UND ISCHA KNURRTE – Jürgen
Eine Collage von SINN, Feld und Gestalt mit drei Erzählungen
Den 2. Artikel dieser Reihe findest Du hier:
Dieser Artikel ist die 2023 überarbeitete Fassung einer früheren Veröffentlichung, vgl.: Gestalttherapie 1, 2006, S. 98 –118 (Teil1); Gestalttherapie 2, 2006, S. 63 – 73 (Teil 2).
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Ischa ist tot.
Ischa ist mein Gestalttrainer. – Bei diesem Satz fangen allerdings die Zweifel schon an: Was heißt hier „mein“? „Mein“ würde doch heißen, dass er irgendwie zu mir gehört, oder? Dass ich ihn assimiliert habe. Hab‘ ich aber nicht.
Statt wie ein guter toter Lehrer in mir drin zu sein und brauchbare Lebensweisheiten zu generieren, sitzt er mir im Nacken: „Du vermeidest Kontakt!“, sagt er mir ins Ohr.
Und dann schmecke ich wieder das eklige, hoch konzentrierte Salzwasser, das er mir verabreicht, um zu verhindern, dass ich den Kontakt zu meiner Übelkeit unterbreche. Im nächsten Augenblick springt er plötzlich um mich herum wie Rumpelstilzchen. Zu den anderen gewandt, stichelt er: „He is so grandiose and narcissistic, is’nt he?“
Alle lachen. Ischa hat Recht.
Ich lache nicht.
Ischa lebt.
Ischa mag mich nicht. Nein, das ist falsch – er mag mich nicht, und er mag mich nicht nicht. Ich bin ihm egal.
Er schaut von seinem Olymp auf mich herab, beziehungslos. Ich möchte, dass er mir egal ist. Aber es ist etwas passiert: Seine leere Beziehungsweise beziehungsweise seine beziehungslose Lehrerweise ist in mir zu einem Motor geworden, einem Antrieb: Ein ganzes Buch habe ich seinetwegen geschrieben, ein Buch, welches Ischa schrecklich fände: „egotistic!“.
Aber Ischa ist nicht einfach nur mein Antichrist.
Vielmehr hat er einen SINN für mich bekommen. Er ist Teil eines roten Fadens geworden, der die Geschichte meines Denkens, meiner Handlungen und meiner Werthaltungen durchzieht, Teil eines Leitfadens, der meine Jugenderinnerungen, mein Berufsleben, mein gegenwärtiges Dasein und meine Zukunftsprojektionen miteinander verbindet.
Und mittlerweile habe ich gelernt, ihn beim Namen zu nennen: „Rumpelstilzchen!“, rufe ich ihn, wenn er mich wieder mal ärgert, „du heißt Rumpelstilzchen!“ Und sofort sehe ich, wie Luft aus ihm entweicht und wie er eine Zeit lang ganz klein und regungslos dasitzt wie ein Gott, an den niemand mehr glaubt.
Vorübergehend.
Nun soll ich einen Artikel über SINN in der Gestalttherapie schreiben.
Jeden Tag habe ich in meiner gestalt- (Ischa knurrt) therapeutischen Arbeit mit SINN-Themen zu tun: SINN-Frage, SINN-Suche, SINN-Findung, SINN-Gebung. SINN-Leere!
Überall ist SINN, vorhandener oder – mehr noch – verlorener. Außerdem habe ich mein dickes Handbuch (Fuhr et al. 1999), wo ich gleich nachschlage: SINN – SINN – Sinn – sinn – Fehlanzeige! Genauso geht es mir mit den Werken der Gestalttheoretiker – einschließlich Kurt Lewin – und mit den Zeitschriften Gestalt Theory und Gestalttherapie.
Nichts – außer einem Artikel von Goodman (1993) und einem von Petzold (2002). Nach der Lektüre von Goodmans Beitrag bin ich desorientiert: Goodman schreibt nicht über den SINN des Lebens; er scheint Angst davor zu haben.
Vielmehr denkt er nach „Über die Frage: was ist der Sinn des Lebens?“. Er pirscht sich vorsichtig an: SINN scheint etwas mit Unglück und mit Leere zu tun zu haben …
Allseits orientiert hingegen bin ich, nachdem ich Petzolds Arbeit gelesen habe: Darin steht ALLES, was ich je über SINN wissen wollte und mich nie zu fragen getraut hab‘!
Ich mache eine Woche Pause.
Und Sie, liebe Leserin, vielleicht nutzen Sie die Gelegenheit, sich kurz die Beine zu vertreten, sich etwas zu trinken zu holen ...?
SINN ist so ein großes, schwer zu fassendes Thema.
SINN ist ziemlich ernst, finden Sie nicht?
So feierlich, dass es schon drückend wird. Immer mehr kommt mir UnSINN in den SINN, Lust auf Albernheiten. Ischa, der vor etwa 10 Minuten vor Langeweile eingeschlafen ist, blinzelt verschmitzt.
Nebenbei bemerkt: Diese Darstellung ist sehr männerlastig: Ischa ist ein Mann, ich bin’s auch, die Hauptpersonen, über die ich schreibe, ebenfalls. Ich rede deshalb Sie, liebe Leserinnen, und Sie, liebe nicht-weibliche Leserinnen, als Leserinnen an, um meinen hohlen, unverhohlenen männlichen Chauvinismus doch ein bisschen zu verhüllen. Die letztgenannten Leserinnen mögen es mir verzeihen.
Also mal wieder im Ernst:
Ist es nicht komisch, dass der Gestalttherapie und -theorie jeglicher SINN abgeht?
Woran mag das liegen? Als treuer Gestaltler (Ischa schnauft verächtlich) ersticke ich jeden Zweifel sogleich im Keim: SINN ist in allen Gestaltkonstrukten originär enthalten, in „Prägnanz“, „Figur/ Grund“, in „Ganzheit“, „Kon- takt“, in Organismus/ Umwelt-Feld“, in „schöpferischer Freiheit“, „Erregung“, „natürlicher Ordnung“, „Awareness“, „Tendenz zur guten Gestalt“, in „Lebensraum“, in „Gefordertheit“ ...
In diesem Augenblick erhebt Ischa seinen Kopf um diese winzig kleine, triumphierende Nuance, und sofort keimt erneut Zweifel in mir auf: Hat „die Gestalt“ mit der Bevorzugung der Prägnanz, der momentanen Figur, des Hier-und-Jetzt, der Erregung und des stets neuen Kontakts etwa ihr „Andererseits“ verloren: die
Konfluenz, den Grund, die Zeitperspektive, die Ruhe, die verlässliche Beziehung und mit all dem womöglich ihren SINN?
Ischa ist genial
Er hat mich mit Nachdruck und dem Gespür eines Jagdhundes zu einem Ort in mir geführt, an dem ein schmerzhaftes Erlebnis verborgen liegt.
Ich habe etwas Schreckliches getan.
Begnadet und gnadenlos hat Ischa aufgespürt, wie sehr dieses Geheimnis auf mir lastet und sich in meiner Haltung, meinen Bewegungen und besonders in meiner Atmung eingenistet hat.
Gerade habe ich es gebeichtet, zum ersten Mal in meinem Leben. Ischa ist vollständig anwesend, er füllt den ganzen Raum – und nun, ja, nun verzeiht er mir, stellvertretend.
Es wird warm in mir, wogend, Dankbarkeit, Helligkeit, Wärme strömen zu ihm. Einen kleinen Moment lang hält er meinem überfließenden Blick stand, verbindet, verbündet sich mir;
etwas Gemeinsames, Überdauerndes will gerade geboren werden, vielleicht mag er mich doch? – Gerade jetzt aber senkt er den Blick, er unterbindet, schließt mich aus. Er sieht schön aus, in sich ruhend, wie Buddha, denke ich. Fremd.
„Hier-und-Jetzt beendet“, drückt er aus, „Kontaktfigur abgeschlossen“. Was mir dieses Erlebnis bedeutet, fragen Sie, liebe Leserin?
Es war eine Erkenntnis, es war intensiv, neu, erregend, lebendig.
Und es war SINN-los.
Immer noch stehe ich ratlos vor der Frage nach dem SINN.
Was kann ich tun?
Ich frage andere: „Was ist der SINN deines Lebens? Wofür lebst du?“
SINN scheint schwer zu fassen zu sein; denn oft beginnen die Antworten auf diese Fragen so oder ähnlich:
„Also, ich weiß auch nicht – na ja – kann ich eigentlich gar nicht so genau sagen …“ Offenbar ist SINN auch nichts, was dem Bewusstsein ständig verfügbar ist: „Die Frage ist ja wie ein Überfall – morgens um 10 – man macht sich wenig Gedanken darüber.“ (Claudia, 40 Jahre).
Dann werden meist Zugehörigkeiten angegeben wie:
„Familie, meine Kinder ... für die Gemeinschaft da zu sein ...“ (Jens, 54 Jahre).
Diese Zugehörigkeit kann konkret benannt werden („Kinder“) oder allgemein soziale Beziehungen meinen:„... mit anderen mitzuleben – da ist SINN drin.“ (Susanne, 38 Jahre).
Zugehörigkeit kann auch mit der Natur, mit der Welt oder mit etwas Allumfassendem angestrebt sein: „Wenn ich dann oben angekommen bin und mich umschaue – die Weite, die unendliche mächtige Weite! Und ich ein ganz winziges Etwas mittendrin.“ (Reiner, 49 Jahre).
SINN-Erfahrung als Eingebettetsein umfasst dabei meist nicht nur die aktuelle Lebenssituation, sondern auch Erinnerungen „... als ich mit meinem 3-jährigen Sohn auf der Wiese lag und da fühlte ich so eine Einheit mit mir, mit der Welt, mit meinem Kind. Ich hatte das Gefühl: Deshalb bist du da.” (Jens, 54 Jahre).
... und Vorstellungen über die Zukunft: „Ich will zwei Kinder, eine Frau und´n guten Beruf, dass ich genug Geld verdienen kann.“ (Malte, 9 Jahre).
Manchmal besteht SINN auch in Abgrenzungen:
„Ich will Drillinge, Mädchen, und dann höchstens einen Jungen. Der muss aber mindestens 6 Jahre jünger sein. Und keinen Mann.“ (Svenja, 11 Jahre).
Oder der SINN eines Nicht- ..., wie bei vielen trockenen Selbsthilfegruppen-Alkoholikern: „... dass man Urlaub ohne Alkohol machen kann, Feiern ohne Alkohol ...“ (anonym).
Einige antworten auf SINN-Fragen sehr konkret:
„Wenn ich nur erstmal eine eigene Wohnung habe und einen Fernseher und auf jeden Fall `nen schwarzen Golf GTI!“ (Jürgen, 26 Jahre).
Oder: „(Husten) Ja – (Pause) – für die Arbeit (lacht). Das finde ich jetzt aber unangenehm. Das fiel mir spontan ein ...“ (Andreas, 45 Jahre).
Was immer wieder auftaucht, ist
SINN als Aufgabe, als ein Streben nach etwas,
z. B.: „Irgendwo haben wir auch´n paar Aufgaben zu lösen. Glück anstreben, da erklimmen wir eine Stufe nach der anderen ...“ (Elke, 50 Jahre).
Manche versuchen auch, allgemeingültige Werte als Inhalt oder Kriterium von SINN zu benennen: „Etwa die Orientierung am Prinzip universeller Fairness und der Sorge für andere ebenso wie für sich selbst; oder am Prinzip der Verständigung ...“ (Fuhr 2002, S. 137).
Und schließlich wird SINN natürlich auch als Mangel erfahren: „Hab´ich momentan keinen. Früher? Ja, aber schwer zu sagen, schon lange her. – Eine gute Partnerschaft führen mit einer Frau, aber das hab´ ich nie erreicht.“ (Thomas, 44 Jahre).
Es gibt vielfältige Antworten und Antwortversuche.
Goodman diskutiert u.a. folgende Antwortmöglichkeiten:
SINN als sich selbst ganz selbstverständlich rechtfertigende Handlung wie die Liebe;
als Summe des Vergnügens;
ls Streben nach dem, was man nicht besitzt;
als aufgehobene Selbstblockade;
als ein Sich-auf-das-Leben-Einlassen;
als Wiedererlangen von Gesundheit;
als Verschwendung.
Oder aber, überlegt Goodman, ich selbst könnte der Sinn des Lebens sein, der Tod könnte es sein: „Während ich ‚TOD‘ mit Großbuchstaben höre, verstehe ich ‚Leben‘ mit kleinen Buchstaben.“ (1993, S. 20). Die Antworten sind vielfältig und widersprüchlich. Und ähnlich.
Gestaltansatz & Feldtheorie Lewins
Nun möchte ich Sie, liebe Leserin, einladen, sich mit mir auf eine erste Suche zu begeben, die uns in das Terrain des Gestaltansatzes und der Feldtheorie Kurt Lewins führen soll.
Wo im Lewin’schen Lebensraum und wo in „der Gestalt“ taucht SINN auf?
Wo ist SINN festzumachen, zu verankern?
Wo und wie können wir SINN theoretisch und handelnd verorten?
In welchen Konstrukten könnte er mitenthalten sein?
Wenn ich als Gestalttherapeut an SINN denke, fallen mir besonders Jürgen und Jochen ein.
Beide waren, zu verschiedenen Zeiten an unterschiedlichen Orten, meine Klienten. Beide sind mir gegenwärtig. Keine der beiden Therapien verlief so, wie ein guter Gestaltprozess verlaufen sollte. Von beiden will ich im Folgenden erzählen.
Gerade weil diese Therapiegeschichten nicht ideal verliefen, eignen sie sich, um Fragen an Feld- und Gestalttheorie zu stellen, ja schließlich, um diese in Frage zu stellen (... und besonders dich, Michael, fügt Ischa knurrend hinzu).
Sie ziehen die Versuchung in Zweifel, vorschnelle Antworten auf die SINN-Frage zu liefern – etwa „die Gestalt“ oder „die Interdependenz“ als das SINN-Kriterium schlechthin zu benennen – und damit Wertideale zu schmieden, die sich unseren Klientinnen nur drückend auf Brust und Nacken und schließlich gar würgend um den Hals legten.
Die Geschichte von Jürgen, die ich als erste erzähle, stelle ich in den Zusammenhang mit Lewins Feldtheorie. Jürgens Therapieverlauf soll der kritischen Veranschaulichung einer SINN-Konzeption auf feldtheoretischer Grundlage dienen. Die wichtigsten feldtheoretischen Konzepte werden zuvor skizziert.
Die zweite Schilderung – im nachfolgenden Artikel – handelt von Jochens Therapieprozess; sie soll die gestaltbezogene SINN-Diskussion korrigierend beleuchten.
Es werden die Gefahren von Idealisierungen – und damit Bildungen von Wertehierarchien – aufgezeigt, die auf grundlegende, unaufgedeckte Widersprüche in der gestalttheoretischen und gestalttherapeutischen Theorienbildung zurückgehen.
Als – meines Erachtens besser mit der Gestaltphilosophie im Einklang stehende – Alternative zu normierenden SINN-Konzepten soll dann am Schluss das Prinzip einer SINN-Matrix entworfen werden, die der Klientin keine SINN-Normen in den Weg stellt, an denen sie letztlich scheitern muss; vielmehr generiert eine solche Matrix ein Instrumentarium, welches zur Auslegung von SINN-Mitteilungen sowie zur Anleitung einer SINN-Suche Hilfe bietet.
Jürgen
Jürgen ist 26 Jahre alt. Er ist misstrauisch. Er neigt zu Aggressionsausbrüchen. Er ist polytoxikoman; das heißt, vor seiner Aufnahme in die Sozialtherapeutische Wohngemeinschaft (STWG) hat er so ziemlich alles geschluckt, was er kriegen konnte, Schlaf- und Beruhigungsmittel in Abwechslung mit Amphetaminen, bevorzugt jedoch Alkohol.
Gefixt hat er bisher nicht. Er ist kriminell geworden, hat Brüche, Diebstähle, Körperverletzungen begangen. Vor seiner Aufnahme in unsere Einrichtung hat er im Gefängnis gesessen.
Wie die meisten anderen auch hat er gemäß dem rechtlichen Grundsatz „Therapie statt Strafe“ das kleinere Übel, die Therapie, gewählt.
Insgesamt lebt Jürgen fast ein Jahr lang in der STWG. Seine Lebensgeschichte ist schnell erzählt: Einzelkind, Eltern lassen sich früh scheiden. Jürgen lebt zunächst bei seiner Mutter, sein Vater verschwindet gänzlich aus seinem Leben.
Die Mutter ist oft betrunken. Liebhaber ziehen ein und wieder aus, dann wieder ein. Fast alle ergreifen Jürgen gegenüber wie selbstverständlich die Vater(herr)schaft, pendelnd zwischen Züchtigung und falscher Kumpanei.
Sie nehmen ihn mit auf Sauftouren, die oft mit Prügeleien enden. Schon vor dem Ende seines 12. Lebensjahres konsumiert er regelmäßig Alkohol, kurz danach ist er erstmalig betrunken.
Als er mit ca. 14 Jahren in ein Heim kommt, verliert er dann jeden Halt: Drogen und Tabletten kommen hinzu, gelegentlich auch Lösungsmittel.
Bandenmitglied, Beschaffungskriminalität. Kaum ein Tag vergeht, an dem er nicht irgendwie betäubt ist. Polizei, Gefängnis, Entlassung und wieder alles von vorn.
Mädchen, Frauen benutzt er, wie er auch von diesen benutzt wird. Freundschaften halten immer gerade so lange wie der Vorrat an Stoff.
Als Jürgen in die STWG einzieht, hat er nichts, kein Geld, keine Freunde, Mutter irgendwo. Mit wenigen Blicken taxiert er die „Teamer“, checkt er die anderen „Bewohner“. Schnell ist er orientiert, weiß er, wer was zu sagen hat, an wen er sich halten muss, wen er meiden sollte.
Der SINN seines Lebens zeigt sich sehr unmittelbar und gegenwärtig. Der SINN seines Lebens besteht nicht aus „für meine Kinder da sein“, „Glück“, „Wachstum“ oder „Gott“, sondern er ist materiell und instrumental und existiert ausschließlich im „Hier und Jetzt“. (Ischa blitzt mich mit leicht hoch gezogenen Augenbrauen an. „Ja, schon gut ...“, gebe ich zurück.)
Feld und Lebensraum
Für Kurt Lewin erklärt sich alles Verhalten aus dem psychologischen Lebensraum. Der Lebensraum ist der „[...] Gesamtbereich dessen [...] was das Verhalten eines Individuums in einem gegebenen Zeitmoment bestimmt.“ (Lewin 1969, S. 34).
Der psychologische Lebensraum besitzt somit die Eigenschaften eines Feldes, welches Einstein wie folgt definiert: “Eine Gesamtheit gleichzeitig bestehender Tatsachen, die als gegenseitig voneinander abhängig begriffen werden, nennt man ein Feld.“ (nach Lewin 1963, S. 273).
In dieser Definition sind die beiden Grundsätze der Feldtheorie enthalten, nämlich
(a) dass „[...] das Verhalten [...] aus einer Gesamtheit der zugleich gegebenen Tatsachen abgeleitet werden […]“ ‚muss
und (b) dass „[...] diese zugleich gegebenen Tatsachen [...] insofern als ein ‚dynamisches Feld‘ aufzufassen [sind], als der Zustand jedes Teils dieses Feldes von jedem anderen Teil abhängt.“ (Lewin 1963, S. 69).
Der psychologische Lebensraum besteht aus den Bereichen „Person“ und „Umwelt“, die in wechselseitiger Abhängigkeit das Verhalten der Person hervorbringen.
Lewin drückt dies formal so aus: Das Verhalten V ist eine Funktion F von Person P und Umwelt U: V = F(P,U). Das gelte, so Lewin weiter, für zielgerichtete Tätigkeit genauso wie für affektive Erregung, Träumen, Denken, Erzählen, Wünschen (Lewin 1963, S. 271).
Der psychologische Lebensraum ist als der „Inbegriff möglichen Verhaltens“ zu verstehen (Lewin 1969, S. 36).
Lewin definiert, dass nur psychologische Sachverhalte für das Verhalten bedeutsam sein können, also nicht etwa die physiologische Person oder die physikalische Umwelt;
denn ein und dieselbe physikalische Gegebenheit, beispielsweise einen Baum, erlebt ein Spaziergänger vielleicht als Ruheplatz oder Schattenspender, während der Soldat in diesem eine Deckung oder möglichen Hinterhalt sehen mag (vgl. Lewin 1982, S. 315 ff.; Portele 1990, S. 17).
Mit „psychologisch“ meint Lewin jedoch mehr als das unmittelbar Erlebte. Schließlich könne auch die gerade nicht sichtbare Rückwand des Zimmers oder die abwesende Mutter eine psychologisch relevante Tatsache sein (vgl. Lewin 1969, S. 40). Deshalb zählt Lewin zu den psychologischen Tatbeständen alles, „was wirkt“ (ibd., S. 41).
Wie in jeder objektiven Wissenschaft müsse man von der Erscheinungsweise der Gegenstände, deren phänomenalen Eigenschaften also, zu den tiefer liegenden konditional-genetischen Wirkungszusammenhängen fortschreiten.
Beides, phänomenal Erscheinendes wie konditional-genetische Eigenschaften sind „[...] Eigenheiten ein und desselben psychologischen Geschehens.“ (Lewin 1969, S. 42). Damit verbleibt Lewin innerhalb eines Wissenschaftsgebietes, nämlich der Psychologie, und vermeidet die Schwierigkeiten der Gestalttheorie, die in seiner Sicht „[...] alle Erklärung in der Psychologie letzten Endes auf Physik zurückführen [...]“ müsse (ibd.).
Allerdings konstatiert Lewin, dass auch nicht-psychologische Faktoren das Verhalten beeinflussen. Ein Steinwurf etwa wäre eine „grob somatische Einwirkung“ (1969, S. 48), die zu Bewusstlosigkeit führe, ohne im psychologischen Lebensraum repräsentiert zu sein.
Das Verhältnis zwischen psychologischen und nicht-psychologischen Ereignissen oder – allgemeiner – zwischen (phänomenaler) Wirklichkeit und (transphänomenaler) Realität schließt Lewin mittels seiner letztlich zirkulären Definition „psychologische Fakten = was wirkt“ als Gegenstand seiner Psychologie aus.
Das Konzept des Lebensraums ist für Lewin keine bloße Veranschaulichung; vielmehr wählt er eine mathematische Methode, die Topologie, als räumliche Darstellung psychischer Tatsachen. Die Grundtatsache ist dabei die einer Person P in einer Umgebung U. Das topologische Grundtheorem lautet, dass für zwei Gebilde eines Systems, A und B, die Beziehung gilt oder nicht gilt: A ist Teil von B. Im topologischen Raum sind keine Entfernungen und Größen definiert. Einzelne Bereiche eines Systems können einander berühren oder – durch zwischen ihnen liegende Bereiche – voneinander getrennt sein (vgl. Lewin 1969, S. 72).
Eine wichtige Rolle bei der Konstituierung psychologischer Räume spielen binäre Relationen, also beispielsweise Verbindungen zwischen zwei Punkten, die man als Weg charakterisieren kann (ibd., S. 73). Auf solchen Wegen können Lokomotionen, Bewegungen im psychologischen Lebensraum, stattfinden. Z. B. bewegt sich die Person selbst auf einen Zielbereich zu, oder sie flüchtet vor einem negativ besetzten Gebiet, einer anderen Person oder einer unangenehmen Aufgabe etwa.
Die Bewegung kann direkt oder auf einem Umweg erfolgen. Letzteres wird am ehesten dann geschehen, wenn eine Barriere, ein unüberwindlicher Bereich zwischen Person und Zielgebiet, auftaucht. Lokomotionen können echte körperliche Bewegungen sein oder auch ein zeitliches Näherkommen einer angestrebten Region (Urlaub). Auch das Durchlaufen verschiedener Etappen (Schulzeit – Abitur – Studium) auf dem Weg zum Ziel (Psychotherapeut) bezeichnet Lewin als Lokomotion. Lokomotionen sowie andere Veränderungen des Lebensraumes setzen das Wirken von Kräften voraus.
Es können anziehende oder abstoßende Kräfte zwischen einzelnen Bereichen (z. B. Person und Ziel) sein oder auch Spannungszustände des gesamten Feldes. Diese Kräfte können in der Person liegen (z. B. Bedürfnisse); sie können sich aber auch in dem Aufforderungscharakter manifestieren, der von einem positiv besetzten Bereich (positive Valenz) ausgeht oder von einem negativ besetzten Bereich (negative Valenz; vgl. Lewin 1969, S. 113 f.).
Stärke, Ansatzpunkt und Richtung einer solchen Kraft stellt Lewin mittels eines Vektors dar (womit er die rein topologische Methode allerdings überschreitet). Eine auftretende Kraft kann eine Lokomotion hervorrufen; diese kann aber auch, z. B. durch Barrieren oder durch entgegengesetzt wirkende Kräfte, behindert werden (Lewin 1931, S. 452 ff.).
Wenn Lewin in Beispielen davon spricht, dass etwas Zukünftiges, bspw. der angestrebte Arztberuf, oder etwas Vergangenes, etwa eine erlebte Frustration, gegenwärtiges Verhalten beeinflussen kann, meint er damit nicht eine historische (causa efficiens) oder teleologische (causa finalis) Verursachung; vielmehr gehören diese Einflussgrößen zur gegenwärtigen Zeitperspektive. Lewin definiert: „Die Gesamtheit der Ansichten eines Individuums über seine psychologische Zukunft und seine psychologische Vergangenheit, die zu einer gegebenen Zeit existieren, können ‚Zeitperspektive‘ genannt werden [...].“ (Lewin 1963, S. 116 f.).
Dazu gehören Wünsche, Hoffnungen, Befürchtungen, Pläne usw. hinsichtlich der psychologischen Zukunft und Erinnerungen, Schuldgefühle oder Erzählmuster der eigenen Geschichte bezüglich der psychologischen Vergangenheit. Nach der Feldtheorie hängt jede Art von Verhalten vom gesamten aktuellen Feld einschließlich der Zeitperspektive ab.
Zu ergänzen ist noch, dass sowohl die Person als auch die Umwelt unterschiedlich stark ausdifferenziert sein können. In der Regel nimmt der Grad der Differenzierung im Laufe der Sozialisation zu. In der Sprache der Topologie heißt das, dass sich ein ursprünglich homogener Bereich in mehrere Teilbereiche aufgliedert. Grenzen zwischen diesen Bereichen können leichter, schwerer oder gar nicht überwindbar sein; im letzteren Fall spricht man von Barrieren (vgl. Lewin 1969, S. 138 f.). Grenzen können aber auch Kommunikation bewirken (ibd., S. 141). Ferner kann ein Feld bzw. können Teilgebiete von diesem unterschiedlich flüssig, elastisch oder plastisch sein (ibd., S. 171 f.).
Schließlich unterscheidet Lewin die Realitäts- von der Irrealitätsebene des psychologischen Lebensraumes.
„Verschiedene Grade der Irrealität“, schreibt Lewin, „entsprechen verschiedenen Graden der Phantasie. Sie schließen sowohl die positiven Wünsche wie die Furcht ein. Dynamisch entspricht die Irrealitätsschicht mehr einem fließenden Medium [...] und sie ist enger mit den zentralen Schichten der Persönlichkeit verbunden.“ (1963, S. 278).
Ein Tagtraum besitzt bspw. einen geringeren Realitätsgrad als eine Handlung, eine vage Hoffnung ist irrealer als ein konkreter Plan (vgl. Lewin 1969, S. 202 f.).
Schauen wir uns nun an, wie das Lebensraum-Konstrukt zur Analyse von Jürgens Geschichte beitragen kann:
Jürgens Lebensraum ist recht eingeschränkt.
Mit zwei anderen Klienten bewohnt er ein Zimmer. In den Gemeinschaftsbereichen (Wohnzimmer, Esszimmer, Treppenhaus, Flure, Keller, Garten) kann er sich relativ frei bewegen.
Es bestehen vielfältige, mehr oder weniger starke Grenzen. Das Therapie- haus im Garten ist abgeschlossen, ebenso die Tür zum Teambüro. Diese Grenzen sind noch relativ leicht zu überwinden, nämlich wenn er eine „Legitimation“ hat, ein begründetes Anliegen gegenüber einem Teamer oder Reinigungsdienst im Therapiehaus.
Die meisten und gravierendsten Grenzen in seiner psychologischen Umwelt sind aber nicht physischer Natur, sondern bestehen aus Geboten und Verboten: Er darf tagsüber nicht in sein Zimmer (um keinen Kontakt zu vermeiden); er darf das Gelände nicht verlassen (um nicht in Versuchung zu kommen); er muss an der Therapiegruppe teilnehmen (um – ja, warum eigentlich?); er muss seine Pflichten erfüllen (um Verantwortung zu lernen, um putzen zu lernen, um verantwortungsvolles Putzen zu lernen). Natürlich darf er keine Suchtmittel zu sich nehmen, keine Gewalt androhen oder ausüben.
Das Problem für Jürgen ist, dass er gar nicht weiß, wofür er all diese Ge- und Verbote sowie Regeln erlernen soll. Für Jürgen selbst beinhalten diese keinen SINN. Er weiß nur, dass er bei gravierenden Übertretungen fristlos entlassen wird und wieder „in den Bau einfährt“. Für ihn haben die Bereiche „Alkohol“ (Betäubung), „Gewalt“ (weil er damit Macht erwirbt) oder auch „Umgebung des Geländes“ (checken, was wo möglich ist) eine deutlich positive Valenz. Gleichzeitig haben diese Bereiche durch die angedrohten Konsequenzen eine negative Färbung erhalten. Diese Bereiche sind also ambivalent besetzt, ihre Dynamik besteht in einem Annäherungs-Vermeidungskonflikt. Genau genommen geht
jedoch nicht von den betreffenden Bereichen selbst eine negative Spannung aus, sondern von der Möglichkeit, erwischt zu werden.
Der momentane SINN seines Verhaltens besteht also darin, die verbotenen Bereiche zu betreten (weil er sich in diesen Dingen auskennt) und sich nicht erwischen zu lassen (d.h. in den psychologischen Lebensräumen der Teamer ein braver Klient zu sein).
Die Teilnahme an der Gruppentherapie ergibt für Jürgen keinen inhaltlichen SINN. Vielleicht ist seine Zeitperspektive dafür zu eingeschränkt und zu verschwommen: Er erinnert sich an keine Lebensweise, die anzustreben SINN-voll wäre. Er hat nie weiter als wenige Tage vorausgedacht. Er kann sich nicht vorstellen, dass er ein Leben mit Frau, Kind und Beruf führen könnte. Warum also sollte er sich mit seinen emotionalen Verletzungen auseinandersetzen? Wozu die Prädiktoren seiner Rückfallgefährdung analysieren? Der einzige (formale) SINN des Unternehmens „Therapie“ besteht darin, motiviert und einsichtig zu erscheinen.
Schauen wir uns Jürgens hauswirtschaftliche Tätigkeiten an: Zur Zeit ist er „Küchenhilfe“. Unter anderem muss er spülen und abtrocknen, pro Mahlzeit etwa 25 Teller, Becher, Bestecke. Bei diesen zahlreichen Wiederholungen tritt bald eine Sättigung (vgl. auch nächstes Kapitel) ein: Bloße Wiederholung einer Handlung führt nach Lewin zur Desorganisation und keinesfalls zu besseren Lernergebnissen. „Infolge Sättigung wird das Sinnvolle sinnlos [...]“, schreibt Lewin (1963, S. 116); es komme zu Fehlern, Ermüdung, Ärger und schließlich zu dauernder Abneigung gegen das Verhalten (ibd., S. 120 f.).
Wäre die Handlung „Spülen“ aber in einen übergeordneten Zusammenhang eingebettet (z. B. weil nachher Freunde zu Besuch kommen), würde eine Sättigung nicht so schnell einsetzen; denn nur der Akt selbst wäre dann eine Wiederholung, aber nicht dessen Bedeutung.
Für Jürgen besteht das Spülen hingegen ausschließlich aus dem Akt selbst. Er bedeutet nichts. Er ist reine Wiederholung. Jürgen ermüdet, macht Fehler, lässt Geschirr fallen, ist gereizt, wird aggressiv. Spülen, Wischen, streifenfreies Fensterputzen – wenn auf dem Glas Schlieren zu sehen sind, erfolgt eine Sanktion -, all das enthält für Jürgen keinen SINN, weil er sich in seinen Zukunftsprojektionen nicht als Familienvater sieht. Im Laufe der Zeit verändern sich aber die Valenzen in Jürgens psychologischem Lebensraum.
Dieser differenziert sich stärker; auch die Zeitperspektive wird klarer und ausgedehnter. Es beginnt mit - Uwe: Uwe ist ein neuer Bewohner, ähnliche Geschichte, ähnliche Problematik wie bei Jürgen. Jürgen übernimmt anfangs die Funktion von Uwes „großem Bruder“. Jürgen fühlt erstmals, dass er für jemanden wichtig ist. Uwe eckt fast mit jedem an, rebelliert gegen das Team.
Jürgen vermittelt, wird Ansprechpartner für die Mitarbeiter, eine neue Aufgabe, eine neue Funktion. Er macht das gut, ruhig und sachlich. Uwe lässt sich nicht klein kriegen, jeden Konflikt, jede Konfrontation steht er durch. Was Uwe allerdings nicht durchsteht, ist Folgendes: Er entwickelt freundschaftliche Gefühle für Jürgen und noch jemanden. Positive Gefühle kann er nicht ertragen. Freundschaft, Wärme, Zugehörigkeit, das enthält für Uwe keinen SINN. Uwe bricht die Therapie ab. Jürgen ist vor den Kopf gestoßen, aber er hat erstmals so etwas wie einen SINN darin erfahren, für jemand anderen da zu sein. - Michael: Zwischen Jürgen und mir hat sich etwas geändert. Ich vertraue ihm Aufgaben an, traue ihm etwas zu. Ich schätze seine gerade und ehrliche Art. Jürgen sucht das Gespräch mit mir, stellt Fragen, äußert auch mal kleinere Probleme, will Privates von mir wissen, kritisiert mich und uns auch offen. Dann verliebt er sich in - Sandra, eine Mitbewohnerin. Ich merke, wie zerrissen er ist, schwankend zwischen Benutzen – zur schnellen Befriedigung, zum Anschaffen-Lassen wie früher – und Gefühlen von Liebe, Sich-um-sie-Sorgen, Ihr-Helfen und Sich-bei-ihr-Fallenlassen. Da ist plötzlich, wie bei Uwe, ein Anderer in Jürgens Lebensraum wichtig, jemand, für den er (auch) lebt: SINN!
Pläne entstehen: SINN! Vielleicht sogar in naher Zukunft (SINN!) ein gemeinsames (SINN!) Auto (SINN!) kaufen (SINN!). Aber Jürgen und Sandra haben auch Probleme miteinander, geraten schnell in Streit. Wenn sie Angst vor Nähe haben, beißen sie einander weg. Jürgen spürt den Zusammenhang zwischen früher und Angst vor dem Sich-Einlassen. Er kriegt das aber allein nicht in den Griff. Er braucht Hilfe und kommt zu mir. Plötzlich hat das, was andere Therapie nennen, einen SINN. Und dann gibt es noch den Mitbewohner - Andi: Andi ist mittelgroß, drahtig, intelligent, sprachlich gewandt. Er hat so etwas wie Ausstrahlung.
Er ist der perfekte Schauspieler, der es ohne sichtbare Anstrengung schafft, mehrere Rollen gleichzeitig zu spielen. Wie wir erst Monate später bemerken! In dem offiziellen Schauspiel ist er Sprecher der Klientenschaft, Vermittler, Organisator, selbst engagierter Klient.
In dem „Stück in dem Stück“ ist er tyrannischer Machthaber, Drogendealer und Kopf einer Diebesbande. Unter Androhung körperlicher Gewalt hat er alle Mitbewohner unter Kontrolle. Eines Tages kommt Jürgen wieder einmal zur Einzeltherapie zu mir. Das Gespräch plätschert so dahin. Dann sagt er, nachdem er anfangs etwas herumdruckst, plötzlich: „Du, Michael, ich finde Andi so toll, ich bin ziemlich beeindruckt von ihm.“ Pause, Zögern, dann: „ Ich habe Angst, dass ich ihn mir zum Vorbild nehme.“
In mir rattert es, ich spüre, obwohl ich Andis Machenschaften noch nicht kenne: Gefahr! Und sage, ohne zu überlegen: „Nein, Jürgen! Nimm dir lieber mich zum Vorbild!“ Jürgen schaut mich groß an, ich schweige verlegen. Sogar Ischa ist sprachlos. Dann wettert Ischa los, und zwar wie immer, wenn er mich unmöglich findet, an die Gruppe gerichtet: „Hab‘ ich’s nicht gesagt!
Der Kerl ist so größenwahnsinnig! Der vermeidet jede Erregung! Der treibt die Leute in die Depression!“ Ich muss ihm Recht geben. Ich schäme mich: „Michael, was war das denn?!? Völlig untherapeutisch, unempathisch, dafür aber appellativ, verstrickt, konfluent, projektiv, retroflektierend und egotistic. Ischa ist immer noch erregt, aber ich glaube, dass er „dahinter“ triumphiert. Weil er es von Anfang an gesagt hat! Na ja. – Jürgen guckt mich noch immer stumm an, lächelt etwas. Was dann kam, habe ich vergessen.
Nicht vergessen habe ich das Abschlussgespräch, welches ich einige Monate später mit Jürgen führte. Auf meine Frage, was ihm geholfen (oder geschadet, wie ich der Form halber etwas ängstlich anfüge) habe, sagt er mit wachem, leicht tänzelndem Blick: „Weißt du, dass du mir damals gesagt hast, dass du mein Vorbild sein wolltest – ich war wirklich ganz kurz davor, zu Andi zu gehen, na ja, und heute weiß ich, alles wäre wieder von vorn losgegangen ...“ – Danke, Jürgen! (Ätsch, Ischa! Knurrend wendet Ischa sich ab.)
Ist es SINN für Jürgen, zu erleben, dass er mir so wichtig ist, dass ich für ihn aus der Rolle falle?
Feld und SINN
Was können wir aus Jürgens Geschichte über SINN ableiten? In erster Linie, dass SINN nicht (nur) das ist, was (Gestalt-) Therapeutinnen darunter verstehen. SINN ist nicht immer etwas Großes, Erregendes, Fernes, Ideelles, Wahres, Transzendentes; er kann auch klein, langweilig, nah, materiell, falsch und abgrenzend sein. Therapie ist nicht unbedingt SINN. Manchmal ist SINN auch Nicht-Therapie. Ist das anfängliche Misstrauen, „Checken“ und Benutzen grundsätzlich SINN-leerer als die Valenzen, die andere Menschen später für Jürgen bekommen? Ist der SINN „Autokauf“ weniger wertvoll als der SINN „gemeinsame Zukunft“? Wir wollen sehen, welche Position Lewin dazu einnehmen würde:
Mir ist kein ausdrückliches SINN-Konzept bei Lewin bekannt. Dennoch bietet dieser eine Reihe von Konstrukten an, in denen man SINN verankern könnte. Ich stelle einige Fragen an Lewin, auf die ich ihn fiktiv antworten lasse. Ich möchte auf diese Weise keine fertige Lewin’sche SINN-Theorie präsentieren, sondern Möglichkeiten aufzeigen und eine Diskussion einleiten. Die Fragen sind:
1. Was ist SINN?
SINN ist Interdependenz, könnte Lewins spontane Antwort lauten. Das würde heißen: Einem Bereich im psychologischen Lebensraum kommt in dem Maße Bedeutung = SINN zu, wie er mit anderen verknüpft ist, gleichzeitig von diesen abhängt und auf diese einwirkt.
Z. B. ist die Tätigkeit „Spülen“ SINNvoll im Hinblick auf die andere Person, die ohne Spülen nicht abtrocknen könnte – also SINN im direkten räumlich-zeitlichen Zusammenhang – oder im Hinblick auf das Vermeiden der angedrohten Sanktion – hier ist die relevante Zeitperspektive schon etwas ausgedehnter. Spülen kann aber auch im Hinblick auf entferntere Bereiche SINN-voll sein, sofern diese im aktuellen Feld repräsentiert sind:
„Wenn ich jetzt spüle, dann erlerne ich Verantwortung, dann kann ich auch später für eine Familie Verantwortung tragen.“ Etwa so hat sich Jürgen am Ende seiner Therapie einmal geäußert.
Die Interdependenz kann also den aktuellen psychologischen Lebensraum betreffen, z. B. die tätige Verbundenheit der Person mit einer anderen anwesenden Person. Die Verknüpfung kann auch in die psychologische Vergangenheit gerichtet sein („Mit meiner Arbeit setze ich das Werk meines Vaters fort.“) oder auf die psychologische Zukunft zielen („Ich hoffe, dass meine Arbeit von meinen Kindern weitergeführt wird.“).
Dabei können die zeitperspektivischen Verknüpfungen in ihrem Realitätsgrad variieren: „Traditionsgemäß werden meine Kinder den Familienbetrieb weiterführen.“ ist eine Aussage mit höherem Realitätsgrad als bspw. „Ich wünschte mir so sehr, dass meine Kinder ...“.
Einen Zusammenhang zwischen Lewins Zeitperspektive und Ernst Blochs konkreter Utopie stellt Heubrock her (1982). Nach Bloch ist das Noch-Nicht-Bewusste eine Antizipation der Zukunft; konkret ist diese, weil das „Noch-Nicht“ in dem „Dass“ des aktuell Seienden als Mangel enthalten ist (Bloch 1967, S. 356 f.; 1970, S. 218).
Das jetzt erlebte Objektiv-Reale enthält insofern eine Tendenz, ein SINN-en auf das in die Zukunft weisende Real-Mögliche (vgl. Heubrock 1982, S. 175): „Ein Kind greift nach allem, um zu finden, was es meint. Wirft alles wieder weg, ist ruhelos neugierig und weiß nicht, worauf. Aber schon hier lebt das Frische, Andere, wovon man träumt.“ (Bloch 1967, S. 21). Nicht nur das Gegenwärtige drängt in der Zeitperspektive auf das Zukünftige hin; umgekehrt wäre ohne Vergangenheit und Zukunft Gegenwart nicht erlebbar, bliebe „im Dunkel des gelebten Augenblicks“ (Heubrock 1982, S. 183) verborgen:
„Vor allem das Zukünftige als die Richtung und das Ziel gibt der Gegenwart einen Sinn […]“ (ibd.). „Ich habe Angst, dass ich ihn [Andi] mir zum Vorbild nehme!“, hatte Jürgen zu mir gesagt. In dem Wort „Vorbild“ ist das Zukünftige enthalten; denn woraufhin sonst sollte man sich ein Vorbild schaffen, wenn nicht auf die Zukunft hin? SINN könnte für Jürgen mit seiner Wahl derjenigen Personen zu tun haben, die er in seinen – in die Zukunft weisenden – Lebensraum hineinprojiziert (und welche nicht).
Eine weitere SINN-stiftende Verknüpfung zeigt sich in dem von Lewin als Integration bezeichneten Prozess. Wenn sich im Laufe der Entwicklung der psychologische Lebensraum nur stets weiter ausdifferenzierte, würde das Verhalten zunehmend chaotisch, beziehungs- und SINN-los werden.
Deshalb schließt sich – parallel zur Differenzierungsentwicklung – eine immer größere Varietät von Teilen zu Handlungseinheiten zusammen (vgl. Lewin 1963, S. 139). Leitideen, Ziele, Werte, Bedeutungen, Gestalten, Identitäten können solche Einheiten sein, welche dem Verhalten einen SINN-Zusammenhang ermöglichen. Die Einheitlichkeit eines Ganzen innerhalb des psychologischen Feldes ist, so definiert Lewin, umso größer, je stärker „[...] der Zustand eines Teils innerhalb eines Ganzen vom Zustand anderer Teile dieses Ganzen abhängt.“ (1963, S. 159).
Auf Jürgen bezogen, könnte das heißen: Jürgen hat sich im Therapieverlauf immer mehr als Teil eines Ganzen, als verbunden mit spezifischen Personen seines Lebensraumes empfunden. Das war für ihn womöglich SINN-gebend. Ein wichtiges Konstrukt in diesem Zusammenhang ist das der Sättigung. In dem Moment der Sättigung ist der umgekehrte Vorgang erfahrbar, nämlich der Gestalt- oder SINN-Zerfall: Häufige Wiederholung einer Tätigkeit führt zur Desorganisation des Verhaltens. Jeder kennt das Phänomen der Bedeutungsablösung, wenn man ein Wort oftmals hintereinander ausspricht.
Wie bei der Nahrungsaufnahme sättigt jede Handlung das zugrunde liegende Bedürfnis und führt zu einer Veränderung des dynamischen Zustandes des psychologischen Feldes. Bei häufiger Wiederholung treten zuerst Variationen auf, dann Fehler, schließlich heftige Abneigung. Wenn eine Schülerin zur Strafe die Schulordnung abschreiben muss, vollzieht sie eine Aneinanderreihung von einzelnen Wörtern, ja Buchstaben, die schnell zur Sättigung führt. Schreibt jemand aber eine Kurzgeschichte gleichen Umfanges, mit der er einen Preis gewinnen möchte, handelt es sich um eine überschneidende Tätigkeit: Der erste Aspekt, die Übermittlung von Bedeutung, hat keinen Wiederholungscharakter, wohl aber der zweite, die Aneinanderreihung von Symbolen.
„Die Schnelligkeit des Gesättigtwerdens“, folgert Lewin, „hängt von der relativen Potenz des Wiederholungsaspektes der Tätigkeit ab.“ (1963, S. 302) Das heißt nichts anderes als: Wenn ein SINN hinter der Handlung steht, tritt ihre Wiederholungspotenz in den Hintergrund (vgl. Walter 1985, S. 64). Nun verstehen wir auch, warum es Jürgen und seinen Mitklienten so schwer fällt, zu spülen etc., ja dass es eine Qual für sie ist. Auch jeden Morgen zur Gruppentherapie anzutreten, ist reine Wiederholung, ohne dass diese Tätigkeit eine Handlungsfigur mit Bezug auf einen umfassenderen SINN-Grund wäre. Erst wenn in diesen Tätigkeiten ein SINN aufscheint – zum Beispiel als für eine Beziehung wichtig – kann das Moment der Sättigung an Kraft und Bedeutung verlieren.
Nun ist die Frage zu diskutieren, ob Lewin eine Korrelation zwischen SINN und bestimmten topologischen oder dynamischen Eigenschaften des Feldes angeben würde, wie es ja in „seiner“ spontanen Antwort anklang. So könnte man versucht sein, Aussagen zu treffen wie: Die Person erlebt umso mehr SINN,
je höher der Differenzierungsgrad des psychologischen Lebensraumes ist;
je ausgeprägter die Flüssigkeit, Plastizität und Elastizität seiner Bereiche und Grenzen ist;
je ausgedehnter die Zeitperspektive ist;
je höher das Ausmaß der Interdependenz der Einzelbereiche und damit die Integration des Gesamtfeldes ist.
Ich möchte dieser Versuchung aus zwei Gründen widerstehen:
(a) Lewin ist sich der Tatsache bewusst, dass eine vollständige Verwirklichung dieser Prinzipien zu Problemen führen würde. Z. B. würde ein zu hoher Differenzierungsgrad zu chaotischem Erleben führen (z. B. 1963, S. 139). Zu geringe Differenzierung brächte die Gefahr einer Regression mit sich (ibd.,S. 280) und/ oder einer Stereotypisierung des Verhaltens. Zu große Interdependenz und Integration könnte bedeuten, dass eine Person entscheidungsunfähig wird, weil zu viele Bereiche in der Entscheidung Berücksichtigung finden müssten. Der entgegengesetzte Prozess, die Dissoziation, würde dagegen zu einer fehlenden Berücksichtigung wichtiger Entscheidungsfundamente führen.
Lewin leitet Verhalten aus dem Wirken einer Vielzahl gleichzeitiger Kräfte ab; diese können sich – im Sinne des vektormathematischen Kräfteparallelogramms – gegenseitig verstärken, aufheben oder füreinander neutral sein. Insofern wird man normative Aussagen aus dem Lewin’schen Lebensraum-Konstrukt kaum ableiten können, normative SINN-Kriterien etwa wie: mehr Differenzierung! Mehr Erregung! Wachstum! oder: Kontakt! Vielmehr wird die SINN-Analyse genauso idiografisch hinsichtlich der konkreten Strukturen und Dynamik zu erfolgen haben wie die Lebensraum-Analyse insgesamt.
Deshalb müssen wir nun „Lewins“ spontane Antwort „SINN ist Interdependenz“ relativieren: SINN ist nicht Interdependenz (oder Differenzierung oder Integration oder ...), schon gar nicht in der normativen Setzung eines „Je-mehr-desto-Besser“; vielmehr steckt SINN in all diesen Strukturen und Dynamiken des Lewin’schen Lebensraumes. Oder anders gewendet: Mit Hilfe dieser Konstrukte lässt sich SINN-Geschehen ebenso analysieren, beschreiben, erklären und lokalisieren wie jedes andere Geschehen im psychologischen Feld.
Wir werden später sehen, dass Lewin hier einer Gefahr widersteht, der die Gestalttheorie und insbesondere die Gestalttherapie anheimfallen: nämlich eine Wertung aus dem eigenen Denkgebäude zu folgern, die bereits als Prämisse vorhanden war. Wenn man hingegen Lewins Texte liest, fällt auf, dass dieser dem „kleinen“ SINN – eine Kind versucht, einen Ball zu fangen – den gleichen Respekt zu erweisen scheint wie dem „großen“ – „Ich bin ein Teil des Universums“.
(b) Aus erkenntnistheoretischen Gründen (vgl. Mehrgardt 1994) kann SINN keine wissenschaftliche oder therapeutische Aussage sein, sondern immer nur eine persönliche Stellungnahme, die zu verantworten ist.
Ich komme zu den weiteren SINN-Fragen an Lewin:
2. Wo „befindet“ sich SINN?
Diese Frage ist schnell beantwortet, weist aber auch auf eine grundsätzliche Schwierigkeit der Feldtheorie hin.
Nach Lewin kann SINN nur im psychologischen Lebensraum anzutreffen sein. Ob SINN darüber hinaus auch ontisch (in der transphänomenalen Welt, in den Strukturen, kulturhistorisch ...) gegeben ist, kann mit Lewin nicht entschieden werden. Diese Frage läuft auf Lewins Scheidung psychologischer von nicht-psychologischen Faktoren hinaus. Sie ist eine erkenntnistheoretische Frage, die Lewin aus seiner Theorienbildung heraushält.
Da Lewin meines Wissens nicht beansprucht, eine Erkenntnistheorie kreiert zu haben, halte ich dies soweit für legitim. Auch die zirkuläre Definition – verkürzt: Psychologie ist, was wirkt – bleibt so lange ein circulus fructuosus, wie die Begrenzung seines Ansatzes – eine psychologische Methode, keine Erkenntnistheorie – akzeptiert wird.
Dass SINN sich im Lebensraum befindet und nicht unbedingt in der transphänomenalen Welt, haben wir gesehen: Für Jürgen war meine Aufforderung, doch bitte mich als Vorbild zu nehmen, offenbar Beziehungs- und vielleicht damit auch SINN-stiftend; für mein Innenleben – welches ja als solches nicht in Jürgens Lebensraum erschien – eine peinliche Spontanäußerung.
3. Wie geschieht SINN?
Im Rahmen der Feldtheorie ist SINN als eine Kraft zu definieren. Lewin bezeichnet psychologische Kräfte als eine „Beziehung von mindestens zwei Regionen im Lebensraum“ (1963, S. 289). Ob eine Zielregion (ein Keks) einen positiven Aufforderungscharakter (positive Valenz) für die Person (ein Kind) darstellt, hängt von dem Zustand dieser Person, z. B. der Bedürfnisspannung, ab.
Ob diese Kraft zu einer wirklichen Lebensraumveränderung (z. B. Lokomotion des Kindes zur Keks-Region) führt oder eine Tendenz bleibt, hängt von der weiteren Verteilung von Kräften (und Barrieren) im Feld ab. Eine psychologische Kraft kann sich – wie in dem Beispiel – als Anziehung oder Abstoßung (oder auch beides) zwischen einzelnen Bereichen abspielen oder auch das ganze Feld betreffen (Systemspannung, Bodenaffektivität; vgl. Lewin 1969, S 183 f.).
Für Jürgen hatte Andi diese anziehende Valenz. Sie blieb aber bloße Tendenz, weil eine andere Valenz stärker war und weil wohl auch Barrieren im Kräftefeld des Lebensraumes vorhanden waren.
4. Wie wird SINN erfahren?
Die Person erfährt SINN als Kraft oder ein Bündel von Kräften, die sich ihr im einfachsten Fall als eindeutige positive oder negative Valenz darstellt. Diese muss nicht als Figur oder Fokus phänomenal erscheinen, um psychologisch wirksam zu sein.
Eine lästige Arbeit kann leicht von der Hand gehen (stinkende Siele im Garten reinigen), wenn ein Ziel oder SINN dahinter steht (beruhigt in Urlaub fahren), auch wenn man währenddessen nicht ein einziges Mal daran denkt. Insofern erzeugt SINN eine Art von Kraft, die man als Zug bezeichnen könnte.
Da Lewin die Gesamtsituation, d. h. das wechselseitige Voneinander-Abhängen aller Kräfte, im Auge hat, werden stets auch alle inneren Bereiche der Person – Denken, Fühlen, leibliches Erfassen – beteiligt sein, wenn auch nicht immer in voller phänomenaler Repräsentation.
Erschwert wird die Erfahrung von SINN sicherlich durch vielerlei „Komplikationen“: Barrieren, multiple und widersprüchliche Aufforderungsgehalte, Ent- oder Überdifferenzierungen, Dissoziationen von Bereichen, stetige Veränderungen von Lebensraum und Zeitperspektive usw.. Insofern ist SINN oft kaum zu fassen, weder als klare Erfahrung noch als Begriff.
Nicht selten wird SINN erst im Nachhinein als solcher erfahrbar: So konnte Jürgen mir erst am Ende der gemeinsamen Zeit mitteilen, wie wichtig ihm meine „Vorbild-Äußerung“ gewesen ist. Manche Menschen erleben ein Gegenüber erst dann als SINN-gebend, wenn sie es verloren haben.
Am deutlichsten scheint SINN noch in seiner Negation erfahrbar zu sein, bspw.
wenn Symptome der Sättigung den fehlenden SINN-Bezug signalisieren;
wenn die resultierende Kraft im Lebensraum andauernd gegen Null geht [V = F(P,U) = 0], etwa infolge von Erkrankung, Burn-out, Resignation, Introjekten (in Lewins Worten: induzierte Kräfte, die Lokomotion behindern), Retroflexionen (Kräfte und Gegenkräfte brauchen sich gegenseitig chronisch auf; vgl. Lewins Konfliktanalyse, z. B. 1963, S. 293 ff.; vgl. „The Psychological Situations of Reward and Punishment“ in: Lewin 1935, S. 114-170).
durch Verlust der Zukunftsperspektive (existenzielle Erkrankung, Tod des Partners) oder der Vergangenheitsperspektive (Entdeckung der erwachsenen Frau, dass die Liebe ihres Vaters in Wirklichkeit nichts als sexuelle Ausbeutung war).
5. Wie wird SINN (mit)geteilt?
Diese Frage enthüllt – ebenso wie Frage 2 – die Schwierigkeiten bzw. Begrenzungen einer Methode, die ausdrücklich im Bereich der Psychologie verbleibt. Wenn man Lewins Dreischritt-Verfahren zur Erfassung der Interaktionen mehrerer Personen – in ihrem jeweiligen Lebensraum – betrachtet (z. B. 1963, S. 230 ff.), tritt „der Andere“ immer nur als Person im eigenen psychologischen Lebensraum auf; niemals ist auch die „reale“, eigentliche Begegnung, unabhängig vom eigenen psychologischen Erfassen, thematisiert.
Eine derartig gefasste Begegnung zweier Wesen erinnert an von Foersters „Herrn mit der Melone“ (1990, S. 58 f.), der einer umständlichen gedanklichen Konstruktion bedarf, um sich der Existenz des Anderen zu vergewissern.
Meine Kritik an diesem primären Solipsismus (Standpunkt, der nur das eigene Ich als wirklich gelten lässt) des Radikalen Konstruktivismus, der sich auch Lewins Konzeption stellen muss, will ich hier nur erwähnen und nicht weiter ausführen (vgl. Mehrgardt 1994, S. 198 ff., S. 287).
In diesem 1. Artikel über SINN lernten wir Jürgen kennen. Wir erörterten, inwiefern uns das Lebensraum-Konzept von Kurt Lewin helfen kann zu verstehen, ob und wie Jürgen SINN erfahren hat.
Schauen wir uns im nächsten Artikel an, ob uns Gestaltpsychologie und Gestalttherapie weitere Antworten zur SINN-Frage liefern können. Auf jeden Fall wird uns Jochen wichtige Hinweise liefern – aber völlig andere als vermutet!
Hier geht’s zu Teil 2: UND ISCHA KNURRTE #2 – Jochen