Social-Media-Trend Cottagecore – Flucht ins digitale Landleben

Auf Social Media zeigen sich immer mehr Leute inmitten einer ländlichen Idylle, umgeben von unberührter Naturschönheit und höchster ästhetischer Pracht. Man nennt das "Cottagecore"-Bewegung, die vor allem seit Corona-Krise an Popularität gewinnt.

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Mensch und Natur hatten schon immer ein kompliziertes Verhältnis.

Der Cottagecore-Trend, die ländliche Idylle voller Schönheit und Einfachheit, vertuscht dieses Verhältnis und inszeniert ein Ideal, das es in der Wirklichkeit nicht geben kann.

Langhaarige Mädels, die über herrliche Wiesen wandern, Blumenkranz im Haar, nude geschminkt. Manche zeigen sich beim andächtigen Bewundern einer prächtigen Blüte oder liegen in einem Ährenfeld wie aus dem Bilderbuch. Die Klamotten sind natürlich angepasst, schließlich ist die Cottagecore-Mode längst in allen Fashion-Stores etabliert.

Andere zeigen ihren perfekten Apfelkuchen auf einem rustikalen Holztisch. Ach ja, wenn ein Schaf oder eine Kuh da irgendwo rumstehen, ist das natürlich noch besser.

Fürs Bild versteht sich. 😉

 

Cottagecore, zu Deutsch in etwa „Landhaus Extrem“, ist eine digitale Ästhetik, die seit 2018 auf Instagram, TikTok und Co. verbreitet wird.

Dabei wird mit schöner Optik und Technik über ein grundlegendes Dilemma hinweggetäuscht: nämlich die Realität des dialektischen Verhältnisses des Menschen zur Natur.


Cottagecore Trend – Definition

Wikipedia schreibt, Cottagecore ist eine Internet-Ästhetik, die die Rückkehr zu traditionellen Fertigkeiten und Handwerken (…) feiert.

Dazu zählen solche Dinge wie:

  • Gartenarbeit

  • Futtersuche

  • Sticken

  • Backen & Kochen

  • Töpfern

Das Ganze wird in Zusammenhang mit ähnlichen nostalgischen ästhetischen Bewegungen wie Grandmacore , Farmcore , Goblincore und Faeriecore gebracht.

Die Bewegung gewinnt weiter an Zugkraft in vielen Online - Sphären und auf Social Media aufgrund der Masse unter Quarantäne gestellt als Reaktion auf die COVID-19 - Pandemie . [2] [3]

Dementsprechend wurde es von The Guardian als "visuelle und Lifestyle-Bewegung beschrieben, die die gesunde Reinheit der Natur fetischisieren soll". [2] Es betont die Einfachheit und die sanfte Ruhe des pastoralen Lebens als Flucht vor den Gefahren der modernen Welt.


Cottagecore lehnt die Errungenschaften der Zivilisation & Technik ab

Egal ob Hippie-, minimalistische Nostalgie oder Bauern-Idylle, all diese Leute haben vor allem eine Botschaft:

Misstrauen gegen die technisierte Zivilisation.

Stadt und Moderne stehen für Kälte, Schnelllebigkeit und Entfremdung. Die Natur für Tradition, Schönheit, Glück und Einfachheit. (Vgl. Innere Zufriedenheit & Glück in der Philosophie)

Dabei blenden sie allerdings jene grundlegende Problematik aus, die Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer berühmten Dialektik der Aufklärung eindrücklich beschrieben hatten:

Um zu überleben, müssen wir die Natur bändigen.


Der Mensch als Teil der Natur & ihr Bezwinger

Überleg doch mal: Wir mussten Schutzmauern und Dämme bauen, um uns vor Naturgewalten zu schützen. Wir brauchen diesen Schutz auch gegen gefährliche Tiere, da der Mensch über keine natürlichen Waffen verfügt.

Und was ist mit Krankheiten und Seuchen, die durch Viren und Bakterien ausgelöst werden? Auch sie sind Teil der Natur und auch gegen sie müssen wir uns mit Hilfe von Medikamenten verteidigen, um nicht ausgelöscht zu werden.


Das ist aber noch längst nicht alles.

Auch unsere eigene, menschliche Natur müssen wir sublimieren, verfeinern, kanalisieren, um in einer funktionierenden Gesellschaft leben zu können. Würden wir zum Beispiel Aggression oder Sexualtrieb nicht gemeinschaftlich reglementieren, dann hätten wir eine chaotische Anarchie, in dem das Recht des (körperlich) Stärkeren gilt.

Das gilt im Übrigen auch für Psychotherapie, Achtsamkeit und Selbstfindung: das alles sind Maßnahmen, um unsere psychischen und emotionalen Fähigkeiten zu verfeinern anstatt sie blind ihrer Natur nach in uns wüten zu lassen.


Das Paradox des Cottagecore-Trends

Paradoxerweise entsteht die Idee und Vorstellung, von einer menschenfreundlichen Natur gerade in der Zivilisation und nicht auf dem Land. Also genau bei den Leuten, die eigentlich eine Distanz zur Natur prägt.

Und das nicht erst heute. Die Dichter der Natur-Romantik im 18. und 19. Jahrhundert waren zum Großteil Adlige, die kaum etwas vom Leben auf dem Land wirklich wussten.

Sogar zur Zeit des Sonnenkönigs, Ludwig dem XVI., galt es als adliger Schick, Lust an der Natur zu empfinden. Marie-Antoinette hatte ihr eigenes Bauerndorf bauen lassen, in dem Obstanbau und Viehzucht betrieben wurde. Kam die Königin zu Besuch, trug sie magdähnliche Kleider und spielte die Arbeit der Bauern nach. Hat sie natürlich nie, also gearbeitet.

Nicht anders verhält es sich mit den Hippies der 60er: auch das waren oft Kinder reicher Eltern. Keiner von denen hat Wiese und Feld als Ort der mühevollen Arbeit erlebt, des Kampfes ums Überleben.


Klar, wenn man nicht harte körperliche Arbeit auf dem Feld leisten muss, sondern geschützt und müßig im Kleinbus herumfährt, kann man sich an der distanzierten Natur erfreuen.

Es kommt aber noch besser:

Mit Hilfe von Handy, Digitalkameras und Bildbearbeitungsprogrammen wird eine Naturidylle inszeniert, die frei von Technik sein soll, und die Bilder auf Social Media verbreitet, also einer digitalen Welt.

Der Trend bietet vermeintlich Kontrolle

Die Menschen in dieser gekünstelten Natur müssen weder schwitzen noch frieren, sich nicht vor nervigen Insekten schützen oder schmutzig machen.

Erinnert mich an die Ritterromantik, da gibt’s auch nur edle Ritter mit höchsten ethischen Überzeugungen und wunderschöne Prinzessinnen, ohne Fehl und Makel.

Mir fällt vor allem die Inszenierung ins Auge.

Wer darauf achtet, dass Deckchen, Möbel und Blumen perfekt fürs Foto angerichtet sind, übt Kontrolle aus. Und Kontrolle verleiht ein Sicherheitsgefühl, das trügerisch sein kann.

Sowohl Minimalismus als auch Cottagecore sind völlig unrealistische Darstellungen des Lebens: so gefiltert von Perfektion, dass sie im wirklichen Leben nicht reproduziert werden können.

(Quelle: New York Times)


Dass Inszenierung und Social Media ein untrennbares Duo sind, ist für die meisten von uns klar. Genau das macht vor allem visuelle Plattformen wie Instagram aus: idealisierte Schnappschüsse und viel Schein.

Das Problem ist: wir vergessen schnell, dass diese Fotos & Videos gestellt sind und nicht dem realen Leben entsprechen. Genau darum ist es so wichtig, bedacht mit den sozialen Medien umzugehen. ☝

Vgl. auch: Digitale Medien & Gehirn – Was macht das Internet mit uns?
Vgl. auch: Was ist Philosophie?
Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik


Quellen:

1) Wikipedia Artikel
2) Philomag – das Philosophie Magazin online
3) Die Zeit: Artikel
4) weitere Recherchen

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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