Einsamkeit in der Depression – existenziell einsam sein
Menschen verlieren in der Depression den emotional-psychischen Kontakt zu den Mitmenschen. Sie vereinsamen existenziell. Ein Grund könnte im Bruch der leiblichen und sozialen Resonanz liegen – dem Verlust von grundlegenden Möglichkeiten, mit den Mitmenschen in Beziehung zu treten (im übertragenen Sinne).
„Am schlechtesten ist die Einsamkeit in Gesellschaft zu ertragen.“
Jeder 2. Depressive ist sehr einsam
Einsamkeit ist nicht erst seit Corona ein Thema, hat seitdem aber an gesellschaftlicher Brisanz gewonnen. Die COVID-19-Pandemie hat das Bewusstsein für die Bedeutung sozialer Kontakte und die Auswirkungen von Isolation auf die psychische Gesundheit geschärft.
Untersuchungen belegen, dass chronische Einsamkeit nicht nur das subjektive Wohlbefinden beeinträchtigt, sondern auch ernsthafte gesundheitliche Folgen mit sich bringt, wie etwa ein erhöhtes Risiko für Herzkrankheiten oder Depressionen.
» Folgen von Depressionen: körperlich, psychosozial & beruflich
Entsprechend werden Depressionen und Einsamkeit – 2 große Probleme unserer Zeit – in den Medien häufig miteinander in Verbindung gebracht. Erst kürzlich veröffentlichte die Stiftung Deutsche Depressionshilfe das Deutschland-Barometer Depressionen:
Demnach fühlen sich Menschen mit Depressionen doppelt so häufig sehr einsam wie die Allgemeinbevölkerung (53 % gegenüber 25 %).
Zudem berichten 84 % der Betroffenen, während einer depressiven Phase das Gefühl zu haben, von ihrer Umwelt abgeschnitten zu sein.
Depression wegen Einsamkeit?
Oder Einsamkeit wegen Depression?
Dr. Hegerl, Vorsitzender der Depressionshilfe, sagt (5): “Oft wird übersehen, dass Depressionen mehr als eine Reaktion auf schwierige Lebensumstände sind, sondern eine eigenständige Erkrankung. Das Gefühl der Einsamkeit ist ein Symptom der Depression und weniger deren Ursache.”
Naja, ganz so sicher wäre ich mir da nicht. Es gibt jedenfalls Studien, die belegen, dass chronische Einsamkeit das Risiko für psychische Erkrankungen erhöht (4). Denn fehlende Anerkennung und soziale Isolation führen zu anhaltendem Stress, rauben Ressourcen und schädigen die Allgemeingesundheit.
Andererseits ist es absolut richtig, dass Depressionen zur Einsamkeit führen (7). ABER: Wenn jeder 2. Mensch mit Depressionen von großen Einsamkeitsgefühlen (5) spricht, dann ist nicht von herkömmlicher Einsamkeit die Rede, die jeder kennt, sondern von einer existenziellen Einsamkeit (mehr dazu weiter unten).
Vgl. Einsamkeitsfähigkeit – Können wir nicht mehr einsam sein?
Zirkularität von Einsamkeit & Depression
Festzuhalten ist ein Sowohl-als-Auch: „Einsamkeit kann aber sowohl Risikofaktor für als auch Folge von verschiedenen psychischen Erkrankungen sein (…), und einige der Symptome von Einsamkeit treten auch bei bestimmten psychischen Störungen auf.“ (Kompetenznetzwerk Einsamkeit, Quelle 1)
Ein zirkulärer Zusammenhang bzw. eine Wechselbeziehung ist aber nicht nur für Einsamkeit und psychische Krankheiten typisch, sondern auch für Armut und Einsamkeit (8).
Was “normale“ Einsamkeit ist
Einsamkeit bedeutet eine schmerzliche Vereinzelung. Sie soll sich in folgenden Symptomen niederschlagen:
Hilflosigkeit
Selbstmitleid
Verzweiflung
Aggressionen
Im Gegensatz zum Alltagsverständnis und der psychologischen Definition betonen einige Forscher (9) die definitorischen und konzeptionellen Mängel in der Einsamkeitsforschung:
Um die Einsamkeit in unseren Tagen besser verstehen zu können, lohnt es sich, die Logiken des Einsamkeitserlebens je nach Lebensalter, -situation und normativer Orientierung zu erschließen.
Die Beispiele zeigen, dass Einsamkeit viele Facetten hat und mit unterschiedlichen Gefühlslagen, Bedeutungsgehalten und Kontexten assoziiert wird. (…) Zweitens werden Begriffe wie „Einsamkeit“, „Alleinsein“ oder „Isolation“ nur unscharf getrennt und je nach Sprecher oder Sprecherin unterschiedlich verwendet.
Wenn Einsamkeit, wie in der Forschungsliteratur angenommen, ein subjektives Gefühl ist, dann ist von einer Bandbreite unterschiedlicher Bedeutungs- und Erfahrungsgehalte auszugehen, die sich in modernen Gesellschaften durchaus überlagern.
Mit anderen Worten:
Einsamkeit und Einsamkeit sind nicht dasselbe, sondern unterscheiden sich je nach Zusammenhang.
Was Einsamkeit in der Depression bedeutet
Das ganze Selbstverhältnis von Menschen mit Depressionen ist erheblich aus der Balance geraten. Hilfreich für ein besseres Verständnis ist hier m.E. Ratcliffes Theorie der existenziellen Gefühle (siehe Bücher über Depressionen).
Der Phänomenologe führt den Verlust an Zwischenmenschlichkeit, also die Fähigkeit, mit anderen Menschen in direkten, persönlichen Kontakt zu treten, auf die Veränderung existenzieller Gefühle zurück. Vgl. Depressionen als Verlusterfahrung
Geht der Sinn dafür abhanden, dass es überhaupt die Möglichkeit gibt, mit einem Du zu interagieren oder zusammen zu sein, dann werden auch die vertrautesten Menschen fremd.
Die menschliche Erfahrung ist immer eingebettet in das Bewusstsein, wie, wo und wann du mit anderen Menschen in welcher Form in Kontakt treten kannst.
Doch in der depressiven Phase fehlt genau dieses existenzielle Gespür für die Gemeinsamkeit im Menschsein und die basalsten Formen der Interaktion.
Die Lebenswelt von Menschen mit Depressionen ist verfremdet und menschenleer. Du fühlst eine Distanz zu den anderen, die sich dir unmittelbar bei jeder Begegnung schmerzlich aufdrängt.
Ein Grund für diese Entfremdungserfahrungen ist auch im leiblichen und sozialen Resonanzverlust zu finden. Thomas Fuchs spricht in diesem Zusammenhang vom Verlust der zwischenleiblichen Resonanz bzw. Korporifizierung des Leibes, die er auf Husserls Körper-Leib-Dialektik gründet.
Existenzielle Einsamkeit in der Psychotherapie
In der existenziellen Psychotherapie wird die existenzielle Einsamkeit oft in den Kontext von Grenzerfahrungen gestellt: Der Mensch erkennt, dass er die tiefschürfenden Erfahrungen des Lebens (Tod, Krankheit, Verlust) als Einzelwesen alleine bewältigen muss.
Einsamkeit wird auf diese Weise in die Nähe der existenziellen Angst vor Selbstwerdung gerückt, die hemmen, aber auch persönliches Potenzial freisetzen kann. Vgl. depressive Angst sowie Existenzphilosophie
Yalom beschreibt die existenzielle Einsamkeit als Gefühl der „Entfremdung von sich selbst und der Umwelt“ (6). *Dazu muss gesagt werden, dass Yalom selbst eine lange Zeit seines Lebens mit der Angst vor dem Tod (und anderen Ängsten) zu kämpfen hatte. Könnte hier eine Projektion vorliegen?*
Für ihn geht es jedenfalls um eine conditio humana, eine Ur-Angst des Menschen vor dem Alleinsein. Das stimmt natürlich: Diese Ur-Angst steckt laut philosophischer Anthropologie in jedem von uns – vgl. Angst vor dem Leben: Philosophie der Angst (Teil 2).
Existenzielle Einsamkeit ist eine bedrohliche Erfahrung, in der Menschen weder Sinn noch Bedeutung spüren. Sie zeichnet sich durch starkes Leid, Ängste und extreme Verzweiflung aus. Allerdings berichten viele Betroffene von Depressionen nicht “nur” oder direkt von Einsamkeit, sondern davon:
dass andere nicht nachvollziehen können, was sie erleben,
dass sie sich innerlich tot fühlen,
und dass sie sich von der Welt und den Menschen um sie herum abgeschnitten fühlen.
Ich glaube, das zeigt, dass die existenzielle Einsamkeit in der Depression anders beschaffen ist bzw. nicht die Angst vor der Endlichkeit widerspiegelt.
Die depressive Einsamkeit ist anders
Einsamkeit in der Depression ist ein komplexer und schmerzhafter Verlust der Verbindung zur Welt. Die natürliche Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Lebenswelt ist verloren.
Grundlegende Erfahrungshorizonte (als vorstellbare und mögliche Erfahrungen) sind dir in der Depression nicht mehr gegeben. Begegnest du anderen Menschen, eröffnet sich dir nicht das Möglichkeitsfeld zur Interaktion, sondern ein völlig anderes Erlebnis. Selbst die liebsten Menschen wirken auf dich irgendwie unpersönlich, entfernt und teilweise auch bedrohlich.
Diese Vereinsamung könnte ein Spiegelbild der Weltentfremdung in der Depression sein: Die Welt wird surreal und gleichzeitig einsam, weil dir die Möglichkeiten fehlen, mit anderen Menschen und der Welt in emotional-leiblichen Kontakt zu treten.
Lähmend und entwertend
Während die existenzielle Einsamkeit eine fundamentale menschliche Erfahrung ist, die alle Menschen irgendwann in ihrem Leben durchlaufen, ist die Einsamkeit, die mit Depressionen einhergeht, eine abrupte und absolute Unterbrechung des Lebensflusses; eine Abkopplung von der eigenen Identität und Umwelt, die tiefgreifende und oft lähmende Auswirkungen hat.
Diese Unterscheidung ist entscheidend. Die existenzielle Einsamkeit nach Yalom kann eine Quelle der Reflexion und des persönlichen Wachstums sein. Sie zwingt, sich mit den tiefsten Werten und Überzeugungen auseinanderzusetzen.
Die Einsamkeit bei Depression ist hingegen geprägt von Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit. Hier führt die Isolation nicht zur Erkenntnis, sondern zu einem überwältigenden Gefühl der Wert- und Sinnlosigkeit.
Versagensgefühle & Stigmatisierung
Es ist auch wichtig, die soziale Dimension dieser Einsamkeit zu betrachten. Interaktionen und Zugehörigkeit sind ja fundamentale Bedürfnisse des Menschen. Vgl. Geltungsbedürfnis & Geltungsdrang
Die soziale Isolation in einer Depression führt in eine Abwärtsspirale, die die existenziellen Überlegungen zur eigenen Sterblichkeit in den Hintergrund drängt und stattdessen den Fokus auf das Gefühl der schuldhaften Trennung zur Umwelt richtet.
Eine weitere Facette, die berücksichtigt werden muss: der Einfluss der Gesellschaft auf die individuelle Erfahrung von Einsamkeit. In einer zunehmend individualisierten Welt, in der der Druck allgegenwärtig ist, erfolgreich, unabhängig und „authentisch“ zu sein, werden psychische Probleme oder Unsicherheiten stigmatisiert.
Diese Stigmatisierung ist eine zusätzliche Barriere und führt dazu, dass Betroffene sich noch einsamer fühlen, sich schämen und zurückziehen.
Vgl. auch Entstigmatisierung – Was hilft?
Fazit: Depression und Einsamkeit
Einsamkeitserfahrungen stehen immer in einem bestimmten Kontext, der wesentlich für ihr Verständnis, ihre Bedeutung und ihre „Bekämpfung“ ist.
Im Zusammenspiel mit weiteren Erfahrungsdimensionen (Zeitgefühl, Leibgefühl, Selbstgefühl), die eine negative Veränderung erfahren, erhält die Einsamkeit in der Depression einen schweren, negativen und paralysierenden Charakter, wie so viele andere Gefühle auch (wenn sie noch zu spüren sind).
Quellen:
1) Kompetenznetzwerk Einsamkeit: KNE Expertise 1/2022 (pdf)
2) M. Hähnel und M. Knaup (Hrsg.): Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit, wbg Verlag, Darmstadt 2013
3) Schriftenreihe der DGAP: Das leidende Subjekt. Phänomenologie als Wissenschaft der Psyche, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2014
4) Louis Jacob et al.:Relationship between living alone and common mental disorders in the 1993, 2000 and 2007 National Psychiatric Morbidity Surveys, Published PLOS ONE: May 1, 2019, https://doi.org/10.1371/journal.pone.0215182
5) Deutsche Depressionshilfe: Deutschland Barometer Depression “Einsamkeit” 2023
6) Irvin Yalom: Existenzielle Psychotherapie, Bergisch Gladbach, Bd. 2010.
7) Kraav, S. L., Lehto, S. M., Junttila, N., Ruusunen, A., Kauhanen, J., Hantunen, S., & Tolmunen, T. (2021). Depression and loneliness may have a direct connection without mediating factors. Nordic Journal of Psychiatry, 75(7), 553–557. https://doi.org/10.1080/08039488.2021.1894231
8) Alexander Langenkamp und Jan Brülle: Einsamkeit und Armut. Eine zirkuläre Beziehung (Bundeszentrale für politische Bildung (APuZ) 19.12.2024)
9) Daniel Ewert und Heike Ohlbrecht: Über die Einsamkeit der Individuen in unseren Tagen. Eine Annäherung. (Bundeszentrale für politische Bildung (APuZ) 19.12.2024)