprallen subjektiver und objektiver Welten, auf einer Erkenntnistheorie fußen.
Eine solche ist in der zweiten Doxa, der des Wissenden, angesprochen, worauf ich später noch kurz eingehen werde.
Diesen strengen Kriterien für einen dialektischen Entwurf einer Selbsttheorie halten bestehende, unter diesem Begriff subsumierte Modelle kaum stand. Dennoch seien einige von ihnen hier kurz aufgeführt, und zwar:
Der historische und dialektische Materialismus von Karl Marx und Friedrich Engels
in welcher der Mensch (historisch und materialistisch) als Produkt und Produzent der gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen wird. Dieser Ansatz wurde von Klaus Holzkamp zu einer kritisch-psychologischen Theorie ausgearbeitet.
Die humanistisch-sozialistische Charaktertheorie Erich Fromms
bildet eine Synthese von Marxismus und Psychoanalyse, in welcher die existenziellen Dichotomien als conditio humana in den Mittelpunkt gerückt werden.
Die Identitätspsychologie
(u.a. Heiner Keupp, Helga Bilden, Renate Höfer), in welcher die postmodernen Aporien (wie zunehmende Individualisierung, Verlust von Werten und Zugehörigkeiten) für die Entstehung von Patchwork-Identitäten verantwortlich gemacht werden.
Während der Marx-Holzkamp’sche Ansatz sowie Fromms Charaktertheorie immerhin einer historisch-dialektischen Denkweise verpflichtet sind, scheint die postmoderne Identitätspsychologie in eine rein additive Sicht des Menschen zurückgefallen zu sein. Statt auf die aporistisch anmutenden Antithesen der Postmoderne hin einen existenziellen Diskurs zu eröffnen, löst sie diese kurzerhand dadurch auf, dass sie Orientierungslosigkeit in Zugewinn kreativer Lebensmöglichkeiten umdeutet, Vereinsamung in interpersonelle Experimentierfreudigkeit und Identitätsdiffusion in Freiheit von Identitätszwang.3
Der Kommunitarismus
Einen anderen Weg beschreitet der Kommunitarismus, der - ausgehend von derselben Zeitanalyse - das existenziell-dialektische Verhältnis zwischen persönlicher Identitätsbildung und ihrer kommunikativen Bedingung in das Zentrum seines Diskurses stellt.
Das Kapitel, in dem von Ent-Gegnung die Rede ist
Um uns nun der Aufdeckung der grundlegenden Prämissen des westlichen Selbstverständnisses anzunähern: Diese Haltung, welche den mechanistischen Modellen zugrunde liegt, in den organismischen Entwürfen die Antithese der Ganzheitlichkeit wachruft, in einigen dialektischen Ansätzen immerhin ansatzweise thematisiert wird, erscheint in der postmodernen Identitätspsychologie als Karikatur ihrer selbst.
Der Gestaltpsychologe Wolfgang Metzger kommt mit seiner Kritik an den Grundsätzen des Mechanismus, des Materialismus, des Eleatismus sowie der Unordnung und Beliebigkeit in dem herrschenden Weltbild der Aufdeckung der basalen Doxai nahe; genau besehen formuliert er zu den genannten Grundsätzen die Antithesen. Der gemeinsame Grund von These und Antithese ist damit aber noch nicht enthüllt.
Identität als Agens der Spaltung, Begegnung als Warentausch
Der Blick auf den gemeinsamen Grund von These und Antithese wird frei, indem wir etwas ganz Einfaches tun, indem wir nämlich die etymologische Bedeutung des Wortes Identität betrachten:
Dieses ist abgeleitet von dem lateinischen Demonstrativpronomen idem = ein und derselbe. Mit den Worten des Dudens: Das Identitätsgesetz der Logik lautet: A = A bzw.: Jeder Gegenstand ist sich selbst identisch. Diese Definition klingt für uns „selbstverständlich“.
Aber sie schließt etwas aus, nämlich dass ein Ding zugleich mit etwas Anderem identisch sein könnte!
Wenn also zwei Identitäten A und B miteinander in Kontakt treten, müssen anschließend beide unverändert fortbestehen, um ihre Identitätserhaltung weiterhin postulieren zu können. Auch wenn ein Austausch von Waren oder Ideen oder Wärme stattfindet, so bleiben die Grenzen doch unverrückbar.
Beide Identitäten können sich nicht überschneiden oder gar zur Deckung kommen. Es dürfen keine identitätsstiftenden Elemente von A in B oder umgekehrt wiederzufinden sein. Sie können sich nicht „verdoppeln“.
Geteilte Freude ist doppelte Freude, so etwas kann es laut Identitäts-Doxa nicht geben.
Die Vorgänge des Atmens, der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung, das Weitergeben von Ideen, Liebe sind mit unserem Identitätsbegriff nur insoweit kompatibel, wie es sich hier um eine Art Warentausch handelt: A nimmt etwas zu sich, was B von sich gibt. Das Eine wird reicher, das Andere ärmer.
Sicherlich, es ist eine Möglichkeit, das Zusammentreffen zweier Identitäten in dieser Weise zu sehen. Es ist aber eine Sichtweise, welche den Unterschied, die Grenze, das Anders- und Getrenntsein betont.
Diese Spaltung beginnt in unserem Kulturkreis sicherlich nicht erst mit der kartesianischen Scheidung von res extensa und res cogitans. Sie geht auf Parmenides von Elea (um 500 vor Christus) zurück, der die Welt in die Erscheinungen und das eigentliche Sein hinter den Erscheinungen zerschlug. Somit ist diese Spaltung tief in unser Denken und Handeln eingedrungen, so tief, dass unser Bewusstsein sie als apriorische Verstandeskategorie auf alles Geschaute projiziert.
Unter der Herrschaft dieser Doxa kann echte Begegnung nicht stattfinden; zumindest ist sie eine Gefahr, da sie durch einen Verlust von Identität erkauft werden müsste.
Nicht von ungefähr werden in unserer Kultur Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz als einander ausschließende Antagonisten gehandelt: Selbstverwirklichung, Emanzipation, kann in dieser Sicht nur gelingen, wenn die Grenzen abgeschottet werden, kann nur den Unterschied betonen. Selbsttranszendenz hingegen ist (auf gefährliche Weise) selbstauflösend und wird in den hermetischen Raum esoterischer Zirkel verwiesen.
So müssen wir uns also entscheiden: entweder für Identität (= Selbstverwirklichung = Abgrenzung) oder für Begegnung (= Selbsttranszendenz = Über-sich-hinaus-Gehen).
Da wir aber beides brauchen, kommt ein merkwürdiger, krank machender Zwitter heraus: die Ent-Gegnung, die Verweigerung von Begegnung im Aufeinandertreffen. Auf dem Hintergrund dieses Zeitgeistes ist dies durchaus funktional; denn eine echte Begegnung wäre in diesem Paradigma identitätsgefährdend, weil mit Verlust verbunden.
Vereinzelung als pathogener Selbstschutz
Die viel beklagte Singularisierung unserer Zeit, die Vereinsamung, Beziehungs- und Sinnleere, all dies zeigt sich in dieser Betrachtung nicht nur als Manifestation zunehmender sozialer Inkompetenzen, wie es der psychotherapeutische Reparaturbetrieb gern hinstellt; darüber hinaus ist dies ebenso die beste aller möglichen - aber notwendigerweise pathogenen - Strategien des Selbstschutzes.
Pathogen ist sie insofern, als sie in exponenziell zunehmendem Maße Isolation und Sinnleere wie auch Depressions- und Angsterkrankungen erzeugt.
Wir sind eine Ja, aber-Kultur: Dieses Ja, aber ist eine der häufigsten Sprachfiguren in verbalen Entgegnungen. In dem Versuch, das Minimum an lebenserhaltender Begegnung (Ja) zu erhaschen, vernichten wir diese im Augenblick des Entstehens (aber). Insofern muss es auch als folgerichtige Entwicklung betrachtet werden, dass soziales Zusammentreffen „entwesentlicht“ wird.
In gleichem Maße wie semantische, inhaltliche und existenzielle Information vermieden wird, nimmt - als Surrogat - der Austausch leerer oder formaler Information explosionsartig zu: Die myriadenfachen Vernetzungen im Internet zeigen dem Benutzer vor allem dies:
Auf dem Wege dieses Links, den du gerade aufgerufen hast, könnte eine wesentliche Information transportiert werden. Wenn es denn eine gäbe ...
Die topografische Doxa
Diese tief sitzende Spaltung kann auch als topografische Doxa bezeichnet werden. Diese besagt, dass zwei Entitäten eindeutig und überschneidungsfrei voneinander abzugrenzen sind. Mit anderen Worten: Die Metapher eines abgegrenzten räumlichen Gebildes, mit der wir Identitäten selbstverständlich belegen, zeugt von einem naiven Physikalismus sensu Bischof (13), von der Projektion einfacher physikalischer Verhältnisse auf komplexe lebende Systeme.
In dieser Vorstellung können zwei Identitäten sich nicht durchdringen, sich nicht miteinander vermischen; sie können allenfalls aneinander stoßen.
Ein Selbst, eine Identität kann nicht gleichzeitig Teil von Person A und Person B sein. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.B Gestalttherapie-Theorie) betrachten alle akademischen Selbsttheorien des Westens ihren Gegenstand derart in Analogie zu topografisch definierten Gebilden.
Identitäten sind demnach wie Länder mit fest umrissenen Grenzen und geregeltem Grenzverkehr.
Menschen, Gebäude, Schätze, Ideen können nur jeweils einem Land zugehören. Sobald sie die Grenze passieren, wechseln Zugehörigkeit und Besitz. Was das eine Land gewinnt, geht dem anderen verloren. Es gibt zwar Streitigkeiten um Grenzverläufe, illegale Einwanderungen, Schmuggel; aber dies sind Unregelmäßigkeiten, die das System bestätigen und die es auszumerzen gilt.
Dem westlichen Selbstverständnis liegt die unausgesprochene Setzung zugrunde, dass es diese Grenze ontologisch gibt, dass ein Innen und Außen, ein Zugehörig und Fremd existieren.
So herrscht zwar ein reges Treiben an den Grenzorten: Warentausch, Verhandlungen, Kontrollen, Zurückweisungen. Ist dies aber die einzig mögliche Betrachtungsweise? Sollten wir Begegnung so sehen?
Besteht Begegnung denn nur im Einverleiben, im Tauschen mit dem Ziel, einen Vorteil zu erringen? Im Gleichmachen des Ungleichen, im Ausstoßen des Nicht-Assimilierbaren, im Zurückweisen des Fremden? Bzw.: Wollen wir wirklich Begegnung so verstehen und eo ipso in dieser Weise kreieren?
Selbsttheorien sind ethische Stellungnahmen
Es dürfte klar geworden sein: Hier geht es nicht um die Frage nach der „wahren“, der „richtigen“ Selbsttheorie. Hier geht es vielmehr um ethische Entscheidungen, mit denen wir ein Selbstverständnis stets aufs Neue erzeugen, welches tatsächliche Strukturen erzeugt, welche das Selbstverständnis erzeugen, das wiederum die Strukturen erzeugt ... Usw.
Auch wenn wir es im Alltag nicht bedenken, treffen wir in jedem Moment eine Wahl, deren Wirkungen wir zu spüren kriegen und zu verantworten haben. Es ist hier demnach kein logischer oder erkenntnistheoretischer Beweis möglich und nötig. Mein Anliegen ist es vielmehr, eine bestimmte Wahl plausibel zu machen und ethisch dafür einzutreten.
Ich möchte meine ethische Kritik an unserem Selbstverständnis unter drei Schlagwörtern zusammenfassen. Die topografische Doxa erzeugt nämlich drei wesentliche Prinzipien, und zwar:
Das Entweder/Oder-Prinzip:
Ein Ding gehört entweder mir oder dir. Im Zweifelsfall muss darum gekämpft werden: Entweder habe ich Recht oder du. Entweder kann ich mich emanzipieren oder die Ehe mit dir fortsetzen. Ein Wir oder ein Unser existiert lediglich als Floskel.
Das Import/Export-Prinzip:
Was meinem Selbst fehlt, muss ich importieren. Das bedeutet zwangsläufig, dass es aus dem Selbst-Territorium eines Anderem exportiert werden muss und diesem dadurch verloren geht. Zwar fließt (manchmal) ein Zahlungsmittel in die andere Richtung; das heißt aber lediglich, dass im Idealfall Gewinne und Verluste ausgewogen sind. Realiter liegt das Wesen der Marktwirtschaft - das ich hier für das westliche Selbstverständnis einsetzen zu können glaube - aber gerade in dem Streben, mehr zu bekommen als zu bezahlen, oder - anders gewendet - Gewinne zu privatisieren (= importieren) und Verluste zu sozialisieren (= exportieren).
Damit entsteht als angezieltes Ideal (der Selbstverwirklung/ der Marktwirtschaft) das eines zero/sum- (Handels-/ Konflikt-) Ergebnisses, welches in seiner Auftretenswahrscheinlichkeit ganz einfach dadurch erhöht wird, dass in der Regel Macht und Ressourcen ungleich verteilt sind.
Mit entgegengesetztem Vorzeichen wird Wertloses oder Schädliches ausgegrenzt, indem man zB die Schuld für die eigene Tat dem anderen zuschiebt, den Atommüll in ein anderes Land exportiert, das eigene Böse auf fremde Kulturen projiziert.
Der moderne Mensch hat gar ein derartiges Import-/Export-Verhältnis zu sich selbst, etwa zwischen Psyche und Soma etablieren können: Er verlagert Schmerzliches aus dem zu verantwortenden Bereich des Seelischen in die Region körperlicher Prozesse, für die er in unserer Kultur ja „nichts kann“.
Die Zunahme von psychosomatischen und dissoziativen Störungen in den psychotherapeutischen Praxen mag als Indiz dafür gelten, wie sehr sich Grenzbildungen und Spaltungen sogar bis ins Innere fortsetzen.
Das Kolonialisierungs-Prinzip:
Das topografische Selbst zielt auf die Ausdehnung des eigenen Bereichs durch Unterwerfung, Kolonialisierung, Gleichschaltung, Missionierung oder „feindliche Übernahme“ anderer.
Es muss jederzeit so mächtig sein, dass es gegen andere bestehen kann. Somit kommt nur dem Bedeutung zu, was es hier und jetzt stärkt - die zeitlich und räumlich fernen Effekte seines Tuns zählen nicht. Es zählt auch nicht, was es dem Anderen und/ oder dem Ganzen (von dem es Teil ist!) antut.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass diese Implikationen der topografischen Doxa - Entweder/Oder, Import/Export, Kolonialisierung - letztlich in territoriale Kämpfe ausarten, wann immer zwei Selbste aufeinander treffen, besonders dann, wenn relevante Ressourcen knapp sind. Dabei wird mindestens eine der Parteien Teile der eigenen Identität verlieren.
Ich glaube, dass dieser eben genannte Satz eine der Grundregeln der westlichen Kultur darstellt, wenngleich sein Wirken durch allerlei Konventionen und Institutionen in Schach gehalten wird.
Mit den zunehmenden Dissoziationen des topografischen Selbst ist uns immer mehr eine Art Wahrnehmungsorgan für das Ganze, von dem wir Teil sind, abhanden gekommen.
Oder aber, falls die Menschen ein solches niemals besessen haben sollten: Mit zunehmender Verflechtung und Globalisierung wird es immer gravierender, wenn ein solches nicht existiert. Wir nehmen nicht (mehr) wahr und nicht (mehr) für wahr, dass wir das, was wir dem Anderen/ dem Ganzen antun, letztlich uns selbst zufügen.
Es gibt keine Institution (mehr), die das Wohl des Ganzen im Auge hat - diese Funktion ist an Bürgerinitiativen ausgelagert worden, deren Erstarken stets zu einer Zunahme repressiver staatlicher Gewalt geführt hat und führt und systemstärkend wirkt.
Die Politik, die Umweltpolitik, die Demokratie, die Parteien, alles ist in oligarchische Machtblöcke eingegossen, die mit eingegrenztem Blick auf ihre ureigenen Interessen Entscheidungen treffen, die in ihren Konsequenzen weit über ihre Bezugsgruppe hinaus reichen.
Wer (noch) „das Gemeinwohl“ als Entscheidungskriterium ansieht, wer (noch) an die Bedeutung sachlicher Argumentation glaubt, wer (noch) unsere Gesellschaftsordnung als demokratisch erachtet, den möchte ich einen liebenswerten und weltfremden Utopisten nennen.
Das Kapitel, in dem die Behauptung aufgestellt wird, dass A = B ist
Umso wichtiger ist es, hier eine konkrete Utopie sensu Ernst Bloch zu entwickeln. Es ist unnütz und es schürt stets neue Probleme, wenn wir auf pragmatische Weise Sozialpartnerschaft, Chancengleichheit und Gerechtigkeit ein wenig mehr nach „links“ oder nach „rechts“ verschieben. Unser Selbstverständnis ist es, welches der Grundüberholung bedarf.
Das Tit for Tat-Experiment
Mit der folgenden Schilderung eines Experiments möchte ich aufzeigen, in welche Richtung der Diskurs sich entwickeln sollte. Es ist ein Experiment, welches das Verknüpftsein von Menschen betont und Strategien, die dieses berücksichtigen, als überlegen herausstellt.
Es ist als Axelrod-Experiment (14) bekannt geworden: Zur Entwicklung der Spieltheorie trug der amerikanische Politologe Robert Axelrod 1979 ein Computer-Turnier aus, in dem Experten aus Politologie, Soziologie, Ökonomie, Psychologie und Mathematik um die erfolgreichste Strategie stritten. Hoch komplexe, einfache, verdeckte und offen dargelegte Regularien wurden eingesetzt, um vor allem eines, nämlich Auszahlungserfolg, sicherzustellen.
Unter den Mitspielern befand sich der kanadische Mathematiker und Systemtheoretiker Anatol Rapoport. Sein Programm Tit for Tat - das simpelste von allen - hatte nur vier Regeln:
1. Spiele immer offen!
2. Suche immer Kooperation!
3. Wirst du ausgenutzt, schlage unverzüglich zurück!
4. Sei nicht nachtragend, sobald als möglich, kooperiere von Neuem!
Anatol Rapoport gewann dieses Turnier ebenso wie das folgende, zu dem noch mehr Wissenschaftler antraten. In einer späteren Spielvariante setzte Axelrod die einzelnen Programme der Simulation einer natürlichen Auslese aus, wodurch sich die erfolgreicheren Programme noch stärker durchsetzen konnten, die erfolgloseren hingegen ausstarben.
Die Tit for Tat-Strategie setzte sich sogleich an die Spitze und konnte ihren Vorsprung weiter ausbauen. Besonders aufschlussreich und überraschend an dieser Turnierversion war, dass rücksichtslose, auf Ausbeutung Schwächerer zielende Strategien sich zwar anfangs vielversprechend vermehrten, dann aber zugrunde gingen.
Die Quintessenz dieses Experiments ist nicht etwa unser christliches Nächstenliebe-Gebot in der Auslegung, auch die andere Backe hinhalten zu müssen, sondern in der gleichberechtigten Betonung des Wie-dich-Selbst, insofern als die Förderung des Wohls des Anderen auch den eigenen Nutzen maximiert.
Modelle des Zwischen
Für unser kulturelles Selbstverständnis folgt daraus:
Wir müssen lernen, die Verbindungen unseres Selbst zu anderen Selbsten wahrzunehmen, unsere Verwobenheit mit anderen Lebewesen ebenso wie mit sozialen Einheiten, mit der eigenen und der kulturellen Historie, mit dem Boden, der uns trägt, mit der Luft, die uns umhüllt, mit unseren Wurzeln und Ausläufern, unseren Ursachen und Wirkungen.
Wir müssen lernen, das Netz zu fühlen, welches jede einzelne unserer Bewegungen in die räumliche und zeitliche Ferne transportiert ebenso wie es die Bewegungen anderer an uns übermittelt.
Wir müssen eine Bewusstheit wiedererlangen, einem äußerst komplexen Gefüge innezuwohnen, in dem niemals irgendein Etwas mit irgendeinem Anderen unverbunden sein kann.
Wir benötigen eine Metatheorie des Zwischenraumes, der angefüllt mit Wesentlichem ist, eine Bindungstheorie, Netzwerktheorie.
Allerdings darf man nicht ins andere Extrem verfallen und das Einzelne, Abgegrenzte, Individuelle negieren. Wie gesagt: Wir dürfen zwischen dem Ganzen und dem Teil keinen dualen Gegensatz (re)konstruieren. Sagen wir einfach:
Das Ganze und sein Teil, das Verbindende und das Begrenzte seien so etwas wie Momentaufnahmen in Abhängigkeit von dem räumlich-zeitlichen Standpunkt, den der Beobachter gerade einnimmt.
Es gibt in den Wissenschaften eine ganze Reihe von Ansätzen, die sich mit diesem Zwischen auseinandersetzen, bspw. die Systemtheorie, die Synergetik, die Chaosforschung.
Für das Gebiet der Identitäts- bzw. Selbsttheorien will ich einige solcher Ansätze hier kurz streifen. Es handelt sich um C.G. Jungs Archetypen, Ken Wilbers Transpersonales Selbst, Hermann Schmitz‘ Neue Phänomenologie, moderne Feldtheorien (Sheldrakes morphogenetische Felder, von Burows kreative Felder) sowie meine eigene Dialektische Selbsttheorie.
Diesen Entwürfen ist gemeinsam, dass sie allesamt nicht der herrschenden Mainstream-Psychologie angehören.
Das kollektive Unbewusste C. G. Jungs
Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts widmete sich Carl-Gustav Jung (1875 – 1961) dem Bereich des Zwischen. Er untersuchte das kollektive Unbewusste, welches den Untergrund für das individuelle, von der orthodoxen Psychoanalyse angesprochene Unbewusste darstellt.
Das kollektive Unbewusste ist angeboren und in allen Menschen mit sich selbst identisch. Jung hatte entdeckt, dass Bilder, Figuren und Erzählungen der Mythologien aller Welt unverkennbar in Träumen und Fantasien moderner Europäer wiederkehrten, ohne dass es zu entsprechenden Berührungen gekommen wäre. Insofern können diese Urbilder, Archetypen genannt, nicht während der Lebenszeit erworben, sondern müssen ererbte Strukturen sein.
Diese Archetypen stellen sozusagen die Leitmotive der gesamten menschlichen Art dar. In unserem Zusammenhang ist besonders bedeutsam, dass sich diese Archetypen quasi in einem Raum befinden, welcher gleichermaßen in dir wie in mir gelegen ist und zudem möglicherweise weitere Gebiete umfasst, die wir heute nur erahnen können.
In Ken Wilbers Worten liegt damit tief im Inneren des Menschen der Mythos der Transzendenz begraben (15). Jungs eigene Interpretation ist übrigens nicht die einzig mögliche. Ebenso ließe sich annehmen, dass wir Menschen, ohne dass wir dessen gewahr würden, uns die archetypischen Inhalte laufend, auch über weite Entfernungen hinweg, gegenseitig „erzählen“.
Ken Wilbers transpersonales Selbst
Ken Wilber versteht das Selbst als aus fünf Schichten bestehend, von denen die äußeren die tieferen überlagern und verdecken können.
Es sind dies
(a) die Persona-Ebene, auf welcher das Selbst seine verbotenen Regungen, z.B. aggressive und erotische Impulse, von sich abgespalten hat und in die Umwelt projiziert;
(b) die Schatten-Ebene, auf welcher das Selbst sich seinen Schatten wieder zu eigen macht;
(c) die Kentauren-Ebene, auf welcher die Gegensätze zwischen Persona und Schatten, und damit auch zwischen Verstand und Körper, aufgehoben werden;
(d) die Ebene der Transzendenz, auf der das transpersonale Selbst des Menschen über seine individuellen Grenzen hinaus geht und die Verbindung zu einer Welt jenseits von konventionellem Raum und konventioneller Zeit stiftet;
(e) schließlich die Ebene des All-Einheitsbewusstseins als das Gesamt dessen, was jetzt gegenwärtig ist.
Ohne näher auf Wilbers Anschauungen eingehen zu können, bleibt zu konstatieren,
dass der postmoderne Mensch sich vorwiegend als verarmtes Selbst auf der Persona-Ebene befindet,
dass die gesellschaftlich anwachsenden Syndrome von Depression, Angst und Gewalt zur Schatten-Ebene vorstoßen;
dass diese aber nicht integriert, sondern durch Pathologisierungen noch stärker dissoziiert wird.
Unsere Sehnsüchte, wage ich zu behaupten, zielen jedoch auf die tieferen Ebenen des Kentauren, der Transzendenz und des All-Einheitsbewusstseins.
Insofern wird auch der erschütternde Befund einer Studie verständlich, der Anfang 1999 durch die Medien ging: Demnach belegen die an Technologie und Wirtschaftskraft so reichen Deutschen im Empfinden von Glück einen der hintersten Plätze, noch weit hinter dem von Armut und Naturkatastrophen gepeinigten Bangladesh!
Die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz
Hermann Schmitz geht mit seiner Neuen Phänomenologie (16) weit über die Husserl‘sche Wesensschau hinaus. Da diese, sagt Schmitz, den Gegenständen ihr Wesentliches eher genommen denn enthüllt habe, müsse an ihre Stelle eine Phänomenologie des Betroffenseins treten.
In unserem Kontext besonders wichtig ist der Vorgang der Einleibung: Wahrnehmung sei keine mechanische Rezeption von Signalen, sondern leibliche Kommunikation, bei der sich so etwas wie ein übergreifender, über das Individuum hinausgehender Ad-hoc-Leib bilde.
In diesem Sinne sind Emotionen keine inneren Prozesse, sondern eher Atmosphären im Raum, die wir allerdings gewohnt sind, nach innen zu projizieren und so von ihrem Kontext zu isolieren.
Dieses kleine Blitzlicht soll genügen, um zu zeigen, dass Schmitz keinem topografisch abgegrenzten Selbst mehr verpflichtet ist, sondern in seiner Neuen Phänomenologie darum ringt, Worte für einen Bereich des Zwischen zu (er)finden, den westliche Sprachen offenbar nur sehr schwer benennen können.
Ebenso gehen auch moderne Feldtheorien davon aus, dass es so etwas wie umfassende Identitäten geben muss, von denen das einzelne Selbst Teil ist.
Bspw. wirken räumlich oder zeitlich begrenzte Orts- oder Zeitgeister, kreative Felder (Burow) oder morphogenetische Felder (Sheldrake) auf das Erleben und Verhalten des individuellen Selbst (und umgekehrt), indem sie dieses durchdringen.
Das unscharfe Selbst
Ich selbst habe, ausgehend von einem erkenntnistheoretischen Diskurs, eine Metatheorie des dialektischen - ich sage auch gern: des unscharfen Selbst entworfen. (17)
Dieser Entwurf beruht auf dem Argument, dass es aus erkenntnistheoretischer Sicht keine überlegene Erkenntnistheorie geben kann, auch nicht wenn der Überlegenheitsanspruch verdeckt und quasi-emazipatorisch daher kommt.
Vielmehr tritt das Selbst mit seinem Gegenüber - einem anderen Selbst, einem Gegenstand, einer Idee, seiner Umwelt - in einen Prozess relationaler Wahrheitsgenese ein.
Es wird hier das Ineinandergreifen des Erkennens und Wirkens mehrerer Entitäten zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Das Selbst wird nicht mehr als ein von seiner Haut begrenzter Organismus angesehen, sondern als der Bereich, in dem („objektive“) Realität und („subjektive“) Wirklichkeit, Ich und Du, Innen und Außen aufeinander treffen. Deshalb gilt:
Das Selbst ist hautnah und flüchtig.
Da Wahrheit sich nur aus Relationen ergeben kann und da Relationen veränderlich sind, kann nur dann Wahrheit vorliegen, wenn sie veränderlich, d.h. vergänglich, d.h. offen für Relationen ist.
Deshalb können Dogmen niemals wahr sein. Das derart gefasste Selbst öffnet sich, da es mit allem Anderen Überschneidungen und neue Identitäten bzw. Qualitäten bildet, dem Du, der opponierenden Meinung, dem Fremden und Andersartigen, ja, auch kreativen und morphogenetischen Feldern oder Orts- und Zeitgeistern und tritt mit dem jeweiligen Gegenüber in erkennende Interaktion.
Jetzt wird deutlich, warum ich dieses dialektische Selbst auch als unscharf bezeichne: Es ist unscharf in dem Sinne ausbleibender gegenseitiger Verletzungen; unscharf ist es darüber hinaus deshalb, weil seine Grenzen nicht eindeutig auszumachen sind, es sei denn als Momentaufnahme von einem konkreten Standpunkt aus.
Eine der wesentlichsten Implikationen dieses Entwurfs ist der Aufweis, dass Standpunkte in den Begegnungen von Selbsten nicht als logisch, erkenntnistheoretisch usw. zwingend begründet werden können; deshalb ist mit „Erkenntnissen“ auch niemals ein Macht- oder Wissensanspruch ethisch gerechtfertigt.
Dennoch leistet dieses Modell gerade nicht einem amoralischen Beliebigkeitsdenken Vorschub. Dieser Vorwurf trifft vielmehr auf duale, absolutheitsorientierte Weltbilder zu; denn für jede beliebige Behauptung sind Argumente auffindbar, die sich bei entsprechendem Einsatz von Macht und Mitteln als „absolut wahr“ ausstatten lassen!
Die unscharfe Metatheorie des Selbst hingegen beinhaltet, dass jeder Standpunkt zwingend eine Stellungnahme ist, also eine Wahl, die zu verantworten ist. Da man nicht keinen Standpunkt einnehmen kann, hat der Mensch im Sartre’schen Sinne nicht die Freiheit, nicht zu wählen. Insofern ist auch diese Selbst-Metatheorie eine Stellungnahme, deren ethischen Schlussfolgerungen ich bezeichne als die Maximen des Sowohl-als-Auch, der Offenheit, der Mächtigkeit, der Weisheit und der Behutsamkeit.
Das Kapitel, in dem Paradoxa als Wegweiser dienen
Hier möchte ich die erste Doxa, welche eben abgehandelt wurde, kurz zusammenfassen und in ihr Paradoxon überführen. Anschließend werde ich einen kurzen Einblick in die Bedeutung der übrigen Doxai geben und abschließend einen Ausblick auf deren Überwindung in Richtung ihrer jeweiligen Paradoxa wagen.
Die topografische Doxa - und ihr Paradoxon
Wir haben die erste, die topografische, Doxa kennengelernt, welche jedem Ding, jeder Idee, jedem Wesen einen durch identitätsstiftende Grenzen definierten Platz zuweist, welche Überschneidungen, Austausch, Gemeinsamkeiten, Begegnungen in einer Wesen-berührenden Weise ausschließt, nicht wahrnimmt oder verbietet.
Das dadurch erzeugte Prinzip ist der Kampf Jeder-gegen-Jeden, wenngleich dieser durch Regeln und Gruppenzugehörigkeiten entschärft ist. Ist aber das umgebende Feld frei von solchen Beschränkungen, tritt dieses Prinzip in brutalster Weise zutage, siehe „feindliche Übernahmen“, Gewalt gegen Kinder und Frauen, Femizide, das sogenannte Milgram-Experiment (s.u.), „Gartenzaun-Streits“ und nicht zuletzt die Welt der Putins, Erdogans, Bolsonaros, Urbans, Trumps.
Das Paradoxon des Zwischen
Das zugehörige Paradoxon ist, wie gesagt, das des Zwischen, des alle(s) verbindenden Feldes, der Unschärfe. Man könnte dieses Paradoxon so formulieren:
Das Selbst ist grundsätzlich das Aufeinandertreffen von Ich und Du, Organismus und Feld, Subjekt und Objekt, Teil und Ganzem, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Spezifisch entsteht das Selbst nur mit dem Akt einer Betrachtung von einem definierten Standpunkt aus.
Der Betrachter erzeugt eo ipso eine Momentaufnahme des Selbst, die ihm das Selbst zeigt, bspw. als Ich oder als Du oder als Wir oder als einen von seiner Haut umgrenzten Organismus oder als Teil eines Ganzen usw..
Insofern ist das topografische Selbst nicht falsch; es ist aber nur eine von vielen möglichen Husserl würde sagen - Abschattungen der Vermöglichkeiten des Selbst. Im Allgemeinen fehlen uns in unserer Kultur die Perspektiven des Zwischen, des Ganzen, der Überschneidungen etc..
Was wir demnach dringend brauchen, um Sozialpartnerschaft, Chancengleichheit und Gerechtigkeit voranzutreiben, sind Institutionen, die nur dem Blick auf das Ganze und das Zwischen verpflichtet sind.
Diese Institutionen sind multiprofessionell, multiethnisch, multireligiös usw. besetzt, und sie sind weitestgehend unabhängig von allen bestehenden Machtstrukturen.
Die Doxa des Wissenden - und ihr Paradoxon
Einer Vielzahl philosophischer Versuche zum Trotz basieren alle wesentlichen gesellschaftlichen Prozesse auf einem unausgesprochenen naiven Realismus, auf der selbstverständlichen Überzeugung also, „die“ Realität, „die“ Wahrheit einfach ergreifen zu können.
Da wo es offensichtlich nicht gelingt, bleibt zumindest der Glaube bestehen, in Zukunft „der“ Realität habhaft werden zu können und sich bereits jetzt in guter Annäherung zu ihr zu befinden.
Wo aber bleiben die Auswirkungen eines Sokrates, eines Kant, eines Hegel, eines Habermas auf unsere gesellschaftlichen Narrationen?
Gemäß der immer noch vorherrschenden und allmächtigen Erzählung basiert unser Erkennen und Handeln auf dem unerschütterlichen Glauben daran, ein Wissender (oder zumindest ein Besser-als-du-Wissender) zu sein!
Einerseits ist genau diese Grundhaltung die zwingende Voraussetzung dafür, ohne Zögern technischen Fortschritt zu erzielen. Andererseits - nun ja, ich will all die menschengemachten Katastrophen jetzt nicht aufzählen. Diese Katastrophen und gesellschaftlichen Aporien halten uns immer drängender, so meine ich, vor Augen, dass wir an die Grenzen dessen, was wir im Rahmen unserer Doxa erreichen können, gestoßen sind.
Viele Probleme treten auf, die wir mit unseren Prämissen nicht mehr lösen können bzw. die wir vielleicht sogar mit diesen erst erzeugen! Bereits im sozialen Mikrokosmos der Zweierbeziehung oder der Familie scheitern wir mit dieser Wissens-Doxa kläglich: Kaum einer ist in der Lage, im Streitfall die Existenz mehrerer Wahrheiten zu akzeptieren. Mit einem Aber-das-siehst-du-ja-ganz-falsch! wird die Wirklichkeit des Anderen kurzerhand vom Tisch gewischt.
Diese Doxa erzeugt somit das Ideal der Fehlerfreiheit: Fehler müssen ausgemerzt, korrigiert, vermieden werden. Etwas Falsches darf niemals an der Tafel im Klassenzimmer erscheinen! Mehr noch: Der Einzelne, der sich an diesem Standard misst/ messen lässt, scheitert zwangsläufig.
Er beginnt, seine Fehler zu verheimlichen, ebenso seine Mängel, Schwächen, sein Nicht-mehr-Können. Sobald er versagt, sobald er erkrankt, wird er ausgeschlossen.
Bildet er gar die Schnittstelle zwischen menschlichem und technischem Geist in einem riskanten und komplexen System (Autofahrer, AKW-Ingenieur ...), beschwört er möglicherweise eine Katastrophe herauf. Aus diesem Grund fordert der Philosoph Walther Zimmerli Fehlerfreundlichkeit in der Technik. Otto Mehrgardt, ein Göttinger Kunstpädagoge, geht noch weiter: Er interessiert sich sogar für die genuine Logik in „falschen“ kindlichen Auffassungen und fördert die in ihnen verborgene Kreativität. (18)
Aber die philosophischen Erkenntnistheorien, nicht nur die pragmatischen, (neo-) positivistischen, sondern ebenso die Phänomenologien, der Kritische Rationalismus, der Konstruktivismus wie auch Konsens- und Kohärenztheorien (u.a.) machen vor dem entscheidenden Punkt Halt:
Sie geben keine Antwort auf die Frage: Was geschieht, wenn zwei oder mehrere erkennende Subjekte aufeinander treffen, ohne dass eines von ihnen die letzte Definitionsmacht beanspruchen kann?
Wer hat nun Recht?
In meiner erkenntnistheoretischen Diskussion der psychotherapeutischen Situation (19) habe ich aufgezeigt, dass die bestehenden erkenntnistheoretischen Entwürfe zumindest heimlich ein absolutes Wahrheitskriterium anzielen und ebenso heimlich sich selbst - dem Forscher, dem Behandler, dem Wissenschaftler - gegenüber dem Laien eine größere Realitätsnähe attestieren.
Auch wenn, wie im Kritischen Rationalismus, die Möglichkeit sicherer Erkenntnis verneint wird und das wissenschaftstheoretische Gebäude sogar darauf fußt, zeigt die genaue Analyse, dass das dahinter stehende implizite Modell subjektive Wirklichkeit und absolute Realität als topografische Gebiete betrachtet, die in messbaren Abständen voneinander entfernt liegen.
Haltungen wie die folgende ergeben sich nahezu zwangsläufig aus der Topografie-Implikation: Weil ich als Wissenschaftler/ Psychotherapeut erfahren bin und Wissen habe, bin ich der absoluten Realität näher als du Laie.
Bei allen Entwürfen handelt es sich um Ein-Personen-Stücke, weil es stets nur um die Erkenntnisfähikgeit einer (isolierten) Person geht, weil am Ende jeweils ein letzter Beurteiler prüfen muss, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist.
Für die psychotherapeutische Situation, die ich als Begegnungssituation von Gleichen verstehe, habe ich den Dialektischen Konstruktivismus entworfen, eine Erkenntnistheorie, welche die Offenheit (Veränderungsbereitschaft) zum Kriterium der relationalen Wahrheitsgenese erhebt. Eine Erkenntnis ist demnach wahr, wenn die an der Relation Beteiligten ihr vertrauen (das Wort wahr geht etymologisch zurück auf das indogermanische uer = Gunst erweisen bzw. althochdeutsch wara = Vertrag, Treue). Sie ist solange wahr, wie sie in Relationen mit jemandem oder etwas veränderlich ist. Etwas pointiert möchte ich also das zweite Paradoxon wie folgt formulieren:
Wahr ist, was veränderlich ist. Oder – frei nach Nietzsche: Das Wesen der Wahrheit ist ihre eigene Negation. (20)
Sie werden sicherlich bereits bemerkt haben, dass diese Sichtweise eine wesentliche Implikation besitzt, nämlich die, dass Dogmen (und Doxai) nicht wahr sein können!
Was folgt aus dieser These der Offenheit?
Hier möchte ich nochmals Gregory Bateson erwähnen, der die Doxa des Wissens als die ... Katastrophe ... wissenschaftlicher Arroganz ... (21) bezeichnet und stattdessen die Haltung der Weisheit einfordert.
Diese ist eine demütige Weisheit, nämlich die Gewissheit, dass immer hinter dem von mir erkannten Interaktionssystem ein noch größeres und komplexeres besteht, eine relevantere Dimension von Zusammenhängen, ein umfassenderer Sinn.
Diese echte, sokratische Weisheit stellt mehr als jedes vermeintliche Wissen, welches nur träge und satt macht, ein heuristisches Werkzeug bei, nämlich die Neugier, das Staunen und das Fragen.
Zugleich erzeugt es eine Bewusstheit, die das dualistische Entweder-Oder in ein dialektisches Sowohl-als-Auch transzendiert. Und dieses wiederum ist ein fruchtbarer Boden, auf dem Respekt und Toleranz dem Anderen und Fremden gegenüber gedeihen können.
Die interventionistische Doxa der Macht – und ihr Paradoxon
Die Doxa des Wissenden legt den Grundstein für die Überzeugung, dass alles im Prinzip machbar sei, dass für jedes Problem eine Lösung gefunden, dass jedes menschliche Leiden behandelt werden könne. Diese Überzeugung nenne ich Interventionismus bzw. - für den Bereich der Schulmedizin - die Behandler-Doxa.
Es gibt bereits seit vielen Jahren einen Forschungsansatz, welcher die autopoietischen Fähigkeiten lebender und auch artifizieller Systeme untersucht, kurz gesagt ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation. Bezeichnenderweise werden in dieser Betrachtungsweise äußere Eingriffe Perturbationen, also Störungen, genannt. Solche Systeme legen (u.a.) zwei gegenläufige Mechanismen an den Tag: einerseits die Äquifinalität, das ist die Fähigkeit, auf (nahezu) beliebige Manipulationen von außen mit immer dem gleichen Eigenverhalten zu reagieren.
Das System ist also so „elastisch“, dass es immer zum Ausgangswert zurückkehrt. In anderen Momenten sind Systeme in ihrer Entwicklung von allerkleinsten Abweichungen in den Ausgangswerten abhängig (der sogenannte Schmetterlingseffekt). Das heißt:
Ein System kann sich gerade in einem stabilen oder in einem multistabilen Zustand befinden. Ob das System nun völlig un- oder aber hypersensibel reagieren wird, ist allerdings infolge der Selbstorganisations-These nicht vorhersagbar.
Hinzu kommt, dass ja Systeme (z.B. das Wetter) nicht isoliert von anderen Systemen existieren. So kann es also passieren, dass ich versuche, ein bestimmtes System zu beeinflussen, und dieses immer massiver tue, ohne dass dieses reagiert. (Bspw. organisiere ich im ganzen Land Regentänze als Massenveranstaltungen.)
Gleichzeitig beeinflusse ich, ohne es zu bemerken, ein ganz anderes System, welches sich gerade in einem hypersensiblen Zustand befindet. (Z.B. bewirken die Tänze, dass die Menschen infolge der körperlichen Betätigung gesünder werden, woraufhin alle orthopädischen Praxen zugrunde gehen.)
Es treten hier also zwei Probleme auf:
(a) Es sind immer mehr (oder größere) Systeme beteiligt, als mir bewusst ist (vgl. Batesons Weisheit).
(b) Ich weiß nicht, ob das betreffende System sich gerade in einem stabilen oder multistabilen Zustand befindet, zumal eine ausbleibende Reaktion ja auch bedeuten kann, dass das System zeitverzögert reagiert.
Aus diesen Gründen kann man vermuten, dass sich der Interventionismus als überaus schädlich erweisen könnte. Das über diesen hinausgehende Paradoxon möchte ich so formulieren:
Es gibt Lösungen, welche die Probleme, die sie lösen sollen, erzeugen.
Ich möchte für diesen ketzerischen Satz einige Beispiele anführen, von denen Ihnen das eine oder andere vertraut sein dürfte: Allgemein gesagt, zeugen die sprachlichen Wendungen der Selbst-Disziplin, des Sich-selbst-im-Griff-Habens von einer interventionistischen Haltung dem eigenen Organismus gegenüber.
Eine solche scheint bspw. in vielen Fällen vorzuliegen, in denen eine Person eine Diät macht. Ich kenne kaum jemanden, bei dem nach einigen Anfangserfolgen die Gewichtskurve nicht letztlich über das Ausgangsgewicht hinausgelangt wäre.
Ein anderes typisches Beispiel sind neurotische Zwänge: Je mehr ein angstauslösender Gedanke - bspw. die Vorstellung, jemanden mit dem Messer zu verletzen - bekämpft wird, desto mehr beißt sich dieser im Gedankenstrom fest.
Soziale Ängste im Zusammenhang mit Erröten, Stottern, Schwitzen, Magenknurren usw. expandieren ebenfalls in dem Maße, wie man sie zu unterdrücken versucht. Dasselbe gilt für andere Phobien, Depressionen, Burn out u.a..
Für die Schulmedizin könnte sich ebenfalls herausstellen, dass einige ihrer Segnungen (Antibiotika, Impfungen) zu einer langfristigen Schwächung des Immunsystems führen, des Systems also, dessen Stärkung ursprünglich angezielt war.
Der Weg zur Heilung führt hier in der Regel über ein Zulassen und nicht über ein Lösen des Problems.
In der Entwicklungshilfe ist man inzwischen von einem solchen lösungsorientierten Interventionismus abgekommen: Hier hat man nach vielen Fehlschlägen gelernt, dass derartige, durchaus positiv gedachte Interventionen auf die Kulturen der Entwicklungsländer wie Perturbationen wirken, die von dem selbstorganisierenden System äquifinal weggepuffert werden. Andererseits können sie aber auch, in unvorhersehbarer Weise, zu hypersensiblen Dekompensationen führen.
Krohn & Küppers beschreiben in diesem Zusammenhang eine bemerkenswerte Computersimulation:
In einem fiktiven Staat namens Tana-Land (22) gibt es ein ernsthaftes Problem. Kompetente, ökologisch orientierte Fachleute werden beauftragt, dieses Problem zu lösen; Geld sei genügend vorhanden, und auch politische oder sonstige Barrieren seien nicht existent. Damit sind also sämtliche Interventionsmöglichkeiten gegeben. Das überraschende Ergebnis all dieser Simulationen ist, dass - nach anfänglich positiven Entwicklungen - der Zusammenbruch des Systems nach einer Intervention stets schneller erfolgte als ohne Eingriff!
Was wir aus derartigen Beobachtungen und Befunden meines Erachtens ableiten müssen, ist folgendes:
Je komplexer das System ist, in welches man eingreift, desto behutsamer hat man vorzugehen. Dies gilt auch und in besonderem Maße für vom Menschen erzeugte Systeme wie Politik, Ökonomie, Rechtsprechung.
Etwas polemisch gefragt: Können Sie sich an die Verabschiedung irgendeines Gesetzes erinnern, wodurch die Situation sich nicht verschlechtert hätte, welches nicht eine Vielzahl von Auslegungen, Ausführungsbestimmungen, Gerichtsurteilen, Ungerechtigkeiten, Unklarheiten, Verunsicherungen und weiteren Gesetzen nach sich gezogen hätte?
Das Problem liegt aber nicht (in erster Linie) darin, dass sich die falsche Partei durchgesetzt hätte oder dass die Politiker durchweg unfähig wären. Die Ursache liegt viel tiefer, ist strukturell bedingt:
Die Entscheidungen kommen zustande, weil die nötige Macht dafür vorhanden war, weil sie eben für eine bestimmte Gruppierung unter Einsatz ihrer Ressourcen machbar war.
Diese Handlungs- und Entscheidungsbedingung Macht erzeugt diese Qualität des Interventionismus oder eines - in Batesons Worten - ad-hoc-Eingriffs. (23)
An die Stelle eines solchen machtbedingten Interventionismus sollte eine neue Behutsamkeit treten, ein ökologischer Konservativismus.
Die Haltung der Macht, das Machbare zu machen, müssen wir ersetzen durch die Maxime der Mächtigkeit, die ich wie folgt umschreiben möchte:
Mächtigkeit ist das Wissen um die Unausweichlichkeit der Einflussnahme. Im Unterschied zur Macht enthält sie die Weisheit, dass das eigene Handeln nicht notwendigerweise das Beabsichtigte hervorbringt und mit Sicherheit in seinen Effekten über das Intendierte hinausgeht.
Macht hingegen setzt sich immer gegen (sozialen, finanziellen, geistigen, ökologischen) Widerstand durch. Um ein Bild zu verwenden: Macht bedeutet, ein durchgehendes Pferd anhalten zu wollen; Mächtigkeit bedeutet, es so zu lenken, dass nichts Schlimmes passiert. Zusammenfassend sei gesagt:
Mächtigkeit ist das Wissen um die Unausweichlichkeit, Weisheit das Wissen um die Verborgenheit der Einflussnahme. Konsequenzen daraus sind Neugier als heuristisches, Behutsamkeit als pragmatisches, Neugier und Staunen als ästhetisches Leitmotiv.
Die pragmatische Doxa – und ihr Paradoxon
Gut ist, was nützt. Bzw.: Was nicht sein darf, das gibt es nicht. Bzw.: The Milgram Fathers:
Ich möchte diese pragmatische Doxa an dem Beispiel des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Phänomen der Gewalt diskutieren.
Erinnern wir uns an Ken Wilbers Stufen des Selbst: Auf der Persona-Ebene findet sich das Ich, welches alle schattenhaften, also dunklen, bösen, hässlichen Bereiche seines Selbst abgespalten hat. Dies gelingt ihm wegen seiner Fähigkeit zur Dissoziation, auf dem Grund der topografischen Prämisse, recht vollständig.
Das heißt, dass unser kulturelles Selbst alle diese Neigungen an sich nicht wahrnimmt, sondern nach außen, auf das Fremde, projiziert. Tritt das Böse dennoch aus ihm selbst heraus in Aktion, d.h. ohne dass die Möglichkeit besteht, es dem Fremden anzulasten, verlangt dies nach einer ursächlichen externalen Erklärung.
Dies ist dementsprechend in nahezu allen Beiträgen zum Thema Gewalt als Prämisse abzuleiten: Gewalt braucht eine externale Erklärung; sie kann schließlich nicht „einfach so“ existieren!
Also wird alles Mögliche für das Auftreten von Gewalt verantwortlich gemacht: die Erziehung, das Fehlen von Erziehung, zu viel Strenge, zu wenig, Gewaltvideos, Kriegsspielzeug, die Abwesenheit der Väter, deren Anwesenheit, die Ausländer, die Schule, autoritäre Lehrer, antiautoritäre Erzieher, der Werteverfall, die rigide Moral usw. usf..
In den vergangenen Jahren habe ich nur eine einzige Arbeit zu Gesicht bekommen, welche nicht nach solchen externalen Ursachen forschte, sondern einfach die These aufstellte:
Das Böse tritt zutage, weil es das Böse gibt. Mit anderen Worten: Das Böse braucht keine Erklärung! (24)
Wenn ich mich also selbst betrachte, meine Kinder, meine Freunde, meine Patienten, unsere Nation, unsere Gattung, unsere Welt, und wenn ich dies schonungslos tue, dann kann ich nicht anders als zu sehen: Das Böse ist immer schon da! Natürlich gibt es Randbedingungen für sein Auftreten, begünstigende und hemmende; sicherlich gibt es das Böse auch als Reaktion.
Aber dass es einfach „da“ ist, zeigt sich jedem, der ehrlich seine Phantasien, Träume und Lüste befragt. Wen diese Introspektion nicht überzeugt, der sei an die fürchterlichen Milgram-Experimente (25) erinnert, in denen sage und schreibe zwei Drittel der Versuchspersonen ihren Probanden bei falschen Antworten (vermeintlich) tödliche Stromstöße verabreichten!
Dennoch: Unser kulturelles Selbst forscht nach Ursachen; die aber eigentlich nichts erklären. Die „Erklärungen“, die gefunden werden, sind nicht viel mehr als Koinzidenzien, Korrelationen und Tautologien. Das Böse, ebenso das Alte, Kranke, Hässliche, Unnormale wird externalisiert, auf die „grüne Wiese“ ausgelagert, in Altenghettos abgeschoben, in anonymen Medizinbetrieben interniert.
Auf diese Weise wird ein gesellschaftliches Faktum skotomisiert, nämlich dass Gewalt überall ausgeübt wird. Zum einem gibt es die als kriminell benannte Gewalt, die sich meist als physische Gewalt manifestiert. Dies ist die Form von Gewalt, die - als Taten von Radikalen, Hooligans, Kriminellen, Mafiosi, Verhaltensgestörten - diskutiert wird.
Die andere - meines Erachtens letztlich viel bedeutsamere und zerstörerischere - Gewaltform ist die legitimierte. Dies ist die Gewalt von Staat, Banken, Behörden, Verwaltungen, Mitläufern usw., die sich oft nur subtil oder in Form von Androhungen offenbart.
Als ganz alltägliches Beispiel will ich die typische schriftliche Zeugenladung mit ihrer Strafandrohung bei Nichterscheinen anführen.
Dieser Modus der Gewaltausübung ist als solcher nicht schlimmer als jener; ich will legitimierte Gewalt auch nicht als Ursache (Entschuldigung) für kriminelle Gewalt hinstellen.
Was erstere aber letztlich destruktiver macht, ist die Randbedingung ihres Erlaubtseins: Sie findet demnach keinerlei Beschränkung.
Solchermaßen ausgegrenzte, abgespaltene Gewalten sind also gefährlich, und zwar nicht, weil sie vorhanden sind, sondern weil so getan wird, als seien sie nicht vorhanden!
Es ist kein Zufall, dass Amokläufer oft gerade die Überangepassten, Unauffälligen, Funktionierenden und Aggressionsgehemmten sind. Zufällig scheint es mir auch nicht zu sein, dass das Wort Amok seinen Ursprung in der asiatischen Kultur hat, einer Kultur, welche das Böse in noch stärkerem Maße ächtet und den Umgangsformen entzieht.
Die Schädlichkeit des Ausgegrenzten richtet sich nicht nur nach außen, gegen den Anderen; auch das eigene Selbst nimmt Schaden, es krankt daran. Weiter oben hatte ich bereits erwähnt, dass Menschen in den psychotherapeutischen Praxen an diesem Ausgegrenzten leiden:
Sie entdecken das Altwerden an sich und verdrängen es durch autoaggressive Fitnessmanie.
Sie verbieten sich Gefühle von Wut gegen den Verstorbenen und bekommen stattdessen Schuldgefühle.
Sie entwickeln Ängste und Zwänge, weil sie von sadistischen Vorstellungsbildern heimgesucht werden ...
Was aber folgt aus dieser Sicht?
Sollen wir uns etwa das Böse, Hässliche, Kranke, Tote wieder aneignen?
Sollen wir Menschen uns nach der kopernikanischen, darwinschen und freudschen nun auch noch die satanische Demütigung antun?
Zugeben, dass wir alle Böses, Hässliches, Altes, Totes in uns haben?
Meine Antwort ist: Ja!
Die Doxa der Gewaltfreiheit – und ihr Paradoxon
Und so möchte ich als viertes und letztes Paradoxon, quasi exemplarisch, fordern:
Waffen in die Kindergärten! Oder: Auch das Böse ist gut! Oder: Es ist gesund, krank zu sein!
Nun erschrecken Sie bitte nicht zu sehr! Ich bin kein gewaltbereiter Revolutionär. Was ich meine, ist:
Holen wir diese abgespaltenen Schatten unseres Selbst wieder ins Bewusst-Sein zurück!
Gestehen wir doch, dass wir böse sind!
Betrachten wir doch das Hässliche!
Bringen wir Alte und Junge zusammen!
Holen wir die Sterbenden und Toten wieder nach Hause!
Geben wir dem Leiden die Zeit, die es braucht!
Denn Destruktion entsteht nicht nur durch die Existenz des Bösen, der Lust an Gewalt, Macht und Vorteil.
Destruktion entsteht auch dadurch, dass wir unsere Kinder, die ihren Schatten entdecken, damit allein lassen.
Kinder sollten die Möglichkeit haben, so meine ich, zuhause und in den Bildungsinstitutionen ihre Gewaltlust, ihr Eindringen-Wollen, ihre Sehnsucht nach Wirkung zu entdecken, mit Kriegsspielzeug umzugehen, sich gegenseitig im Spiel erschießen zu dürfen. Leiten wir unsere Kinder also an, ihre „Waffen“, also ihren Zorn, ihren Destruktionswillen, ihr Machtstreben, ihre Fäuste wahrzunehmen, ihre Gefährlichkeit kennenzulernen und sie zum Guten zu (ver)wenden, indem wir ihnen lebendige Grenzen setzen, an denen sie gleichwohl Ermutigung wie Halt, aber auch - bei drohender Destruktivität - Begrenzung erfahren. Andernfalls entwickeln sie Schuldgefühle (und noch mehr heimliche Gelüste!), sobald sie all diese schrecklichen Vorgänge in sich entdecken.
So können sie lernen, das Destruktive abzuwenden und das Böse, Gewaltsame ins Konstruktive zu wenden. (26)
Dies ist der Weg, auf dem Begegnung, Chancengleichheit, Sozialpartnerschaft und Gerechtigkeit gedeihen können.
Gaustautor Dr. phil. Michael Mehrgardt setzt sich mit seinem Vlog auf YouTube und hier auf mindroad.de für eine humanistische Grundhaltung in der Psychotherapie ein. Sieh Dir seine Videos an, darin teilt er wertvolle therapeutische Tipps bei Angst, Depressionen & Co.
Quellen: Bei diesem Essay handelt es sich um eine überarbeitete Form eines früher veröffentlichten Artikels: Mehrgardt, M. (2001): Homo Solus - Doxa und Paradoxa des kulturellen Selbstverständnisses. Gestalttherapie, 1, 3-25.
5) Watzlawick, P., (Hg), 1990: Die erfundene Wirklichkeit. München: Piper, S. 231
7) Bourdieu, P., 1979: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt am Main, S.36
8) Schneewind, K., 1992: Persönlichkeitstheorien. Bd. 1 u. 2, Darmstadt: Primus
9) Metzger, W., 1954: Psychologie. Darmstadt: Steinkopff; für mich eines der wesentlichsten Bücher der Psychologie!
10) Weischedel, W., 1987: Die philosophische Hintertreppe. München: dtv, S.213
11) z.B. Hegel, G., 1925: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hg. Von G. Lasson, Hamburg: Meiner
12) z.B. Keupp, H., 2000: Identitäten im gesellschaftlichen Umbruch. In: Psychotherapeuten-Forum 1, S.5-2
13) Bischof, N., 1966: Erkenntnistheoretische Grundlagenprobleme der Wahrnehmungspsychologie. In: W. Metzger & H. Erke (Hg.): Wahrnehmung und Bewußtsein. Göttingen: Hogrefe
14) nach: Manfred Sliwka, Lübecker Nachrichten vom 3./4.10.1997, S.3
15) Wilber, K., 1987: Wege zum Selbst. München: Kösel, S.116
16) Schmitz, H., 1989: Leib und Gefühl. Paderborn: Junfermann
17) Mehrgardt, M., 1997: Erkenntnistheorie und Gestalttherapie, Teil 3. In: Gestalttherapie 1, S.26-42. Und in: Mehrgardt, M. & Mehrgardt, E.: Ost und West im Spiegel ihrer Selbsttheorien (in Vorbereitung)
18) Mehrgardt, O., 1995: Die originale Aussage als Bedingung im Lernprozeß. In: Mehrgardt, O. & Stolpe, A.: Eigenständiges Denken in der Schule. Kiel: Schmidt & Klaunig
19) Mehrgardt, M., 1994: Erkenntnistheoretische Grundlegung der Gestalttherapie. Münster/ Hamburg: LIT
20) nach: Eidenschink, K., 1995: Ein Versuch mit der Wahrheit. In: Gestalttherapie 2, S.43
21) Bateson, G., 1983: Ökologie des Geistes. Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 563
22) Krohn, W. & Küppers, G., 1990: Selbstreferenz und Planung. In: U. Niedersen (Hg): Selbstorganisation, Bd. 1. Berlin: Duncker & Humblot, S.124
23) Bateson, G., 1983: Ökologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 627
24) Safranski, R., 1995: Die Wiederkehr des Bösen. In: Gestalttherapie 2, S. 51-60
25) Milgram, S., 1963: Behavioral Study of Obedience. In: Journal of Abnormal and Social Psychology 67, S. 371-378
26) Genaueres dazu in: Mehrgardt, M. (2003): Erziehung zur Gewalt – oder: Waffen in Schulen und Kindergärten! Zeitschrift für Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein, 5, 9-13.