Philotherapie: Philosophie als Therapie – eine Alternative?
Philosophie ist die Meta-Wissenschaft aller Wissenschaften. Doch wie gut tut Philosophie der Psyche eines Menschen? Und wie wirkt sie auf kranke Menschen? Kann eine philosophische Praxis die Alternative zu Psychotherapien und Tiefenpsychologie sein? So verquickt die Bereiche auch scheinen, es gibt klare Unterschiede zwischen Philosophie & Psychologie.
Philotherapie – behandeln durch Philosophie
Existenzielle Fragen spielen für die Psychische Gesundheit eine Rolle. Doch hilft es, zu philosophieren und sich so zu therapieren?
Philosophie & Psychische Gesundheit hängen zusammen
Wie stark die Beschäftigung mit der Seinsfragen & weiteren philosophischen Themen mit der Mentalen Gesundheit zusammenhängen rief eine Studie von 2016 (2) in Erinnerug:
Wer Glaubensfragen und Existenzsorgen vermeidet, hat eine schlechtere psychische Verfassung. Die Vermeidung verstärkt sogar Depressionen, Ängstlichkeit und unterschiedlichste Probleme bei der emotionalen Verarbeitung.
Gehören also die Philosophie & therapeutische Psychologie zusammen?
Sind sie austauschbar?
Kann ein Patient in einer philosophischen Praxis adäquat behandelt werden?
Philosophie als Mutter der Psychologie
Was hat Psychotherapie mit Philosophie zu tun? Tatsächlich gibt es da Zusammenhänge. Die Psychologie ist aus der Philosophie hervorgegangen, setzt jedoch auf naturwissenschaftliche Ansätze.
Philosophie & Psychologie inspirieren sich zwar gegenseitig, sind aber nicht zu verwechseln.
Warum werden sie dann aber oft gleichgesetzt? Wieso verstehen sich viele philosophische Praxen als Alternative zur psychotherapeutischen Behandlung? Das hat wahrscheinlich etwas mit ihrer gemeinsamen Geschichte zu tun und ihrer Wechselwirkung.
Allein, wenn man bedenkt, wie Seelenfürsorge von Sokrates definiert wurde. Oder wie Platon in „der Staat“ die Philosophie als den Weg zur Psychischen Gesundheit beschreibt.
Auch vom griechischen Arzt & Philosophen Epikur ist überliefert:
„Wer jung ist, soll nicht zögern, zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren. Denn für keinen ist es zu früh und für keinen ist es zu spät, sich um seine seelische Gesundheit zu kümmern.“
Lange Zeit später im Jahr 1751 spricht der Arzt J. C. Bolten darüber, dass eine psychologische Therapie den Philosophen überlassen werden sollte.
Auch C. G. Jung sah den Psychotherapeuten als philosophischen Arzt und glaubte, dass Mediziner ohne philosophische Kenntnisse keine Psychotherapie durchführen könnten:
„I can hardly draw a veil over the fact that we psychotherapists ought really to be philosophers or philosophic doctors or rather that we already are so“ (4)
Und es gibt noch viele andere große Namen in der Psychologie, die sich auf ebenso berühmte Philosophen berufen. Alfred Adler war ein Fan von Nietzsche und Kant, Viktor Frankl von Kierkegaard, Jacques Lacan von Platon, Kant, Hegel und Heidegger und Donald Robertson von der Stoa.
„Die Aufgabe des Philosophen ebenso wie die des Therapeuten ist es, die Verdrängung wieder rückgängig zu machen und das Individuum wieder mit etwas vertraut zu machen, was er oder sie schon immer gewusst hat.“ (Irvin D. Yalom)
Was ist philosophische Psychotherapie? – Definition & Erklärung
Die philosophische Psychotherapie widmet sich der Untersuchung von existenziellen Seinsfragen mit Bezug auf den einzelnen Patienten.
Dabei geht es nicht nur darum, entsprechende Sinnfragen zu finden und zu beantworten, sondern die Psychische Gesundheit des Menschen wiederherzustellen.
Natürlich steht die philosophische Therapie aber nicht als eindeutiges Schema für sich, sondern umfasst verschiedene Richtungen in der Psychologie. Berühmte Vertreter sind:
Frankls Logotherapie
Viktor Emil Frankl gründete die 3. Wiener Schule der Psychotherapie. Ihm ist es zu verdanken, dass die Psychologie heute auch die geistige Dimension des Menschen umfasst. Laut Frankl ist die Sinnsuche des Menschen von größter Bedeutung für seine Psychische Gesundheit und größte Motivation für sein Handeln & Streben.
Längles Existenzanalyse
Alfried Längle entwickelte Frankls Therapieform weiter zur personalen Existenzanalyse (PEA), bekannt als personale Wende. Hier rücken subjektive Erlebnisfähigkeit, Emotionen und persönlich-biografische Aspekte in den Mittelpunkt der Psychotherapie.
(vgl. Biografiearbeit)
Yaloms existenzielle Psychotherapie
Irvin David Yalom entwickelte die existenzialistische Psychotherapie. Er geht davon aus, dass allein die Beschäftigung mit philosophisch-existenziellen Fragen bereits einen Heilungsprozess auf psychischer Ebene auslöse. Psychische Störungen gründen demnach auf philosophischen Grundkonflikten, einer existenziellen Angst, die einen besonderen Behandlungsansatz benötigen – eben mit Anlehnung an philosophische Praktiken.
Jaspers Phänomenologische Psychotherapie
Karl Jaspers, Psychiater und Philosoph, führte die phänomenologische Psychotherapie (auch verstehende Psychotherapie) ein. Er rückte damit das individuelle Erleben und seine Veränderung bei psychischen Störungen in den Vordergrund (14). » vgl. auch Phänomenologie
Zum Philosophen oder Psychologen – Wer zu wem?
Einige philosophische Praktiker vergleichen sich eher mit Psychologen anstatt Psychotherapeuten. Sie konzentrieren sich aufs dialogische Denken über grundlegende Fragen des menschlichen Lebens. (17)
Konkret geht es beim Philosophen um Fragen wie:
Was ist für mich ein gutes Leben?
Was ist Liebe?
Was bedeutet Partnerschaft für mich?
Was heißt gute Arbeit?
“Das Philosophieren gestaltet sich im Dialog partnerschaftlich, der Vernunft vertrauend, auf Argumenten aufbauend, persönliche Lebenserfahrungen berücksichtigend, die eigene Wahrheit für das Zukünftige findend. Der Dialog zielt auf Anregung für das Handeln zu Reflexion und Selbstbesinnung.” (Dr. Stöhr, 17)
Sicher bedient sich die psychotherapeutische Praxis ähnlichen Elementen wie die Psychotherapie. Auch sie versucht eigene Wahrheiten zu finden, das Denken zu analysieren und dysfunktionale Denkmuster zu korrigieren. Selbstreflexionstechniken (Dankbarkeitstagebuch, Journaling, kreative Tätigkeiten) sind zum Beispiel ein Tool in der Psychotherapie von geistigen Krankheiten.
Unterschiede zw. Philosophischer Praxis & Psychotherapeutischer Praxis
So viele Schnittpunkte & Anleihen es zwischen Philosophie und Psychologie auch geben mag, es gibt auch deutliche Unterschiede.
Ich finde das deswegen so wichtig, weil viele Menschen mit psychischen Problemen glauben, in einer Philosophischen Praxis das humane, tiefsinnigere Pendant zur Psychotherapie gefunden zu haben.
Allerdings geht es in der Philosophie nicht um Therapie im Sinne von Heilung.
“Die Philosophie übernimmt hier Arbeitsbereiche, die vordem Theologen zugefallen waren. Gutknecht spricht denn auch explizit von „philosophischer Seelsorge“ (…)
Einig sind sich die Praktiker aber darin, dass es darum geht, Denkblockaden zu lösen und eine Bewegung des Denkens in Gang zu bringen. Es bestehen viele Möglichkeiten philosophischer Seelsorge, die noch kaum genutzt sind – von der Arbeit im Spital bis zur Arbeit mit Hinterbliebenen.”
Philosophie & Psychotherapie haben unterschiedliche Ansatzpunkte und kommen daher auch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während sich die Psychotherapie auf empirische Grundlagen stützt, sich jedoch auch von der Philosophie inspirieren lässt, arbeitet die Philosophie auf nicht-empirische Weise, auch wenn sie wissenschaftliche Anleihen nutzt.
Philosophie wirft Fragen auf, Therapie hilft Fragen zu beantworten
Einige Betreiber philosophischer Praxen behaupten, es werde philosophisch über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft reflektiert, während sich die Psychotherapie nur ums Individuelle kümmere.
Ganz so stimmt das nicht. Auch in der Verhaltenstherapie oder in der Systemischen Psychotherapie wird der Mensch als Wesen mit 2-fachem Bezug begriffen: einmal zu sich selbst und einmal zur Umwelt bzw. Gesellschaft. Psychotherapie fixiert sich auch nicht auf die bloße Funktion eines Menschen.
Trotzdem hat die Philosophie tatsächlich etwas umfassendes im Blick. Sie versucht Verhältnisse & Zusammenhänge zu klären und alltägliche, unreflektierte Gedanken zu hinterfragen. In der Psychotherapie geht es weniger um das Aufwerfen von Problemkomplexen als um eine individuelle Lösungsfindung, indem sie persönliche Unterschiede berücksichtigt.
Philosophie will das Denken ausloten, Therapie will heilen
Das führt mich gleich zum nächsten Punkt. Eine Psychotherapie ist Behandlung, versucht also einen kranken Menschen zu pflegen und zu heilen. Sie dient damit der psychischen Gesundheit des Menschen & der Lebenshilfe.
Philosophie ist dagegen keine Dienerin menschlicher Seelenfürsorge, sie ist ihr Gegenstand. Philosophie war für Sokrates Seelenfürsorge und ist auch heute mit der Frage verknüpft: Wie lebe ich ein gutes Leben?
Dennoch geht es in der philosophischen Praxis nie um das Finden absoluter Wahrheiten und unumstößlichen Wissens. Viel mehr zeigt sie Möglichkeiten im Denken über das Selbst und die Welt auf und führt so oft zu neuen Fragen.
Möglichkeiten, mit einer Krankheit oder mit krankmachenden Denkvorgängen konstruktiver umzugehen, gibt die Psychotherapie besser und verständlicher an die Hand. Und die Anleitung durch den Therapeuten ist auch wichtig.
Das ist aber etwas völlig anderes als das Reflektieren mit offenem Ausgang, wie es in der Philosophie üblich ist. Die Psychologie fragt nicht, was moralisch vertretbar ist, sondern welche Moralvorstellungen es gibt. Die Philosophie stellt die Moralvorstellungen selbst in Frage.
Philosophie ist keine Selbstverbesserung, Therapie ist Persönlichkeitsentwicklung
Die Philosophische Praxis hat das Ziel, philosophische Ansätze & Methoden einer breiten Bevölkerungsschicht zugänglich zu machen.
Ihr Ziel ist u.a. Vermittlung von Philosophie als Lebenspraxis. Sie hat also nicht die Absicht, die Suche nach Glück, die Frage nach dem Sinn des Lebens oder nach dem Tod mit abschließenden Aussagen zu krönen.
Sie ist nicht dafür da, einem einzelnen Menschen zu Lebenszufriedenheit und Glück zu verhelfen. Vielmehr bemüht sich ein Philosophierender um ein immer wieder neues Fragen, Hinsehen und Abwägung von Überzeugungen und Definitionen. Das Denken ist hier ein Selbstzweck.
Anders in der Psychotherapie: Hier besteht ein bestimmtes Gesundheitsproblem, unter dem der Patient immens leidet, und dieses gilt es mit geleiteten Gesprächen aufzulösen. Die Psychotherapie hat die psychische Gesundheit des Menschen im Blick, sein persönliches Glück, das ist ihr Zweck.
Selbstverständlich gibt es darauf nicht ein und dieselbe Antwort. Jeder Patient braucht eine individuelle Behandlung.
Die Psychotherapie ist die Wissenschaft der Seelenheilung, Philosophie die Wissenschaft der Erkenntnis
Die Psychologie zielt auf einen ganz bestimmten Bereich ab: die Seelenkunde. Dazu zählen neben dem Denken auch Emotionen und physische Mechanismen. In der Philosophie ist das anders, hier geht es um Erkenntnisgewinn mit Hilfe des Verstandes.
Was ist Psychotherapie?
Psychologie bedeutet zu Deutsch „Die Pflege bzw. Heilung der Seele“
Ihre Forschungsbereich ist daher eingeschränkt, es geht ganz spezifisch um seelische Vorgänge. Sie ist eine Spezialwissenschaft.
Ihr Thema ist Wahrnehmung, Emotion, Motivation, Persönlichkeit, Verhalten und Resilienz.
Die Psychologie & Psychotherapie setzt hingegen auf empirische Methoden: messbare Ergebnisse & Statistiken.
Was ist Philosophie?
Die Philosophie ist wörtlich übersetzt die Liebe zur Weisheit bzw. zum Wissen.
Sie hat keinen speziellen Bereich, auf den sie sich konzentriert, sondern ist eine Grundlagenwissenschaft.
Ihre Fragen drehen sich um Werte, Wissen, Existenz usw
Ihre Methode zur Erkenntnis über Mensch und Welt ist das vernünftige Nachdenken und Reflektieren.
Philosophische Lebensberatung in der philosophischen Praxis
“Den Schwerpunkt der Beratung bilden Einzelgespräche. Die Motive für eine solche Beratung können die verschiedensten sein. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Frau, die vor dreißig Jahren ihre Kinder verlassen hatte und nun unter Schuldgefühlen leidet.
Häufige Themen sind Liebe und Probleme am Arbeitsplatz. Im Zentrum steht oft die Sinnfrage, religiöse Themen spielen, wie gesagt, auch eine große Rolle. Für den Praktiker geht es nun nicht darum, seinem Klienten Ratschläge zu geben, sondern mit ihm gemeinsam seine Situation zu beraten.” (16). » Warum Ratschläge wie Schläge sind
Es wird jedoch gerne betont, dass die Philosophie ihre Klienten nicht theoriegeleitet, schematisch versteht (also nicht als “Fall einer Regel”), sondern als eine*n der/die ist.
Die Philosophische Praxis hebt sich ab davon, eine Bildungsvermittlung, medizinische Therapie oder ein spirituelles Angebot zu sein.
„sie (die Philosophie, T.N.) vermindert unsere Gewißheit darüber, was die Dinge sind, aber sie vermehrt unser Wissen darüber, was die Dinge sein könnten.
Sie schlägt die etwas arrogante Gewißheit jener nieder, die sich niemals im Bereich des befreiendes Zweifels aufgehalten haben, und sie hält unsere Fähigkeiten zu erstaunen wach, indem sie uns vertraute Dinge von uns nicht vertrauten Seiten zeigt.“
(Betrand Russel, Probleme der Philosophie)
Philotherapie – Philosophie als Therapie
Philosophie wurde seit Sokrates zwar immer wieder als Lebenspraxis verstanden, ist aber nicht auf therapeutische Ziele ausgerichtet. Die Philotherapie nimmt für sich in Anspruch, eine Verschmelzung von Psychotherapie und Philosophie zu bieten, um mit philosophischen Methoden einen psychischen Heilungsprozess einzuleiten.
Der philosophische Psychotherapeut stößt nicht nur das kritische Denken an, sondern besitzt auch psychologisches Wissen. Das Ziel: individuelle Erkenntnisse für ein erfülltes & authentisches Leben herausarbeiten.
Die Philotherapie ist eine Sonderform der philosophischen Praxis. Die Disziplin ist so jung, dass wissenschaftliche Belege für ihre Wirksamkeit fehlen. Therapieversprechen darf daher keine Philotherapie machen.
Für wen ist die philosophische Psychotherapie geeignet?
Philotherapie ist keine gängige Psychotherapie und damit nicht für jeden Betroffenen geeignet. Geht es jedoch wirklich um weltanschauliche Probleme, alternative Lebensentwürfe und Fragen über die Existenz bzw. existenzielle Angst (Teil 2), dann ist eine philosophische Psychotherapie eine Möglichkeit.
Eine Philotherapie kann nicht von jedem x-beliebigem Philosophen angeboten werden. Es braucht neben dem Philosophie-Studium eine offizielle Legitimierung zum Psychotherapeuten. Oder anders herum: neben dem Medizin bzw. Psychologie-Studium und therapeutischer Qualifikation nachgewiesene Kenntnisse in der Philosophie.
Quellen:
1) Psylex: Existentielle Psychologie
2) Julie Exline et al: Die Unterdrückung, Vermeidung existentieller Fragen, Glaubensfragen und die psychische Gesundheit
3) Christof Goddemeier: Psychotherapie und Philosophie: Der optimierte Mensch und das gute Leben
4) Paolo Raile: Die philosophische Grundlage der Psychotherapie: ein Plädoyer
5) DGPPN: Philosophische Grundlagen in der Psychiatrie und Psychotherapie
6) Dr. Cornelia Bruell: Warum sich die Gäste in der Philosophischen Praxis nicht auf die Couch legen
7) Dr. Wernher P. Sachon: Psychotherapie und Philosophie
8) Spektrum Lexikon der Psychologie: philosophische Psychologie
9) gedankenwelt.de: Was ist das Verhältnis zwischen Philosophie und Psychologie?
10) Martin Poltrum und Michael Musalek: Philosophische Therapie und therapeutische Philosophie – Philosophische Reflexion als Medikation der „metaphysischen Obdachlosigkeit“
11) Alfried Längle: Grundprinzipien der existenziellen Psychotherapie
12) Ania Mauruschat: Denken als Therapie – Besuch in einer philosophischen Praxis
13) neo: Die Trennung von Philosophie und Psychologie
14) Dr. Thomas Fuchs: Jahresbericht: Arbeitsgruppe Phänomenologische Psychopathologie und Psychotherapie
15) philos.de: Philotherapie – Philosophische Beratung und Therapie
16) Peter Moser: Berufsfeld philosophische Praxis. Über verschiedene Versuche, eine Ausbildung zum philosophischen Praktiker bzw. Praktikerin anzubieten.
17) Dr. Hans-Jürgen Stöhr: Zum Psychologen oder Philosophen?