SICH ÄRGERN & Co.

Was Sprache enthüllt #1

Vorsicht bei Wörtern mit sich …!

Ärgerst du dich auch so gerne? Und geht es dir gut, wenn du dich ärgerst? Wirst du dabei etwas los? Bist du hinterher erleichtert?

Hier erfährst du, inwiefern das Sich-Ärgern in unsere Sprache und deshalb auch in dich einprogrammiert ist.

Ist dir schon mal aufgefallen: Sich-Ärgern löst gar nichts auf, es verstärkt meist das Unwohlsein. Und wenn du deinen Ärger so richtig rauslässt – wird’s meist eher schlimmer! Warum ist das so??

Beispiel: Ärger im Hotel

Stell dir vor: Du kommst von einer Radtour zurück in dein Hotelzimmer. Vielleicht hast du auch eine Wanderung gemacht. Oder es ist heute einfach ein total heißer Tag. (Bei uns Nordlichtern gilt eine Temperatur von mehr als 20 Grad schon als heiß! Wenn du in BY oder BW lebst, nimm für unser Beispiel einmal über 35 Grad an.) Jedenfalls bist du so richtig durchgeschwitzt, deine Klamotten kleben dir am Leib. Du willst sie loswerden. Und zum Trocknen aufhängen. Aber: Es gibt weder Haken an den Wänden noch herausnehmbare Kleiderbügel.
(Bild: Canva)

Weitere Beispiele …

Oder erinnere dich an andere, für dich passende oder typische Ärger-Situationen! Vielleicht denkst du gerade an den Typen, der sich in der Warteschlange vorgedrängelt hat. Oder, sofern du woke bist, denke an deinen Onkel, der erstens nie gendert und zweitens das N-, I-, Z- oder E-Wort benutzt.

Ärger und was man sich sonst noch alles antut!

Du ärgerst dich also. Genau genommen, müsste es heißen: Du ärgerst DICH! Mit Betonung auf dem Dich.

Hast du es bemerkt? Lies es dir einmal laut vor:

Ich ärgere mich. Ich ärgere mich. Ich ärgere MICH.

Ja und? Sagen wir so etwas nicht ständig? Alle Welt drückt sich so aus … Aber hör dir doch selbst einmal zu:

Wen ärgerst du? DICH? Dich – Du ärgerst dich selbst!

Du bist das grammatikalische Objekt deines Ärgers! Mit anderen Worten: Du bist der Adressat deines Ärgers! Du richtest deinen Ärger – also: das Arge, Böse, Schlimme in dir – nicht etwa gegen den Hotelier oder den Haken, der da eigentlich sein sollte, oder gegen den Drängler oder gegen nicht-gendernde Alte Weiße Männer, sondern gegen dich selbst! Hä? Was??

Warum tut man so was??

Den Auslöser deines Ärgers fügst du mit dem Wörtchen über hinzu: über das Hotel, über die Chefin, über den Autofahrer, der dich gerade geschnitten hat.

 

Ein Beispiel von mir

Ich bin da übrigens ganz bei dir: Ich finde fehlende Haken in Hotelzimmern auch mega-ärgerlich. Ich hab‘ mir sogar schon mal überlegt, ob ich mir eine kleine Reisebohrmaschine zulege. Die nehme ich dann zusammen mit 5-er Dübeln und Schraubhaken auf jede Hotelreise mit. Die Löcher kriegt man hinterher prima mit Zahnpasta zugeschmiert.
(Bild: Canva)


Zurück zu dir: Du stehst da. Die stinkig-nassen Klamotten in der Hand. Du ärgerst dich. Du schimpfst vor dich hin, du regst dich auf. Du regst dich auf …

Achtung! Schon wieder etwas, was du dir selbst antust!

Was meinst du? Geht es dir besser, nachdem du dich ordentlich geärgert und dich wahnsinnig aufgeregt hast?

Mir geht es jedenfalls nicht besser, wenn ich mich über den Autofahrer aufgeregt und lauthals auf ihn geschimpft habe – im isolierten Auto geht das zwar ganz wunderbar, weil man so richtig vulgär und laut werden kann; aber dennoch:

Der Ärger. Bleibt. In. Mir. Stecken!

Obwohl ich ganz schön heftig gemeckert und schlimme Wörter geschrien habe, klopft mein Herz auch 5 Minuten später noch bis zum Hals!

Die Kumpel des Sich-Ärgerns

Für dich gibt’s leider immer noch keine Lösung: Du bist weder deine nassen Sachen noch deinen Ärger losgeworden! Also gehst du runter zur Rezeption. Dort machst du deinem Ärger Luft. Du beschwerst dich.

Du be- Was? Wen?
Du beschwerst? Dich?

Ja, klar: Dein Problem und dein Ärger lasten auf dir, sie sind eine Last. Also ist es doch ganz logisch, dass du dich beschwerst, oder etwa nicht?

Also machst du dich noch schwerer, lädst dir weitere Last auf deine Schultern ... So lautet jedenfalls der Sinn dieses Wortes.

Statt etwas bei jemand Anderem loszuwerden, beschwerst du dich. Dich selbst. Nicht den Anderen.

Kann eine Be-schwer-de tatsächlich eine Er-leicht-erung sein??

Sprache ist wirksam

Ja, wir machen unsere Sprache. Und unsere Sprache macht uns. Sprache ist weise und penibel. Oft bringt sie zum Ausdruck, was da eigentlich geschieht: dass man nämlich mittels Sich-Ärgern und Sich-Aufregen und Sich-Be-schweren in der Regel eben nichts loswird, nicht leichter, nicht ruhiger, nicht freier, nicht entspannter oder zufriedener wird!

Fazit:

Vorsicht bei reflexiven Verben, also bei rückbezüglichen Tätigkeitswörtern. Sie zeigen immer an, dass du dein eigenes Objekt bist, irgendetwas mit dir oder gegen dich selbst machst, dir selbst etwas antust oder dich gar schädigst.

Im schlimmen Fällen

  • bringst du dich um,

  • verletzt du dich selbst,

  • opferst du dich auf,

  • gibst du dich auf.

Im weniger schlimmen, alltäglichen Fällen

  • reibst du dich auf,

  • verausgabst du dich,

  • quälst du dich mit einer Aufgabe,

  • schämst du dich,

  • verspannst du dich, kritisierst du dich, sorgst du dich, grämst du dich, disziplinierst du dich, nimmst du dich zurück …

Es gibt auch positive Beispiele: Natürlich kannst du auch wachsen. Das kann der Fall sein, wenn du

  • dich anstrengst,

  • dich forderst,

  • dich übst und trainierst,

  • dich weiterentwickelst.

Manchmal kann es mit deinem rückbezüglichen (reflexiven) Tun auch ganz schön werden, wenn du

  • dich freust,

  • dich amüsierst,

  • dich verliebst,

  • dich selbstbefriedigst …

Retroflexion als Kulturtechnik

Ach ja: Der Prozess, den wir hier mit diesem Sich… ansprechen, nennt sich Retroflexion. Schon mal gehört? Das Retroflektieren kann auf sehr mannigfaltige Weise geschehen.

Retroflektieren heißt, einen inneren Impuls, der ursprünglich oder eigentlich einem Anderen gilt, gegen sich selbst zu richten.

Retroflexion ist sozusagen eine Kulturtechnik, etwas, was wir alle tun und sogar tun müssen, damit das Miteinander einigermaßen funktioniert.

Allerdings, so meine These, retroflektieren wir viel zu viel, mehr als nötig, und schaden uns damit oftmals selbst. Dieses Retroflektieren finden wir in ganz unterschiedlichen Arten vor:

  • Man kann Gedanken gegen sich selbst richten, indem man negativ über sich oder das Leben denkt, indem man ununterbrochen grübelt oder indem man sich immer mit anderen Leuten vergleicht und dabei schlecht abschneidet.

  • Man kann sich schlechte Gefühle machen, etwa sich ängstigen, sich schämen, sich sorgen, sich beschuldigen, sich Freude verbieten.

  • Man kann die Bedürfnisse seines Leibes ignorieren und ihn dadurch schädigen, indem man sich nicht genügend Schlaf und Ruhepausen gönnt, falsch atmet oder sich rücksichtslos körperlich „optimiert“.

  • Man kann schädigende Verhaltensweisen gegen sich selbst richten, indem man zu viel trinkt, raucht, isst.

Dafür gibt es viele weitere Beispiele. Meist nehmen wir gar nicht wahr, dass wir uns selbst gerade etwas antun, weil wir so sehr daran gewöhnt sind und weil wir es zudem ständig von uns und anderen mit der Instruktion einfordern: Stell dich gefälligst nicht so an!

Retroflektieren kann man auch als Den-Pfeil-gegen-sich-selbst-Richten bezeichnen.

Retroflexion und die 3 sozialen Fallgruben

Retroflektieren gehört für mich zu den 3 sozialen Fallgruben und ist sicherlich an der Entstehung vieler psychischer und auch somatischer Erkrankungen beteiligt. So spielt es bspw eine bedeutsame Rolle in meinem alternativen Depressions-Modell:

 

Ausführliche Beiträge über die 3 kulturellen Fallgruben oder auch „Krankmacher“ findest du hier:

 

Das Sprachspiel der reflexiven Verben ist kulturprägend

Hierzu ein kleiner Textauszug aus dem Artikel Das Fremde, das Andere, das Du – ein Spaziergang. Teil 1:

 


”Ein Mensch, der mit sich unzufrieden ist, weil er zu viel isst, schon wieder „zu sehr geliebt“ hat und deshalb in seiner Partnerschaft gescheitert ist, der zu wenig Sport macht, immer so aufgeregt ist, diese irrationalen Ängste hat …, ein Mensch also, der mit sich hadert und ins Gericht geht, tut dies, weil er sich nicht versteht. „Wieso habe ich schon wieder…?“, stellt er sich zur Rede, „Warum kann ich nicht einfach…?“ Weshalb muss ich immer wieder…?“ Gemäß logischen, vernünftigen, gesunden, nachvollziehbaren Gesetzmäßigkeiten müsste er sich anders verhalten! An dieser Stelle taucht, so meinen wir, ein weiteres weit verbreitetes und kulturprägendes Sprachspiel auf, das der reflexiven Verben: „Ich verstehe mich nicht!“, hatte unsere Person […] zu sich gesagt. Dies impliziert vermutlich die Selbstbewertung des Falschseins, des Krankseins, des Unnormalseins. Sie wertet sich ab,  ärgert sich über sich selbst, setzt sich unter Druck, strengt sich an, diszipliniert sich und versucht, sich zu ändern. Übrigens auch dann, wenn der Ärger von einem Anderen ausgelöst worden ist, ärgert unsere Person sich, wenn auch über den Anderen; das heißt, dass sie selbst grammatikalisches und semantisches Objekt desjenigen Argen ist, welches als negatives Gefühl in ihr selbst entsteht. Sie richtet dieses Arge also gerade nicht auf den Anderen, sondern auf sich selbst. Kulturprägend ist dieses Sprachspiel unseres Erachtens, weil ein zentrales Doxon (vgl. Bourdieu, s. u.) unserer Kultur zur Retroflexion (das Gegen-sich-selbst-Zurückwenden von emotionalen Impulsen) auffordert und so für viele psychische und psychosomatische Störungen (mit-) verantwortlich ist. Diese Sichtweise wird von der Mainstream-Psychotherapie nicht geteilt, und zwar deshalb, weil sie aus unserer Sicht ebenfalls diesem Doxon unterliegt. Diese Lesart können wir allerdings in diesem Zusammenhang nicht weiter ausführen.”

Malte & Michael Mehrgardt, 2020. In: Aufklärung und Kritik. 3, S. 62 f.

 

Es gibt noch weitere Beiträge zu dem Thema Was Sprache enthüllt.
Hier findest du die Fortsetzung:

Verstehen

 

Übrigens:
Vergiss bitte nicht, zu liken, zu teilen, zu abonnieren!
Gerne lese ich auch deinen Kommentar!

 
 
Zurück
Zurück

Verstehen - eine Kommunikations-Falle?

Weiter
Weiter

Einsamkeit in der Depression – existenziell einsam sein