Philosophie der Psychiatrie – Grundlagen, Bedeutung & Fokus
Die Philosophie der Psychiatrie beschäftigt sich mit grundlegenden philosophischen Fragen, die sich aus der psychiatrischen Praxis und Theorie ergeben. Sie versucht, ein tieferes Verständnis der vielschichtigen Aspekte psychischer Krankheit zu erlangen.
Definition: Was ist die Philosophie der Psychiatrie?
Die Philosophie der Psychiatrie bzw. der Psychopathologie bewegt sich am Schnittpunkt von Philosophie, Psychiatrie, Psychologie und Soziologie. Sie untersucht psychiatrische Konzepte und Theorien auf normative Annahmen und stereotype Bias. Dabei ist das übergeordnete Ziel, das Verständnis sowie die Diagnose- und Behandlungsverfahren von psychischen Krankheiten zu verbessern.
Vgl. Stigmatisierung in der Psychiatrie oder Checkliste Depression
Die inhärente Komplexität der philosophischen Psychiatrie spiegelt die Vielfalt ihres Untersuchungsgegenstandes wider: nämlich den leidenden Menschen in seiner Ganzheit. (6)
Besonderes Augenmerk liegt auf dem Verständnis von Krankheitsbildern und den dazugehörigen Therapien. Dabei wird die Rolle biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren bei der Genese und Behandlung mentaler Krankheiten berücksichtigt.
Die wichtigsten Philosophie-Strömungen in der Psychiatrie
Anthropologie (Scheler, Plessner)
Phänomenologie (Husserl, Merleau-Ponty)
Existentialismus/ Existenzphilosophie (Heidegger, Jaspers, Sartre)
So viele Unterschiede und Überschneidungen es zwischen diesen philosophischen Strömungen auch gibt, sie alle eint die Überzeugung, dass die Psychiatrie geklärte Begriffe und ganzheitliche Konzepte braucht, zum Beispiel von Selbstbewusstsein, Leiblichkeit, Zeitlichkeit, Intersubjektivität u. v. m.
Vgl. auch Geist und Gehirn – Ich ist nicht Gehirn
Schwerpunkte der Philosophie der Psychiatrie
Die Philosophie der Psychiatrie verfügt über ein außerordentlich umfangreiches Untersuchungsgebiet, da bereits die Psychiatrie vielschichtige Themen und Forschungsobjekte abdeckt.
Folglich weist sie Forschungsbereiche auf, die biologische Aspekte (wie Moleküle und Neuronen), psychologische Theorien (wie Stimmungen, Kognition und Gedächtnis) und soziologische Prozesse (wie Sozialverhalten, Kultur und sozioökonomische Faktoren) umfassen.
Mehr erfahren » Depression: Gesellschaftliche Ursachen & Determinanten
Hauptthemen
Nosologie – Ethik – Leib-Seele-Problem – Phänomenologie
In der philosophischen Nosologie geht es um die Auslotung des Verständnisses für psychische Erkrankungen und deren Begründung. Vgl. zum Beispiel die Anthropologie der Angst oder Melancholie: Bedeutung oder Vulnerabilitäts-Stress-Modell
Die Ethik in der Psychiatrie widmet sich Fragen der Autonomie und Selbstverantwortung in Verbindung mit psychischen Krankheitsbildern und der normativen Dimension ihrer Konzeption.
Vgl. Grenzüberschreitungen in der Psychotherapie oder Stigmatisierung in der Psychiatrie
Das Leib-Seele-Problem wirft Fragen über die Interaktion zwischen physischem Körper und mentalem Zustand im Kontext seelischer Krankheiten auf.
Schließlich befasst sich die Phänomenologie mit den Erscheinungsformen von psychischen Krankheiten. Damit sind aber keine phänomenalen (äußerlichen) Beschreibungen gemeint, sondern die Bedeutung des subjektiven Erlebens.
Vgl. auch Was ist Phänomenologie?
Psychische Störungen in der Philosophie der Psychiatrie
Die Philosophie hat die wichtige Aufgabe, implizite Vorannahmen offenzulegen und kritisch zu hinterfragen. Ein Schlüsselthema dabei ist das Verständnis von psychischen Störungen, insbesondere im Kontext der Unterscheidung zwischen „Normalität“ und „Abweichung“:
Was sind diejenigen Parameter, die mentale Gesundheit definieren?
Wann und unter welchen Umständen werden Emotionen, Gedanken und Verhaltensweisen als gesund oder pathologisch klassifiziert?
In welcher Weise und wo lässt sich die Trennlinie zwischen gesund und pathologisch ziehen? Vgl. Traurigkeit und Trauer
Ist alles, was als nicht normal gilt, automatisch krankhaft? Vgl. Philosophie & Psychologie
Kritik am Mainstream der Psychiatrie und Psychotherapie
Es wirkt so, als ob die Eigenschaften, die zur Beschreibung oder Identifikation einer psychischen Störung herangezogen werden, mehr Normen entsprechen und nicht zuverlässige Fakten darstellen, die jederzeit eine psychische Krankheit eindeutig kennzeichnen.
Im Gegensatz zu reinen Tatsachen tragen Normen eine ethische Dimension in sich und geben uns bestimmte Denk- und Verhaltensweisen vor.
Deshalb ist es in der philosophischen Reflexion von Bedeutung, jene Normen und Konventionen auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu prüfen und abzuwägen, ob die Grundannahmen über das menschliche Leben, die das Krankheitskonzept stützen, tatsächlich mit der Realität des menschlichen Lebens übereinstimmen.
Vgl. dazu auch die Texte von Dr. Mehrgardt: Sackgassen der Richtlinien-Psychotherapie – Woran die heutige Psychotherapie krankt
Weitere Beiträge in diesem Zusammenhang
Klassismus - die soziale Frage in der Psychotherapie
Armut & Depression – die gesundheitliche Ungleichheit
Psychotherapie Kritik – Wie wirksam ist Psychotherapie bei Depressionen?
Depression: Gesellschaft spielt eine Rolle bei der Volkskrankheit
Pathologisierung & Medikalisierung – Die kranke Gesellschaft?
Krankheitsgewinn - primär, sekundär, tertiär
Therapeutische Beziehung – Vertrauensprobleme & Unehrlichkeit
Zeitnot & Zeitwohlstand – Der Zeitmangel als Lebensgefühl
Was dich nicht umbringt, macht stärker – Wachstum nach Trauma?
Psychosoziale Faktoren der Depression – Stress & Überforderung
Depression: Gesellschaftliche Ursachen & Determinanten
Argumente gegen eine biologische Erklärungen seelischer Krankheit
Eine wichtige Diskussion ergibt sich bei der Klassifizierung dieser Erkrankungen als rein psychische Krankheiten. Es wird nach wie vor debattiert, ob sogenannte psychische Krankheiten tatsächlich auf „körperliche“ Krankheiten reduziert werden können. Dies würde die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen physischem und psychischem Aspekt eliminieren.
Das philosophische Gegenargument dazu lautet, dass bei den meisten psychischen Erkrankungen keine klaren neurologischen Zusammenhänge nachgewiesen werden können. Infolgedessen ist das sogenannte „reduktionistische“ Modell von begrenzter Erklärungskraft. Vgl. Entmenschlichte Menschenbilder: Grenzen der Naturwissenschaft.
Des Weiteren steht einer biologischen Erklärung der psychischen Krankheit entgegen, dass sie lediglich unzureichend in der Lage ist, den subjektiven Erfahrungsaspekt zu erfassen.
Der Begriff „Erfahrungsgehalt“ beinhaltet sowohl persönliche Interaktionen mit Personen, die an einer psychischen Störung leiden, als auch die individuellen Erfahrungen dieser Personen.
Es ist eine zentrale Aufgabe der Philosophie, diese subjektiven Erfahrungen zu betrachten und angemessen zu artikulieren, ohne voreingenommene Begrifflichkeiten zu nutzen, die eine verurteilende Bewertung dieser Erfahrungen suggerieren.
Phänomenologie der Psychiatrie
In seiner phänomenologischen Betrachtung der Psychiatrie zieht Jaspers eine Unterscheidung zwischen erklärenden und interpretativen Ansätzen. Erklärende Ansätze, die eher mit den Naturwissenschaften verbunden sind, betrachten die Psyche aus einer externen Sichtweise und versuchen, kausale Verbindungen herzuleiten.
Die Fähigkeit des Verstehens erfordert hingegen Empathie, um das Bedeutungsvolle menschlicher Erlebnisse und Handlungen zu erfassen (Literatur, Humanwissenschaften, Kunst). Gemäß Jaspers ist es nur durch ein empathisches Verständnis der Erfahrungswelt eines Individuums möglich, eine angemessene Auffassung psychischer Phänomene zu entwickeln. Das deckt sich vielfach mit den Erfahrungsberichten betroffener Menschen.
Die Phänomenologie in der Psychiatrie legt ihren Schwerpunkt auf ein umfassenderes Verständnis der subjektiven Erfahrungen psychisch kranker Menschen. Zentral sind hier insbesondere die individuellen und zwischenmenschlichen Aspekte.
Zudem lautet eine Grundüberzeugung, dass die Komplexität subjektiver Erfahrung nicht simplifiziert oder reduziert werden kann, ohne wesentliche Merkmale von Krankheitserfahrungen zu eliminieren und dadurch am eigentlichen Untersuchungsgegenstand „vorbeizuforschen“.
Was ist Phänomenologie?
Außerhalb der philosophischen Disziplin wird der Terminus Phänomenologie in verschiedensten, unscharfen und häufig falschen Bedeutungen eingesetzt. Im Kontext der biologischen Psychiatrie oder Psychologie beschränkt sich ihr Sinn meist auf die Beschreibung von Hinweisen und Symptomen, die wiederum vom Verhalten und Befragungen abgeleitet werden.
Hier zeigt sich, dass eine einfache Adaption philosophischer Ansätze nicht fruchten kann, solange die Philosophie dahinter mitsamt ihren Implikationen nicht reflektiert wird.
Im eigentlichen Sinne repräsentiert die Phänomenologie nämlich eine der bedeutendsten Strömungen in der Philosophie des 20. Jh., deren Ziel es ist, die grundlegenden Strukturen menschlicher Erfahrung und Existenz zu beschreiben. Eine fundamentale Annahme besteht darin, dass das Bewusstsein anders beschaffen ist als andere Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchung.
Die moderne Phänomenologie übt grundlegende Kritik an dualistischen Auffassungen von Geist und Körper und betont die leibliche, soziale und kulturelle Verortung individueller Subjektivität.
Im Bereich der phänomenologischen Psychopathologie werden psychische Krankheiten nicht mehr nur als isolierte Zustände des Geistes oder des Gehirns betrachtet, sondern als Störungen im sozialen Zusammenleben und in unserer Auseinandersetzung mit der Welt.
Phänomenologische Psychopathologie
Die phänomenologischen Ansätze besitzen wohl den größten Einfluss innerhalb der Psychopathologie. Sie basieren einerseits auf dem Konzept der „verstehenden Psychopathologie“ von Jaspers, sehen sich jedoch auch als angewandte Phänomenologie im Sinne Husserls.
Die Aufmerksamkeit der phänomenologischen Forschung liegt auf den grundlegenden Erfahrungskategorien des Körpers, des Raums, der Zeitlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Es geht nicht um ein „defektes Gehirn“, sondern vielmehr um eine Person, die leidet und deren Symptome und Erfahrungen verstanden werden sollen. Eine Phänomenologische Psychopathologie bevorzugt daher das Verständnis gegenüber der Erklärung.
Sie vermittelt nicht nur Kenntnisse über die Symptome psychischer Erkrankungen, sondern gibt auch Einblick in die Veränderung unserer Beziehung zur Welt während des Krankheitserlebens.
Quellen:
1) T. Fuchs: Philosophische Grundlagen der Psychiatrie. In: Die Psychiatrie 2010; 7: 235–241.
2) J. Schmid: Philosophie der Psychiatrie (philosophie.ch, 18. Dezember 2016)
3) J. Puhlmann: Depression und Lebenswelt: Eine phänomenologische Untersuchung
4) M. Pawelzik: Gibt es psychische Störungen? 2017. http://www.jfpp.org/119.98.html
5) D. Sturma (2002): Philosophie der Psychologie. Journal für Psychologie, 10(1), 18-39. https://d-nb.info/1191044106/34
6) Sass, Henning; Maier, Wolfgang; Bormuth, Matthias; Brüne, Martin; Deister, Arno; Fuchs, Thomas; Hasan, Alkomiet; Hauth, Iris; Hoff, Paul; Hohagen, Fritz; Köhler, Sabine; Kronsbein, Julia-Maleen; Mayer-Lindenberg, Andreas; Schramme, Thomas (2019). Zur Identität der Psychiatrie: Positionspapier einer DGPPN-Task-Force zum Thema Identität. Berlin: DGPPN. ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-177484
7) T. Fuchs: Anthropologische und phänomenologische Aspekte psychischer Erkrankungen