Verstehen - eine Kommunikations-Falle?
Was Sprache enthüllt #2
Vorsicht bei Wörtern mit “Ver-”!
Heute setze ich meine Reihe Was Sprache enthüllt fort. Den vorangehenden Beitrag Sich-Ärgern kannst du hier aufrufen:
In dieser Folge behandle ich das Thema Verstehen. Einige Minuten Konzentration und du wirst erfahren, warum Verstehen eher Probleme schafft als löst.
Der frz. Philosoph Jaques Derrida meint,
die Alltagssprache sei weder harmlos noch neutral.[1]
Ich stimme dem zu. Denn unsere Alltagssprache weist so manche Stolperfallen auf, in die wir mitunter unbemerkt hineinstürzen.
(Bild mit KI generiert)
Tiefenbedeutungen des Wortes Verstehen
Stell dir vor: Im Streit sagt dir dein Gegenüber: Du verstehst mich einfach nicht! Hast du ein irgendwie merkwürdiges Gefühl, wenn du so etwas hörst?
Ich behaupte:
Der Versuch, oder besser: die Forderung zu verstehen, erzeugt in vielen sozialen Situationen eher Verwirrung als Klärung, eher Machtanspruch, Anklage und Schuldzuschreibung als Einigung und Lösung.
Das Wort Verstehen lässt nämlich Tiefenbedeutungen wirksam werden, die uns steuern, die schädlich sind und die uns in aller Regel nicht bewusst sind.
Was wir allerdings oft spüren, ist ein unangenehmes, schwer benennbares Gefühl, wenn dieses Wort verwendet wird.
Die Herkunft der Vorsilbe ver-
Um der Problematik dieses Ausdrucks auf die Schliche zu kommen, schauen wir uns die Vorsilbe ver- an und vergleichen sie mit anderen Sprachen:
In romanischen Sprachen wird das, was wir mit ver-stehen ausdrücken wollen, mit der Vorsilbe com- gebildet. Es heißt zB com-prender oder com-prendre oder com-prendere.
Com- geht auf lat. cum zurück und bedeutet mit oder zusammen mit.
Das heißt, hier werden die unterschiedlichen Sichtweisen der Konfliktparteien zusammen betrachtet und abgewogen.
In der deutschen Sprache ist die Herkunft der Vorsilbe eine völlig andere: Befragen wir dazu nämlich das Wörterbuch des Dudens, wird der Unterscshied schnell klar: Die deutsche Vorsilbe ver- geht auf die gotische Vorsilbe fra- zurück, was so viel bedeutet wie: weg.
Die Grundbedeutung von ver- ist demnach ein weg-von/ hin-zu, ein Irregehen oder -führen, ein Verwandeln, Verderben, Verbrauchen, Versehen, Verschließen (vgl. Duden, das Herkunfts-Wörterbuch[2])
Die Wortfamilie ver-
Mit dieser Erklärung betrachte die folgenden Wörter nochmals mit ganz neuen Augen: ver-stehen, ver-dächtigen, ver-trauen, ver-antworten, ver-muten, ver-rücken, ver-achten, ver-lieben.
Sprachspiele mit ver-
Schauen wir uns nun typische Sprachspiele, also soziale Situationen an, in dessen Zentrum das Wort verstehen vorkommt. Zuerst benenne ich die Äußerung und danach eine – je nach Kontext – mögliche Grund-Aussage:
Das sogenannte Großmutter-Neuron
Laut Wikipedia wird mit dem Ausdruck Empathie-/ Großmutter-Neuron eine Gruppe von Nervenzellen im Gehirn bezeichnet, die bei der Wahrnehmung einer bestimmten Person, beispielsweise der eigenen Großmutter (daher der Name), aktiviert wird.
Hier findest du einen Artikel, in dem ich die Bedeutung des Verstehens bei Paarkonflikten analysiere. Das Motto:
Hilfe, versteh’ mich bitte nicht!
(Bild: Canva/ MM)
Einige Beispiele
A: Aber du müsstest mich doch verstehen! …
… könnte so viel heißen wie: Verlasse deinen Standpunkt, übernimm meinen!
B: Ich verstehe dich einfach nicht! …
… meint vielleicht: Dein Standpunkt ist nicht wahr!
C: Ich als Psychotherapeutin verstehe Ihr Problem so, dass sich in diesem Ihre unbewussten Kindheits-Konflikte zeigen! …
… bringt etwa zum Ausdruck: Ich weiß besser über Sie Bescheid als Sie selbst!
D: Ich kann einfach nicht verstehen, warum ich immer so aufgeregt bin! …
… könnte eine Selbstabwertung enthalten wie: Ich bin so blöd, weil es doch überhaupt keinen vernünftigen Grund für meine Aufregung gibt!
Verstehen beinhaltet eine Norm
Du siehst also: Wenn jemand etwas oder jemanden oder auch sich selbst versteht oder nicht versteht, steckt darin eine Beurteilung und Bewertung!
Ich verstehe dich! heißt nichts anderes als:
Deine Äußerung ist wahr, richtig, berechtigt, vernünftig, gesund, wichtig!
Im negativen Fall impliziert die Aussage Ich verstehe dich nicht! womöglich:
Was du sagst oder tust, ist nicht wahr, nicht richtig! Es ist vielmehr unnormal, unvernünftig, boshaft, falsch, krank, Ausdruck deiner psychischen Störung!
Verstehen ist keine gute Konfliktlösungs-Strategie
Ein typischer Beziehungsstreit etwa eskaliert deshalb, weil der Empfänger die Botschaft des Partners nicht versteht und ihr Unrichtigkeit oder niedere Motive zuschreibt.
Der Sender hingegen betrachtet das fehlende Verstehen des Empfängers vielleicht als mangelndes Bemühen, fehlende Empathie oder gar Dummheit. Beide verweigern dem Standpunkt des anderen somit Wahrheit und Berechtigung.
Wenn wir zwischenmenschliche Kommunikationen genau betrachten, müssen wir feststellen:
Die Äußerung Ich verstehe dich basiert meist nicht auf zwingenden logischen Schlüssen oder wahren, überprüfbaren Sachverhalten. Viel eher drückt sie eine Übereinstimmung der eigenen Denkmuster, Überzeugungen und Werthaltungen mit denen des anderen aus.
Fassen wir zusammen:
Das Sprachspiel Verstehen ist eher Beurteilung bzw Verurteilung und Bewertung bzw Ab- oder Entwertung.
Es spricht einer Äußerung Wahrheit zu – oder ab.
Damit zielt es auf Rechthaben, Zurückweisung der Sichtweise des Anderen und Beschuldigung.
Es produziert Konfrontation und Sieger und Verlierer.
Manchmal mündet es in Vereinnahmung oder gar Kolonialisierung des Denkens des Gegenübers, wenn zB der Satz fällt: In Wirklichkeit bist du ja nur …!
Es verhindert ein konstruktives Miteinander.
Die Alternative: Toleranz und eine Prise Verrücktheit
Ein besseres Modell für Kommunikation und Konfliktlösung beruht auf Toleranz, Akzeptanz, Verhandeln – und ein bisschen Ver-rücktheit!
Es erlaubt unterschiedliche Sichtweisen, Weltbilder, Wertesysteme sowie einen ökologischen Egoismus und konstruktive Wut.
Wie das gehen soll?
Schnupper doch mal in meinen Videos und Texten über Kommunikation und Paarkonflikte. Es könnte sein, dass dort einige überraschende Erkenntnisse auf dich warten …
So long für heute. Tschüss und bis dann! Ach ja, würdest du meinen Beitrag noch liken, teilen, abonnieren und kommentieren?