Reflexion (Philosophie) – Reflektierendes Denken & seine Formen
Philosophische Reflexion ist weniger selbstbezogen als viele denken. Reflektieren hat einen anderen Dreh, im Gegensatz zu den einfachen und oft oberflächlichen Darstellung der Reflexion. Hier möchte ich Dir die 4 Stufen des Selbst-Reflektierens erklären, die weit über die Selbstbesinnung hinausgehen.
Philosophische Reflexion
Reflexion wird oft als Selbstreflexion definiert, hat in der aber eine etwas andere Bedeutung, die weit über das Ego hinausgeht.
Vgl. auch: Was ist Philosophie?
Reflexion & der moderne Individualismus
Wenn heute von Reflexion die Rede ist, geht es häufig um Selbstreflexion im Sinne von Selbstbestimmung. Dabei bleiben aber einige Fragen auf der Strecke:
Was ist denn Reflexion?
Ist sie nur auf Dich selbst bezogen oder auch auf andere?
Geht’s um Selbstfindung oder doch eher Dein Verhalten zu anderen Menschen?
Und wie läuft das mit der Selbsterkenntnis eigentlich?
Gibt´s auch übergeordnete Erkenntnisse?
Sich regelmäßig zu reflektieren, bringt Dir wenig, wenn Dir nicht bewusst ist, was Reflektieren heißt und wie es funktioniert.
Ich möchte Dir in diesem Text ein vertieftes Beispiel der Reflexion bieten. Keine einfachen und schnellen Antworten, sondern Denkanstöße, die über den allgemeinen Trend zur Selbstoptimierung hinausgehen.
Reflexion philosophisch gedacht
Denkarten und Denkakte gibt es viele. Doch was genau macht jetzt die Reflexion aus? Reflektieren über sich selbst oder etwas ist nicht einfach nur Nachdenken. Es ist ein Denken auf Meta-Ebene.
Der berühmte Soziologe Niklas Luhmann (1927-1998) würde von „Gedanken beobachten Gedanken“ sprechen.
Deine Gedanken analysieren also sich selbst und finden so neue Zusammenhänge, Lösungen etc.
Reflektieren ist kein frei flottierendes Denken, sondern seine Unterbrechung. Zum Beispiel, um eine Ansicht, ein Objekt, ein Verhalten oder Situation zu verstehen und Deinen eigenen Denkvorgang zu prüfen.
Das ist wichtig, denn Reflexion unterscheidet sich dadurch von anderen Denkarten, die in Muße ausgelebt werden – die sind natürlich auch wichtig.
Doch das Reflektieren ist ein bewusster Akt, eine Art von Selbstermächtigung über Automatismen & festgefahrenen Glaubenssätzen, die Deinen Alltag bestimmen.
Das bedeutet: erst durch Reflexion erschaffst Du Dir die Möglichkeit, ein individuelles Leben zu führen, Dich von Vorurteilen zu befreien und selbstbestimmt denken zu können.
4 Beispiele für Reflexion
Einfache bis komplexe Formen zu reflektieren
Tony Kühn, Chefredakteur von Philognosie.net (philo = Liebe, Gnosis = Erkenntnis, Wissen) ist mit dieser Beschreibung allerdings nicht zufrieden.
Ihn interessierte vor allem die Frage, warum Menschen so unterschiedliche Reflexionsfähigkeiten haben.
Dabei entwickelte er das Modell der 4 Stufen der Reflexion, die sich qualitativ unterscheiden und aufeinander aufbauen. So hat jede Stufe ihre Funktion in einer bestimmten Situation.
1. Reflexionsstufe: äußere Ereignisse hinterfragen
Deine Aufmerksamkeit ist auf Dein Dasein in der Außenwelt gerichtet. Es geht darum, die Welt, in der Du lebst, mitsamt ihren Regeln und Gesetzmäßigkeiten zu begreifen. Typische Fragen sind hier:
Welchen Beruf will ich erlernen?
Wie gestalte ich soziale Beziehungen?
Wie möchte ich wohnen?
Wie funktioniert….?
Alles wichtige Fragen, doch noch keine selbstbestimmter Natur. Schließlich reflektierst Du hier über äußere Kriterien, die oft von Freunden, Eltern oder anderen Bezugspersonen beeinflusst sind.
2. Reflexionsstufe: abstrakte Normen & Konzepte prüfen
Auf dieser Stufe der Reflexion abstrahierst Du von Konkretem. Das bedeutet, Dir wird bewusst, dass Dinge wie Schönheit, Religion, Moral oder Wahrheit nicht als absolute Konzepte existieren, sondern von Kultur, Gesellschaft und Politik geschaffen wurden.
Du erkennst quasi, dass sich innere Werte des Menschen nicht auf Fakten gründen, sondern auf bestimmte, normative Denkarten und Belege.
Unterschiedliche Wahrheitsbegriffe, Realitäten und Vorstellungen rücken nun ins Bewusstsein.
Typische Fragen wären:
Sind die moralischen Vorstellungen meiner Eltern richtig?
Kann ich es verantworten, dass Afrikaner ausgegrenzt werden?
Wie stehe ich selbst zu gesellschaftlichen Normen?
Will ich diese oder jene Traditionen vertreten?
Kühn nennt als berühmte Vertreter dieser 2. Reflexionsstufe die großen Erfinder, einflussreiche Philosophen und Reformer vergangener Zeiten. Sie allesamt stellten grundlegende Normen in Frage und brachten neue Antworten hervor.
3. Reflexionsstufe: eigene Gedanken beobachten
Jetzt erst ist die Stufe erreicht, die Du und viele andere unter Reflexion verstehen: Sich selbst beobachten und reflektieren. Du erhebst Dich auf eine Meta-Ebene als Beobachter über Dich als Beobachter. Dich interessiert also nicht, dass Du beobachtest, sondern wie Du beobachtest.
In den Worten Heideggers gesprochen: „das Dasein als ein Sein, dem es in seinen Sein um sein Sein geht.“
Typische Fragen auf dieser Stufe sind:
Wer bin ich selbst?
Welche Gewohnheiten beherrschen mein Denken und Verhalten?
Welchen Einfluss haben Gefühle und Automatismen auf mich?
Was Du nun gedanklich vollziehst, ist, Deine individuellen Möglichkeiten zur Selbst-Bildung und Selbstgestaltung wahrzunehmen. Nur so erhältst Du nämlich die Gelegenheit, Dein Verhalten und Denken zu verändern.
Das besondere an dieser Art der Reflexion, die so viele Menschen anstreben, ist das Potential zur Selbstermächtigung. Du richtest Dein Denken & Handeln neu aus, programmierst Dich neu, erhebst Dich über Automatismen.
Dafür braucht es jedoch Regelmäßigkeit. Andererseits ist diese 3. Reflexionsstufe mit viel Selbstkritik und Selbstzweifeln verbunden. Schließlich ist Dir bewusst, dass Du eine subjektiven, individuellen Sichtweise folgst.
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4. Reflexionsstufe: das Ganze im Fokus
Wer sich auf die höchste Reflexionsebene begibt, tritt aus sich selbst heraus und richtet seine Aufmerksamkeit auf das große Ganze des Lebens. Du beschäftigst Dich nun nicht mehr mit einzelnen Fragen zu bestimmten Situationen, sondern mit kompletten Kategorien.
So wird ein Einzelaspekt wie „Wie verhalte ich mich gegenüber Fremden richtig?“ zu einer allumfassenden Frage nach der Moral oder Ethik: „Wie sollte sich ein Mensch zu anderen Menschen verhalten?“
Auf dieser Reflexionsstufe bewegte sich Immanuel Kant mit seinem kategorischen Imperativ, Niklas Luhmann mit seiner letztbegründeten Ethik, John Stuart Mill mit seiner Frage nach praktischer Freiheit in gesellschaftlichem Kontext usw.
Was ist der Unterschied zur 2. Reflexionsstufe?
Dass Du nicht von den Normen der Außenwelt (Gesellschaft, soziales Gefüge, Kultur) ausgehst, sondern von Deinen eigenen Denkprozessen.
Kühn bemerkt hier ganz richtig, dass hier das Problem der letzten Instanz entsteht. Deswegen berief sich Kant auf Gott, um sein Konzept zu untermauern. Die moderne Version dieser Letztbegründung, auf der das gesamte Selbstkonzept ruht, ist der „Sinn des Lebens“, dem alles untersteht.
Philosophische Reflexion – Zweck oder zweckfrei?
Jetzt kennst Du die verschiedenen Reflexionsstufen und ihre Merkmale. Nicht, um mit dem Finger auf andere zu zeigen und anzukreiden, dass sie „nur“ die 1. und 2. Stufe erreichen, sondern um Dich selbst und die Menschen besser zu verstehen.
Titel wie „Reflexion: 30 Fragen zum wahren Ich“ sind absolut daneben und vermitteln falsche Ansprüche.
Dein Selbst ist nicht einfach da, es bildet und schafft sich während Deiner Reflexionen fortwährend. Es gibt nicht die eine Wahrheit Deines Selbst, es gibt je nach Kontext verschiedene mögliche Wahrheiten und Wirklichkeiten.
vgl auch: Wer bin ich? – Das Selbst in der Philosophie
Reflexion ist eine bewusste Form der Selbstwahrnehmung, kein Intelligenz-Booster, Glücks-Garant (Vgl. Zufriedenheit & Glück in der Philosophie) oder Selbstfinde-Kompass. Es geht auch nicht um Erfolg, wie so manche Autoren behaupten. Eine Reflexion bleibt nicht beim Einzelnen stehen (10). Das wäre ziemlich egozentrisch und hat wenig Reflexives an sich.
Aber worum dreht sich Reflexion dann?
Natürlich um Dein Selbst und Dein Ich im engeren Sinne. Doch genauso um die Existenz und das Sein, das über Dich als Individuum hinausgeht.
Karl Jaspers formulierte es so: „existentielle Reflexion (...) ein mir nirgends sich schließendes Medium“. Du suchst Dich zwar darin, siehst Dich aber einem Vorgang gegenüber, der nicht endet. „Existenz kann erst in der steten Gefahr der Endlosigkeit ihrer Reflexion (...) die grenzenlose Offenheit wagt, zu sich kommen.“(6)
In die gleiche Bresche haut Hegel, bei dem Reflektieren keine bloße subjektive Tätigkeit mehr ist, sondern ein sich in sich selbst Reflektieren des Seins.
Fazit: Reflexion (Philosophie)
Der Begriff Reflexion wird heute in einer sehr engen Bedeutung gebraucht, die mehr mit Selbstkritik, Selbsterkenntnis und Ich-Bewusstsein zu tun hat, die allesamt der Selbstoptimierung dienen
Im philosophischen Gebrauch ist Reflexion nicht auf den einzelnen Menschen beschränkt, sondern dreht sich um den Menschen im Allgemeinen.
Diese Definition ist für die Selbstreflexion sehr wichtig, da sich sonst mit philosophischen Reflexionen nur egozentrierte Erkenntnisse gewinnen ließen.
Jede Reflexion ist relativ und subjektiv, doch je weniger sie die Selbstbezogenheit einnimmt, desto mehr Bezüge und Möglichkeiten zeigt sie Dir auf.
Quellen:
1) Tony Kühn: Selbsterkenntnis Reflektieren: Die 4 Stufen der Reflexion
2) Paul Herbig: Interview: Community-Building am Beispiel von Philognosie
3) Martin Heidegger: Sein und Zeit
4) Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie
5) Jochen Mai: Reflexion: 60 Fragen + 5 Übungen zum wahren Ich
6) Karl Jaspers: Philosophie II
7) DeSelfie: Was ist Selbstreflexion?
8) Wikipedia: Reflexion (Philosophie)
9) Katrin Grüneputt: Reflexion (Historisches Wörterbuch der Philosophie online)
10) Gudrun Gutdeutsch: Die Philosophische Reflexion
11) Metzler Lexikon der Philosophie: Reflexion
Depressionen ziehen schwere Folgen nach sich und bilden massive Beeinträchtigungen in allen Lebensaspekten der Betroffenen und Mit-Betroffenen. Nicht nur für Einzelne sind sie eine Gefahr: Bereits seit den 1990er-Jahren gelten Depressionen als eine der psychischen Erkrankungen, welche die Gesellschaft am stärksten belasten.