Studie – Lebenslagen seelisch beeinträchtigter Menschen in München
Die Studie "Sichtbar" über das Leben von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in München wurde kürzlich dem Gesundheitsausschuss des Stadtrats präsentiert. Sie untersucht u. a., wie viele psychisch erkrankte Menschen es in München gibt, wie sie auf die verschiedenen Stadtteile verteilt und mit welchen spezifischen Belastungen und Hindernissen sie konfrontiert sind.
Obwohl die Studie nicht repräsentativ ist und somit nicht für ganz München
verallgemeinerbar, zeigt sie dennoch wichtige typische Probleme für Menschen mit psychischen Leiden in Deutschland auf.
In der Studie finden sich gute Essays, die lesenswert sind:
S. 53 ff. Mirko Bialas: Eine „psychische Behinderung“ gibt es nicht: Zur Dekonstruktion des Begriffs „Behinderung“
S. 55 ff. Eine „Seelische Behinderung“ ist eine „Behinderung“ an Zeit: Persönlicher Beitrag eines Co-Forschers (Mirko Bialas)
S. 200 ff. M.C.Z., Wie bitte? Anekdoten und Schlüsselsätze aus dem Leben eines Menschen mit psychischer Beeinträchtigung.
Ich liefere im Folgenden keine Zusammenfassung, sondern möchte bestimmte Punkte aus der Studie hervorheben, weil ich diese für aussagekräftig halte.
Über die Studie
Sie ist eine Maßnahme des zweiten Aktionsplans der Landeshauptstadt München zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und kann unter https://stadt.muenchen.de/infos/gesundheitsberichte.html abgerufen werden.
Ein spezielles Augenmerk lag darauf, die Hindernisse zu beschreiben, mit denen seelisch beeinträchtigte Menschen im täglichen Leben konfrontiert sind, wie im zwischenmenschlichen Kontakt, im Berufsleben, bei kultureller Teilhabe usw.
Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen waren bei dieser Studie kontinuierlich als Co-Forschende beteiligt und brachten ihre Erfahrungen, Perspektiven und Ideen zur Beseitigung von Barrieren in das Forschungsteam ein. Dieses partizipative Vorgehen entspricht den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention und könnte als erfolgreiches Beispiel für zukünftige Projekte der Stadtverwaltung dienen.
Die Teilnehmer der Befragung nannten im Durchschnitt 3 verschiedene psychische Krankheiten, teilweise von Ärzten diagnostiziert, teils in Selbstdiagnose. Hier spiegelt sich wider, dass das alte System, psychische Störungen in feste Kategorien einzuteilen, nicht gut funktioniert. Neuere Studien deuten mehr und mehr darauf hin, dass „psychische Störungen ineinandergreifen und es keine harten Trennlinien gibt.“ (Heinz, Müller und Rosenthal 2016)
Das Besondere
Partizipative Forschung
(Citizen Science)
Betroffene sind selten aktiv in Forschungsprojekten involviert. Stattdessen wird über sie geforscht oder Experten geben Auskunft über sie. In Deutschland ist das noch extremer, als in anderen Ländern, auch wenn sich in der sozialwissenschaftlichen Gesundheitsforschung entsprechende Bemühungen zeigen. Die Psychologie und Psychotherapie scheint sich darum wenig zu kümmern.
Darum ist das Motto; „Nichts über uns ohne uns“ von Behindertenrechtsaktivisten seit den 1990er Jahren vertreten, und auch das Prinzip der Citizen Science betont die Bedeutung Betroffener-Beiträge zur Aufklärung komplexer Forschungsfragen.
Die vorliegende Studie war daher kein rein akademisches, sondern ein vorbildliches Gemeinschaftsprojekt, bei dem auch nicht-wissenschaftliche Akteure aktiv beteiligt wurden. Die Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Betroffenen führte zu einer gegenseitigen Ergänzung der Perspektiven, was die Relevanz und Wirksamkeit der Untersuchung deutlich unterstreicht.
Im Wesentlichen zeichnet sich die Studie durch folgende Merkmale aus:
Orientierung an lebensweltlichem, gesellschaftlich relevantem Thema
mit Betroffenen als Partner*innen statt als Objekte der Forschung
starker Fokus auf das Selbsterleben und Erfahrungswissen
Erarbeitung von problemorientiertem Handlungswissen
Empowerment im Prozess
Erkenntnisse zu Begrifflichkeiten
Die Art und Weise, wie im Alltag über psychische Erkrankungen oder Betroffene gesprochen wird, zeichnet sich durch die Vielzahl an verwendeten Begriffen aus.
„psychisch Kranke“ und „Menschen mit psychischen Erkrankungen“
„psychisch beeinträchtigt“
„Menschen in (psychischen) Krisen“
„seelisch behindert“, „Menschen mit seelischer Behinderung“,
„Personen mit psychischen Störungen“
„Psychiatrie-Erfahrene*r“
„ver-rückt“ (im Sinne aus dem psychischen Gleichgewicht Geraten-Sein).
Die Studien-Autoren kommen zu dem Schluss:
“Letztendlich ist keiner der Begriffe neutral: Jeder Begriff weckt Assoziationen bzw. trägt Konnotationen, die bei Betroffenen auf Ablehnung stoßen (können). Dies gilt vor allem für den Begriff „Behinderung“.”
Häufig wurde der Begriff “psychische Erkrankung” kritisiert, da er auf eine Wiederherstellung des vorherigen Zustands abziele und somit das subjektive Erleben in der Krankheit als etwas Abnormes betrachtet.
Es bringt laut den Autoren also nichts, nach einem neutralen Wort zu suchen. Viel wichtiger ist, dass wir verstehen, was ein Begriff an Konnotationen beinhaltet. Wie über und mit Menschen mit psychischen Leiden gesprochen wird, ist mehr als wichtig: Nicht nur, weil einige Begriffe stigmatisieren und damit Betroffenen schaden.
Sondern auch, weil die Bezeichnungen, die wir für Personen mit psychischen Erkrankungen verwenden, sich auch auf unsere Haltung ihnen gegenüber auswirkt.*
*Granello und Gibbs (2016) Forschungen zeigen, dass der Begriff „psychisch krank“ bei Leser*innen deutlich eher Assoziationen in Richtung „gewalttätige Personen“ auslösen als der Begriff „Menschen mit psychischen Erkrankungen.“
Der Begriff “Psychiatrieerfahrene” wird als zu eng gefasst betrachtet, viele verstehen darunter Personen mit stationärer Psychiatrie-Erfahrung.
Häufigkeit
Quelle: stadtbezogenen Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB). Im Jahr 2021 wurde bei etwa 274.000 erwachsenen Münchner Bürgern, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, mindestens eine psychische oder Verhaltensstörung ambulant diagnostiziert. Dies entspricht einem Anteil von 27,1% aller Münchner GKV-versicherten Erwachsenen mit Arztbesuch. Besonders bei Frauen lag der Anteil mit 30,4% höher als bei Männern mit 23,0%.
Erwähnenswert sind außerdem die sozialräumlichen Aspekte:
"Je höher der Anteil an ALG II-Empfänger*innen, umso höher fällt in der Tendenz der Anteil der GKV-Versicherten mit F30-39 Diagnosen aus. Der Zusammenhang auf aggregierter Ebene der Stadtbezirke ist statistisch signifikant."
Kapitel 2 – Psychische Erkrankungen in der Außen- und Innenperspektiven
Selbsterleben psychischer Krankheit als innere Barriere
Wie es Gottfried Wörishofer, der ehemalige Geschäftsführer der Münchner Psychiatrie-Erfahrenen (MüPE e.V.) formulierte: „Durch die Erkrankung selbst, deren Medikation oder durch beides stellen wir die Absenkung des gesamten Energielevels fest. Minderung von Belastbarkeit, Interesse, Durchhaltevermögen, Freude am Tun, Schwinden von Sinnerleben und geistig-seelischer Präsenz bündeln sich zu einer <Barriere>, die sich als <schwankende Leistungsfähigkeit> zeigt.“
„Innere Barrieren“ im Wechselspiel
Innere Blockaden allein machen es einer Person schwer, am sozialen Leben teilzuhaben. Allerdings wird übersehen, dass solche Ausschlüsse meistens entstehen, wenn Menschen, die nicht betroffen sind, kein Verständnis zeigen und ungeduldig oder unsicher sind. Das kann dazu führen, dass sich betroffene Personen selbst abwerten.
Vgl. auch Einsamkeit in der Depression – existenziell einsam sein
Teils ziehen sich Menschen nicht wegen einer Depression zurück, sondern weil sie sich für ihren Zustand schämen. Sie übernehmen gesellschaftliche Stereotype und sehen sich selbst so, wie sie glauben, dass andere sie sehen.
Das erklärt auch, warum „innere Blockaden“ so wichtig sind – sie spiegeln Erfahrungen von Ausgrenzung und Selbststigmatisierung wider.
Leben mit einer psychischen Erkrankung als „Alltags-Leistung“
Das Leben mit einer psychischen Erkrankung stellt eine enorme Herausforderung dar, die Betroffene täglich bewältigen müssen. Es geht nicht nur darum, sich mit den Symptomen zu arrangieren, sondern auch darum, sie immer wieder zu überwinden, um ein halbwegs normales Leben führen zu können. Besonders schwierig wird dies bei Symptomen wie Antriebslosigkeit, Ängsten oder Zwängen.
Aber das ist noch nicht alles, was betroffene Menschen Kraft raubt, die für andere Dinge nicht zur Verfügung steht. Denn sie müssen sich auch mit direkter Stigmatisierung und Diskriminierung auseinandersetzen oder sie fühlen sich gezwungen, ihre Krankheit und Symptome zu verstecken.
In den Interviews der Studie betonten viele Betroffene immer wieder, wie anstrengend ihr täglicher Kampf gegen unsichtbare, nicht greifbare Widrigkeiten ist. Die Stärke dieser gefühlten Barrieren lässt sich für Außenstehende nur ansatzweise erahnen.
„Das Gefühl ist so: Irgendjemand hat mir eine Glaskuppel übergestülpt und ich bin nicht mehr fähig, irgendetwas zu tun.
Ich sehe immer nur “Um mich herum tut sich was”. Ich selbst bin aber nicht mehr handlungsfähig.
Und in mir ist so ein Gefühl von Aussichtslosigkeit. Schwere, Angst … das ist ein Wust aus vielen Dingen, dass sie das Gefühl haben “Da komm ich nie wieder raus”.
Ich kann nichts mehr tun. Ich hab kein Hunger mehr, keinen Durst. (…) Und das Nicht-Können … aus dem Bett ... das wird gleichgesetzt mit Faulheit. Das ist schlimm.“
Angesichts des täglichen Kraftaufwands und der permanenten Überwindung von Alltagshindernissen, ist es fast schon lächerlich, dass psychisch erkrankte Menschen in unserer Gesellschaft als "leistungsschwach" angesehen werden, wie die Autoren richtig bemerken.
Leben mit einer psychischen Behinderung als „Bereicherung“.
Obwohl psychische Erkrankungen belastend sind, können sie die Sichtweise der Betroffenen auf sich selbst und andere mit der Zeit ändern. In der Studie kam oft zur Sprache, dass psychische Krankheiten zwar schwierig sind, aber auch positive Veränderungen bringen können.
Manche Betroffene entdecken durch ihre Krankheit neue Werte oder Lebensweisen. Andere lernen Fähigkeiten, die sie als bereichernd empfinden. Wichtig zu betonen: trotz dieser positiven Aspekte verschwinden die belastenden Symptome der Erkrankungen nicht dahinter. Es wurde also nicht behauptet, dank der Erkrankung wäre das Leben jetzt sinnvoller oder besser als zuvor.
Kapitel 3 (ab S. 64)
Behandlungs- & Unterstützungssystem
Das System der psychischen Gesundheitsversorgung ist selbst für Fachleute schwer zu durchschauen – Laien fühlen sich oft überfordert. Es umfasst 4 Hauptbereiche: Beratung, Behandlung, Unterstützung zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und Selbsthilfe, mit einer Fülle von Angeboten in jedem Bereich und zahlreichen kurzlebigen Projekten, die für zusätzliche Komplexität sorgen. Ironischerweise kann eben dieses Hilfesystem eine Hürde für die Teilhabe sein.
Das zeigen auch die Ergebnisse der Umfragen. Was fehlt im "professionellen Hilfeangebot für psychisch Kranke in München"?
Hier wurde vor allem das psychiatrisch-psychotherapeutische Angebot kritisiert. Am meisten bemängelt: dass man zu lange auf ambulante Behandlungen warten muss. Das ist besonders kritisch, da mit der Wartezeit auch das Chronifizierungsrisiko steigt.
Laut den Umfragen bilden das ambulante Behandlungssystem und die ausgrenzenden Mechanismen des Arbeitsmarktes die wichtigsten Hürden für die soziale Teilhabe (nachzulesen in Kapitel 8.1). Fachleute und Angehörige von psychisch erkrankten Menschen stimmen dem gleichermaßen zu (siehe Abbildung 8.1).
Vgl. auch » Depression: Gesellschaftliche Ursachen & Determinanten
2 große Probleme, die für ganz Deutschland gelten
Alarmierend, aber nicht neu: dass etwa 10 % der Betroffenen angaben, sie verzichten aufgrund langer Wartezeiten oder schwer zugänglicher ambulanter Dienste auf Therapie oder psychiatrische Hilfe.
In diesem Zusammenhang scheint mir ein Aspekt wichtig: Die Befragten empfanden es als großes Risiko und Hürde, Therapeuten akzeptieren zu müssen, zu denen man eigentlich kein Vertrauen hat und deren Fachlichkeit man anzweifle.
Tatsächlich sind die Versorgungslücken im System so groß, dass eine freie Therapeutenwahl unmöglich wird.
Systeminterne Nutzungsbarrieren
Viele Betroffene fühlen sich durch die langen Wartezeiten und den schwierigen Zugang zum Hilfesystem überfordert, besonders in Krisenzeiten. Diese persönliche Überforderung, die durch ein Zusammenspiel von inneren Hürden und der komplexen Struktur der Behandlungs- und Unterstützungsangebote entsteht, wurde in den Befragungen und Gesprächen als entscheidendes Hindernis für die Inanspruchnahme von Hilfe identifiziert. Die fortwährende Stigmatisierung psychischer Krankheiten (siehe Kapitel 7) und die damit verbundenen Schamgefühle hindern viele Menschen daran, frühzeitig Hilfe zu suchen. Viele greifen erst auf Unterstützungsangebote zurück, wenn sie keine andere Wahl mehr sehen.
Erkrankungsbilder
Betroffene und Fachleute monieren, dass der Einstieg in ambulante Behandlungen noch schwieriger ist, weil einige Therapeuten sich eher leichte Fälle aussuchen.
Erschwerte Kontaktaufnahme
Oft müssen Betroffene über Wochen oder Monate hinterher telefonieren, um Kontakt zu Therapeuten zu finden.
Mangelnde technische Barrierefreiheit
Es fehlen Optionen, sich online über Angebote zu erkundigen und digitale Kommunikationswege mit Fachpersonal, wie Online-Terminbuchungen oder Chats, nutzen zu können.
Regelungsbedingte Einschränkungen
Die Kritik richtet sich vor allem gegen die Höchstzahl an Therapiestunden, die Krankenkassen bewilligen, und die Begrenzung auf nur bestimmte genehmigte Therapiearten.
Kritik an Behandlungsansätzen
Hier wurde vielfach bemerkt, dass Psychiater zu oft und zu schnell Medikamente verschreiben, statt umfassendere Behandlungen anzubieten – und dass teilweise Diagnosen gestellt werden, die fachlich nicht fundiert sind.
Entlassmanagement
Die Weitervermittlung von stationären an ambulante Behandlungs- und Unterstützungssysteme findet selten statt, sodass Patienten und deren Angehörige oft alleingelassen werden.
Begrenztes Vermittlungsangebot
Viele Betroffene und ihre Angehörigen sind durch die therapeutischen Angebote überfordert – gerade auch wegen der Vielfalt – oder wissen nichts davon. Und auch wenn man von den Angeboten weiß, scheinen die zuständigen Stellen einen nicht aktiv an das psychiatrisch-psychotherapeutische System weiterzuvermitteln. Gerade diese konkrete Hilfe benötigen Betroffene allerdings. Auch fehlt es an konkreten Empfehlungen für Therapie-Arten und passende Therapeuten.
Situation der Angehörigen
Angehörige kümmern sich i. d. R. zuerst um Erkrankte – und meist tun sie das eine sehr lange Zeit, bevor Betroffene professionelle Hilfe überhaupt suchen. Bei schweren oder lang andauernden Krankheiten bedeutet das eine enorme Belastung, die sich kaum jemand vorstellen kann. Vgl. Leben mit depressiven Menschen – Depression als Familienkrankheit
Probleme von Angehörigen:
Angehörige und Freunde bekommen nicht genug Unterstützung, um mit der Situation fertig zu werden.
Viele Angehörige und Freunde fühlen sich regelrecht überfordert.
Etwas kritischer ist vor allem die Lage von Angehörigen, die mit dem/der Betroffenen zusammenleben
Angehörige, die überdurchschnittlich häufig zu wenig Hilfe bekommen, sind Partner (63,9%) und Eltern (48,5%), die mit den Erkrankten zusammenleben, sowie Kinder und Schwiegerkinder (56,5%), die nicht im gleichen Haushalt leben. Vgl. Depression: Angehörige & das unsichtbare Leid & Depression beim Partner: extreme Belastung für die Beziehung
Kritik der Angehörigen am Gesundheitssystem
In der Studie bringen Angehörige deutlich zum Ausdruck, dass sie sich alleingelassen fühlen. Sie bemängeln, ihre ständige Sorge und die damit verbundene Last werde weder von psychiatrischen Diensten noch von der Stadtgesellschaft wahrgenommen. Das Gefühl, dass ihre Leistung – das Auffangen der Defizite des erkrankten Familienmitglieds bis hin zur Absicherung seines Lebensunterhalts – öffentlich wenig Wertschätzung erfährt, verstärkt ihre psychische Belastung noch.*
*Schätzungsweise 40 bis 60 Prozent „aller Angehörigen eines psychisch Kranken entwickeln aufgrund der Belastung deshalb selbst psychische Krankheiten oder sind anfälliger für körperliche Beschwerden wie Bluthochdruck. Studien belegen, dass jeder 2. Lebensgefährte eines depressiv Erkrankten nach einiger Zeit selbst depressive Symptome zeigt.“ (https://www.therapie.de/psyche/info/fragen/angehoerige-psychisch-kranker/artikel/).
Besonders in der Kritik: dass Angehörige von (volljährigen) psychisch kranken Menschen oft von wichtigen Informationen ausgeschlossen werden.
Die Tatsache, dass die Gesellschaft Angehörige von psychisch Kranken kaum wahrnimmt, hängt damit zusammen, dass auch die psychisch Kranken selbst oft ausgegrenzt und ihre Beiträge zur Gesellschaft nicht anerkannt werden. Dieses Problem trifft nicht nur Angehörige von psychisch Kranken, sondern generell alle Angehörigen, welche Pflege für Familienmitglieder oder Partner übernehmen.
Kapitel 4 (ab S. 104) – Arbeit
"Die Teilhabe von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen am Arbeitsmarkt ist im Vergleich zur Münchner Allgemeinbevölkerung deutlich eingeschränkt: Während laut letzter Bürgerbefragung rund drei Viertel (75,3%) der der 18- bis 65-Jährigen Münchner Bürger*innen am Arbeitsleben teilnehmen, trifft dies nur für gut die Hälfte (54,6%) der ZBFS-Befragten zu 24,0%.
Rund 40 % aller Frühberentungen der rentenversicherten Münchner*innen sind mit psychischen Störungen begründet. Psychisch erkrankte und erwerbsgeminderte Personen sind somit „ausgesteuert“. Dass manche von ihnen unter den derzeitigen Bedingungen auch gar nicht mehr am Arbeitsleben teilhaben wollen, ändert nichts am strukturellen Ausschluss.
Neben faktischen Leistungsminderungen im Zuge psychischer Erkrankungen sind es vor allem das Fehlen flexibler(er), erkrankungsadäquater Arbeitszeitmodelle, das Fehlen leistungsadäquater (Einfach-)Arbeitsplätze, und bedürfnisgerechter return-to-work-Programme sowie – entscheidend – die Stereotypisierung Betroffener als generell leistungsschwach, die der Ausgrenzung zugrunde liegen."
(Psychische) Gesundheit und Armut
"Der Zusammenhang zwischen materiellen Notlagen und dem Gesundheitszustand ist in der Forschung seit langem bekannt: Je schlechter die Einkommenslage, desto schlechter der Gesundheitszustand.*
* Landeshauptstadt München (Sozialreferat) (2017: 171-172); Landeshauptstadt München (Sozialreferat) (2022: 225-226) sowie diverse Analysen der Münchner Gesundheitsberichterstattung: https://stadt.muenchen.de/infos/gesundheitsberichterstattung.html
Besonders ausgeprägt ist der Zusammenhang mit Blick auf den körperlichen Gesundheitszustand. Der soziale Gradient zeigt sich aber auch bezüglich der psychischen Gesundheit: Während nur 12,0 % der Personen aus armen Haushalten einen (sehr) guten psychische Gesundheitszustand angeben, sind es bei Personen aus Haushalten der oberen Mitte bzw. aus reichen Haushalten 26,5 %"
Vgl. auch Armut & Depression: gesundheitliche Ungleichheit
"Die geringeren materiellen Handlungsspielräume begrenzen nicht nur die sozialen Teilhabe-Chancen der Betroffenen, sondern wirken ihrerseits als Stressoren. Mit Armut geht häufig eine doppelte Ausgrenzung und Demütigung einer, eine gleichsam verdoppelte Erfahrung des Nicht-Verstanden-Werdens – als psychisch erkrankte Person und als Armutsbetroffene „mit dem Gefühl, in fast allen Lebensbereichen, Bittstellerin zu sein.“
Die reine Alltagsbewältigung rückt noch mehr in den Vordergrund. Die enge Verbundenheit, die viele Betroffene mit anderen psychisch erkrankten Personen spüren (siehe Kap. 6.1.1), hat auch mit dieser doppelten Ausgrenzung zu tun. Diese Stimmen verdeutlichen, dass es bei psychisch erkrankten Armutsbetroffenen zu kurz greift, ausschließlich die psychische Belastung wahrzunehmen und zu behandeln. Armutspolitik und bedarfsgerechte Behandlungsangebote sind zusammen zu denken."
Kapitel 6 (ab S. 161)
Soziale Beziehungen und soziale Teilhabe
Verhaltensweisen, die teilweise durch die Krankheit ausgelöst werden – z. B. Misstrauen, erhöhte Sensibilität, starke Stimmungsschwankungen und Reizbarkeit (siehe Kapitel 2.2.1) – wirken sich oft auf die sozialen Beziehungen der Betroffenen aus. Sie können sowohl das Aufrechterhalten als auch das Knüpfen von sozialen Kontakten erschweren. Häufig ziehen sich die Betroffenen von selbst zurück.
Vgl. Vereinsamung – Was Einsamkeit aus Menschen macht
Psychische Erkrankungen verändern die Art und Weise zu kommunizieren, das Selbstbild und die Bedürfnisse nach sozialen Kontakten. Wenn man dann noch bedenkt, dass sich Menschen wegen erlebter Stigmatisierung und Diskriminierung oft zusätzlich zurückziehen (siehe Kapitel 7), und dass ihre finanziellen Mittel häufig beschränkt sind, was die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben weiter einschränkt (siehe Kapitel 4.4), entsteht ein Teufelskreis der Einsamkeit.
Evtl. auch interessant für dich: Was Armut mit Kindern macht
Viele Betroffene sind einsam
Viele Befragte fühlen sich einsam. Der Bedarf nach Maßnahmen wird besonders klar, wenn man sich vor Augen führt, dass es für einsame Menschen umso schwerer wird, sich aus ihrer Einsamkeit zu befreien, je länger sie sich einsam fühlen. Längere Zeiten der Einsamkeit können das Selbstwertgefühl senken und es zusätzlich schwieriger machen, Chancen zu ergreifen, um mit anderen in Kontakt zu treten.
Vgl. auch Einsamkeit in der Depression – existenziell einsam sein
Es steht außer Frage, dass Einsamkeit ernsthafte Auswirkungen auf die seelische und körperliche Gesundheit hat.
Ausschluss durch andere und selbst gewählter Rückzug verstärken sich oft gegenseitig. Der Rückzug kann sowohl durch die Krankheit selbst bedingt sein als auch eine Folge davon sein, wie Betroffene sich selbst sehen und bewerten, nachdem sie Diskriminierung erfahren haben (siehe Kapitel 7.3.1).
Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft – Das ist Klassismus
Das bedeutet: Der soziale Rückzug Betroffener und der daraus resultierende Mangel an sozialer Teilhabe sollten nicht nur als innere Hürden verstanden werden, sondern vielmehr als durch Erfahrungen geprägte Schutzstrategie, die dabei helfen soll, angesichts eigener Einschränkungen und Diskriminierungserfahrungen besser klarzukommen.
Vgl. auch Langzeitfolgen der Depression – Was von der Krankheit bleibt
Zu wenig Unterstützung
Zudem gaben viele der Befragten an, dass sich ihr Freundeskreis durch die psychische Erkrankung wesentlich verkleinert hat und sie sich aufgrund ihrer psychischen Probleme oft aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen haben. Obwohl die befragten Menschen nicht in einer isolierten Welt leben, in der sie kaum Kontakt zu anderen außerhalb ihres eigenen Netzes haben, zeigt sich doch ein klares Muster: Je schwerer die psychische Erkrankung, desto wichtiger werden die Kontakte zu anderen Betroffenen.
Für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen sind oft nur diese Gleich-Betroffenen (Peers) diejenigen, die sie als gebende und wertschätzende Personen sehen und anerkennen. Im Umgang mit Nicht-Betroffenen fühlen sie sich schnell nur auf ihre Krankheit reduziert.
Es ist keineswegs selbstverständlich, dass es zwischen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und denen ohne zum Kontakt kommt. Das zeigt, dass es an emotionaler Unterstützung und praktischer Hilfe mangelt. Dieser Mangel erschwert auch den Zugang zu professionellen Hilfsangeboten (siehe Kapitel 3).
Kapitel 7 (ab. S 190)
Stigmatsierung und Diskriminierung
Psychische Krankheiten sind in München weit verbreitet (siehe Kap. 2.1.2), trotzdem werden Betroffenen oft stigmatisiert. Die Stigmatisierung macht es schwer, sich selbst zu akzeptieren und verhindert Teilhabe. Menschen mit psychischen Problemen müssen immer auf der Hut sein und viel Energie aufwenden, um gegen die Ungerechtigkeit und falsche Vorstellungen anzukämpfen. Diskriminierung bedeutet dann, wegen der Krankheit wirklich benachteiligt oder ausgeschlossen zu werden. Zudem führt Stigmatisierung zur Internaliserung solcher Vorurteile und dadurch zur Selbststigmatisierung.
Während man gegen Diskriminierung mit politischen Mitteln vorgehen kann, ist das bei Stigmatisierung viel schwieriger. Das andauernde Stigma, das in Deutschland psychisch kranke Menschen betrifft, zeigt das ganz deutlich. Das heißt nicht, dass es keine Fortschritte bei der Bekämpfung dieser Stigmata gibt – aber es zeigt, wie viel Arbeit noch vor uns liegt.
Menschen mit psychischen Krankheiten wissen oft aus eigener Erfahrung, dass viele Leute Vorbehalte oder falsche Meinungen über sie haben. Sie spüren, wie die Gesellschaft sie sieht. Auch wenn Leute, die jemanden mit einer psychischen Krankheit kennen, manchmal vorsichtiger sind, hören Menschen, deren Krankheit nicht so offensichtlich ist, immer wieder harte und verletzende Kommentare über psychische Leiden.
Häufige Vorurteile: mangelnder Leistungsfähigkeit, generellen Unberechenbarkeit, Unzuverlässigkeit. In der Studie kam immer wieder zur Sprache, wie stark Betroffene diese Stigmatisierung spüren und sich daher aus dem sozialen Leben zurückziehen.
Diskriminierung allgemein
Es ist allgemein bekannt, dass psychische Krankheiten und Menschen, die daran leiden, in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert und ausgegrenzt werden. Das spiegelt sich auch in der Studie. Münchner mit psychischen Erkrankungen erleben häufiger Diskriminierung als gesunde Münchner.
Da in den Befragungen nicht speziell nach rassistischen und sexistischen Diskriminierungserfahrungen gefragt wurde, geben die in dieser Studie gezeigten Zahlen wahrscheinlich nicht das ganze Ausmaß der Diskriminierung wieder, die die Befragten wirklich erlebt haben.
In der Arbeitswelt werden Betroffene am häufigsten diskriminiert. Mehr als jede*r 4. sagt, dass er oder sie in den vergangenen 2 Jahren am Arbeitsplatz wegen psychischen Leiden unfair behandelt wurde. An 2. Stelle kommt das eigene private Umfeld, wie Familie und Freunde, und an 3. Stelle der Bereich Gesundheit und Pflege.
Besonders in privaten und im Gesundheitsbereich (Ärzte, Pflegepersonal) sind Mikroaggressionen zu beobachten, die eine negative Wirkung auf Betroffene haben. Zum Beispiel kleine Bemerkungen, abwertende Botschaften und Verhaltensweisen, die eine Person herabsetzen – und das oft, ohne dass sich derjenige, der sie macht, dessen bewusst ist.
Viele, die Diskriminierung erfahren haben, berichten auch von schlechter Behandlung in der Öffentlichkeit, während der Freizeit, beim Einkaufen, bei Dienstleistungen oder auf Ämtern.
Diskriminierung durch Unsicherheit
Wirklich bemerkenswert ist, dass die Studien-Teilnehmer sehr reflektiert über diese Diskriminierungstendenzen berichteten. So sehen sie die fehlende Sensibilität oftmals nicht nur als Resultat unzureichenden Wissens oder gesellschaftlicher Vorurteile. Vielmehr wird sie häufig als Ausdruck der Unsicherheit angesehen – eine Unsicherheit, die bis zur Hilflosigkeit und einem Gefühl der Überforderung führen kann.
“Dies verweist auf die Herausforderungen, denen sich „Entstigmatsierungsaktionen“ gegenübersehen bzw. betont die Bedeutung von Hilfen bei der Stigmabewältgung. Denn: „Irrationalität ist durch Aufklärung und Wissensvermehrung nicht aufzuheben.“ (Finzen 2013, 50).”
Das Phänomen der "Selbststigmatisierung" kommt in den Gesprächen nur selten zur Sprache. Aber das bedeutet nicht, dass Selbststigmatisierung keine großen Auswirkungen hat. Auch wenn jemand nicht mehr krank ist, kann sie verhindern, sich um Arbeit, eine eigene Wohnung, soziale Kontakte oder Beziehungen zu bemühen. Oft ist es nicht die psychische Krankheit selbst, sondern die Selbststigmatisierung, die es den Betroffenen schwierig macht, diese Ziele zu erreichen.*
*"Rüsch & Berger (2012). Ausdrücklich sei betont, dass „Selbststigmatisierung“ ein gesellschaftlich bedingter Prozess ist. Zum einen, weil es – offensichtlich – ohne „öffentliche“ Stigmatisierung gar keine Selbststigmatisierung geben könnte. Zum zweiten, weil Selbststigmatisierung letztendlich „nur“ bedeutet, dass das „Wertesystem aus gesunden Tagen sich gegen sich selbst kehrt“ (Finzen 2013: 65)."
Wichtig: Anti-Stigma-Aktion haben bislang zwar die Einstellungen von Menschen positiv beeinflusst, nicht jedoch ihr Verhalten. Vgl. auch Entstigmatisierung: Was hilft?
Diskriminierung im Gesundheitsbereich
Alarmierend ist, dass gerade in Gesundheits-Einrichtungen für psychisch Kranke berichtet ca. jede 3. bis 4. Person Diskriminierung erlebt. Das zeigt, dass es sich bei solchen Vorfällen nicht nur um vereinzeltes Fehlverhalten handelt, sondern dass diskriminierende Praktiken oft in den Strukturen dieser Institutionen verankert sind. Ähnliche Muster finden sich ebenso in Behörden und Ämtern wieder. Vgl. Stigmatisierung in der Psychiatrie
Kapitel 8 (ab. S. 209)
Schlussfolgerungen
„Es ist offensichtlich, dass die Gruppe der psychisch Erkrankten „nicht als homogene Gruppe betrachtet werden kann. Sie nehmen Hürden oder Zugangsschwierigkeiten teils unterschiedlich wahr und äußern unterschiedliche Bedarfe, die sich auch widersprechen können.“
Angesichts dieser Komplexität erhebt die vorliegende Studie nicht den Anspruch, diese Bedarfe in ihrer Gesamtheit abzubilden oder all die Barrieren, die deren Befriedigung im Wege stehen, zu benennen. Dies wäre vermessen, sofern eine einzelne Studie dies überhaupt leisten könnte.“
(…) „a) Zentral bei der Einbeziehung von Betroffenen (und Angehörigen) ist deren Erfahrung mit psychischen Erkrankungen, dem Hilfesystem sowie mit alltäglichen Teilhabeausschlüssen. Im Sinne der UN-BRK besteht die Herausforderung, nicht nur der Fachwelt eine Expertise zuzugestehen, sondern auch den Betroffenen selbst.
Es geht bei einer solchen Einbeziehung nicht nur darum, Betroffene zu beteiligen und ihre Meinung anzuhören, sondern ihre Erfahrungen und ihr Wissen als Expertise zu nutzen.“
Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik
Quellen:
1) Rathaus Umschau 54 / 2024, veröffentlicht am 15.03.2024
2) muenchen-wird-inklusiv.de_ Koordinierungsbüro zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in München
3) SIM Sozialplanung und Quartiersentwicklung, Studie “sichtbar” – Kurzbericht