Schamkrankheiten – toxische Scham: Ich schäme mich für mich
Schamgefühle sind normal & wichtig, doch können auch zu einer Schamkrankheit auswachsen. An sich hat Deine Scham wichtige Funktionen, solange sie nicht ausufert. Bei Schamkrankheiten ist das anders: hier beherrscht Dich eine toxische Scham und bildet den Nährboden für psychische Störungen aller Art.
Scham & Schamgefühle
Schamgefühle haben einen Zweck, Schamkrankheiten nicht. Doch warum schämen wir uns & wann ist die Scham krankhaft?
Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik
Von Scham zu sprechen ist beschämend
Scham zuzugeben und Schamgefühle auszuhalten, ist keine einfache Sache. Vielleicht sogar die Schlimmste. Doch nicht jeder Mensch empfindet gleichermaßen Scham für eine Sache oder sich selbst.
Tatsächlich kann Scham so krankhaft werden, dass manche von toxischer Scham sprechen oder Schamkrankheit.
Vom Psychoanalytiker Michael Titze heißt es in der FAZ (5): „Als er vor mehr als dreißig Jahren als Psychotherapeut anfing, plagten Schamgefühle jeden fünften seiner Patienten. Heute, schätzt er, seien sie für mindestens jeden Dritten ein großes Thema. Die Gedanken der Patienten kreisten dann unentwegt um die eigene Person und die eigenen Fehler, sie schämten sich ihrer selbst.“
Aber was passiert da eigentlich, dass Scham so gewaltig ist? In den meisten Krankheitsfällen liegt eine Kluft zwischen Deinem Ich und dem Ich-Ideal vor. So heißt es jedenfalls. Du schämst Dich für Dich selbst – und das nicht nur ein bisschen. Sondern ganzheitlich: Dein Leben, Dein Wesen und Deine Person betreffend.
Scham & Schamgefühle – Definition
Leider wird Scham von vielen “Mental Health Experten” verurteilt und als schlecht dargestellt. Dabei ist Scham ein wichtiges Grundgefühl des Menschen und erst einmal in seiner Sinnhaftigkeit neutral, genau wie Liebe, Trauer oder Wut auch.
Scham ist also nichts, was ausgemerzt gehört.
Funktion der Scham
Die Funktion der Scham liegt im zwischenmenschlichen Bereich und im selbst-reflexiven Bereich, auf beiden Ebenen dient sie zur Regulation.
Das Schamerleben trägt zur sozialen Anpassung bei, ein wichtiger Faktor für den Zusammenhalt sozialer Gruppen, wie wir es als Mensch nun mal sind.
Und Scham hat Anteil daran, dass Du eine individuelle Persönlichkeit entwickeln, aber auch authentisch bleiben kannst.
Scham geht eng mit anderen Gefühlen einher, darunter:
Entwertung & Entwürdigung (Erniedrigung)
Sozialer Ausgrenzung & Ablehnung
Angst & Furcht
Scham hat auch etwas mit Kontrollverlust bzw. der Angst vor Kontrollverlust zu tun. In jedem Fall sind Schamgefühle sehr komplex und dabei ebenso mächtig.
Ist uns Scham angeboren oder anerzogen?
Die Gretchenfrage in der Schamforschung. Und nicht mit Sicherheit geklärt. Während die einen Wissenschaftler meinen, dass sich bereits Babys schämen können, denken andere, dass sich schämen erst im 18. Lebensmonat möglich ist, wenn soziale Regeln halbwegs verstanden werden.
Körperliche Merkmale der Scham
Als Gefühl haben Schamgefühle immer eine körperliche Komponente, die sich automatisch einschaltet. Dazu gehören:
Erröten
Herzrasen
schnellerer Atem
Stottern
Zittern
Schwindel
Muskelanspannungen
Flucht
Beklommenheit
Das Senken des Kopfes
Wegblicken (Blickscheue)
Sprechen mit leiser Stimme
Verlegenheit
Scham erzeugt Stress im Körper
Das alles sind klassische Stress-Symptome. Das liegt daran, dass Schamgefühle in Dir tatsächlich emotionalen und physischen Stress hervorrufen. Der Körper stellt also auf Kampf- oder Fluchtmodus um, da er eine Gefahr wahrnimmt. Scham ist in diesem Sinne ein Schutzmechanismus.
Wann entsteht eine Scham-krankheit?
Ursachen & mögliche Gründe für toxische Scham
Michael Titze ist überzeugt: „Gesellschaftliche Werte wie zum Beispiel Solidarität sind allgemein relativiert worden. Heute zählt vor allem eines: der persönliche Erfolg.“ (5) Und deswegen ist die Scham individualisiert und mehr geworden.
Vor allem als Mensch mit psychischen Störungen erlebst Du Schamgefühle als überwältigend, Du bist also in einer toxischen Scham gefangen.
Hier liegen meist traumatische Erlebnisse zugrunde, die Dich in einer Spirale der Minderwertigkeit festhalten. Es funktioniert aber auch andersherum: Psychische Krankheiten lösen ebenfalls Scham aus und den Wunsch, das Selbst vor anderen zu verbergen.
Doch auch hochsensible Menschen und vielbegabte Personen entwickeln abnorme Scham für sich selbst. Genauso wie Betroffene von körperlichen Krankheiten, allen voran Hauterkrankungen, Krebs oder AIDS.
Allein gemeinsam ist: ihre Andersartigkeit.
Die Unterschiede, die Du zu den meisten anderen Menschen aufweist und die Dich Dein Selbst als anormal erfahren lassen.
Kinder erleben Scham durch Verneinungen und Kritik der Eltern – was erst einmal nichts Negatives ist, sondern die Sozialisierung fördert. Halten abweisende Verhaltensweisen von Eltern aber länger an, dann kann eine krankhafte, toxische Scham entstehen. Ein Minderwertigkeitsgefühl, das Dir immer und überall sagt, dass Du als Mensch und Mann/Frau nicht genügst.
Was sagt die Philosophie über Scham?
Kommt ganz darauf an, in welcher Kultur und welchem Jahrhundert. Hesiod, ein Vorgänger der antiken Philosophen, denkt sich die Scham als verinnerlichtes Normbewusstsein, sie ist die innere Entsprechung zu objektiven Rechtsnormen.
Aristoteles konnte sich dagegen nicht recht entscheiden. Schamgefühle bilden für ihn die goldene Mitte zwischen Schüchternheit und Schamlosigkeit. Scham ist für ihn weder ein Ideal noch ein Makel, sondern ein Phänomen mit gesellschaftlichem Bezug.
Platon geht in seinem Dialog Protagoras auf Scham & Schuld ein: Hermes hätte den Menschen Scham und Scheu gebracht, um sich vor der Selbstzerstörung zu bewahren. Bei Platon ist Scham eine politische Tugend (so Adorno).
Friedrich Nietzsche schlägt da ganz andere Töne an: Er postuliert eine Befreiung von Schamgefühlen vor sich selbst, damit der Mensch Freiheit erlange. Allerdings hat er dabei vor allem moralische Instanzen, wie die Kirche, oder menschliche Konventionen im Blick, die zu seiner Zeit das Leben des Individuums extrem einschränken konnten.
Sartre sieht Scham aus dem Existentialismus heraus ebenfalls als negativ an. Scham ist für ihn Selbstentfremdung, ein verdinglichtes Für-andere-Sein. Zu bedenken ist dabei auch der zeitliche Kontext: 1943 waren andere Normen an der Tagesordnung, die wenig Raum für unseren heutigen Individualismus boten.
Von diesem Sich-Selbst-Fremd-Sein sprechen auch Psychologen, Therapeuten u. v. m. Und wie Sartre richtig bemerkte, geht es um den Übergang vom Individuum zur Gemeinschaft. Scham also zwischen Ich und Norm, Innen und Außen.
Von der Schamkultur hin zur Schuldkultur
Scham ist zwar ein basales Gefühl, doch in seiner Ausprägung und seinen Inhalten, also den Dingen, wofür Du Dich schämst, abhängig von zeitlichen Vorstellungen über Moral & Normalität.
Scham wird also in jedem Jahrhundert neu geformt.
Fachleute sprechen von einer früheren Schamkultur, damals konntest Du als Einzelner noch Schande über die gesamte Gemeinschaft bringen, wenn Du entgegen der gängigen Haltungen & Ansichten agiert hast.
Heute leben wir in einer Schuldkultur, das bedeutet, Du als Individuum trägst Schuld & Scham, nicht mehr Deine Gemeinschaft.
Übrigens sind Schuld & Scham eng aneinander gekoppelt. (Vgl. Schuldgefühle bei Depressionen)
Schamschwellen sind also nicht während der Menschheitsgeschichte höher oder niedriger geworden (Elias-Duerr Debatte), sondern verschieben sich (15).
Richtig ist auf jeden Fall, dass Scham sich wandelt – je nach den Moralvorstellungen der Zeit. Trendverstärker für das, was man tut und trägt, sind in der Gegenwartsgesellschaft die Massenmedien.
Zum Beispiel sorgen sie für ein verändertes Frauenselbstbild (vgl. toxische Weiblichkeit) in modernen Gesellschaften, wie Michael Raub betont.
So waren Frauenzeitschriften früher von Haushalts-Tipps gespickt, heute fokussieren sich derartige Magazine auf Körperpflege, Schönheit und erotische Ausstrahlung der Frau.
„Die moderne Frau braucht sich nach heute geltenden Konventionen nicht mehr zu schämen, wenn die Wohnung einmal unaufgeräumt ist oder wenn sie spontan mit einem neuen Bekannten ins Bett geht,
aber es wäre höchst peinlich, wäre die Frisur nicht bis zum Abend perfekt, wäre die Frau nicht ‚top‘ gekleidet – einschließlich entsprechender Dessous, denen auf keinen Fall angemerkt werden darf, daß sie vielleicht schon einige Stunden getragen wurden! –, machte sich Körpergeruch bemerkbar, wäre der Körper nicht entsprechend epiliert und anderes mehr.“ (13)
Ich halte die Unterscheidung von Schamkultur und Schuldkultur nicht für falsch, aber sie ist mir doch zu theoretisch. Auch wenn sich seit Jahrhunderten die Individualisierung immer weiter ausgebreitet hat, Schamkultur kennt auch unsere westliche Gesellschaft nur zu gut und öffentliche Beschämung ist immer noch ein oft genutztes Instrument.
Schamkrankheiten – Ich schäme mich für mich selbst
Der Begriff Schamkrankheit ist kein klinischer Fachbegriff, wird aber von einigen Fachleuten trotzdem benutzt.
Das Wort ist eher ein Sammelbegriff für all jene psychischen Störungen, hinter denen sich die Scham maskiert.
Die klassische Schamerkrankung ist zum Beispiel die soziale Phobie oder die Depression. Noch genauer auf den Punkt gebracht: Jede, wirklich jede psychopathologische Problematik besitzt eine eigene Schamdynamik.
Schamerkrankungen haben wiederum nichts mit gesunder, normaler Scham zu tun. Schamgefühle gehen bei psychischen Krankheiten weit über die herkömmliche Regulationsfunktion der Scham hinaus. In diesen Fällen ist das Gefühl der chronischen Scham so überwältigend und übermächtig, dass sie Dein Denken und Verhalten leidvoll beherrschen.
Menschen, die an Schamkrankheiten leiden, haben Angst:
von anderen gekränkt zu werden
sich bloßzustellen
von anderen abgelehnt zu werden
abnorm zu sein
andere zu enttäuschen
sich vor anderen lächerlich zu machen
Hier wird Scham zu etwas Umfassendem, das den gesamten Wert als Mensch betrifft. Bist Du wie ich betroffen, hast Du ein Selbstbild verinnerlicht, das Dir vorspiegelt, nicht so wie Du bist oder als Persönlichkeit nicht in Ordnung und nicht normal zu sein oder den Ansprüchen der Gesellschaft nicht zu genügen. (Vgl. Depression & Gesellschaft)
Scham ist heute auch überwiegend auf körperliche Merkmale bezogen. Warum das so ist, hat der Soziologe Sighard Neckel treffend ausgedrückt:
„In der modernen Gesellschaft, die den Körper als die letzte Sinnprovinz der eigenen Existenz zelebriert, kommt ihm die symbolische Bedeutung zu, gleichsam das entscheidende Repräsentativorgan der Person zu sein.
Gesund oder krank, schön oder hässlich, gepflegt oder verkommen, schlank oder dick auszusehen, wird der Person als sichtbarer Ausdruck innerer Wesensmerkmale angerechnet, als Verdienst oder Makel des eigenen Seins“ (15).
Welche Schamkrankheiten gibt es?
diverse Angststörungen
Ess-Störungen
Zwangsstörungen
Suchtkrankheiten
Depressionen
Borderline
Narzissmus
Schizophrenie
Dissoziale Persönlichkeitsstörungen
usw.
Fazit: Schamkrankheiten (toxische Scham)
Scham ist der selbstreflexive Affekt schlechthin. Er führt dazu, dass wir uns immer wieder kritisch sehen und uns fragen: „Wie erleben mich andere?“, „War mein Verhalten angemessen?“, oder „Wie kam ich beim anderen an?“
In Maßen dient diese von Schamangst gesteuerte Überprüfung des eigenen Erlebens und Verhaltens der sozialen Anpassung: Wir versetzen uns in die Perspektive anderer und überlegen, ob wir uns beim nächsten Mal eventuell anders verhalten sollten.
Solange dies der Entscheidung des Ichs unterliegt, wir uns also auch gegen Konformität, den vermuteten Anpassungsdruck oder die soziale Erwünschtheit entscheiden können, verfügen wir als Individuen über innere Freiheit.
Die „klassische Schamkrankheit“ ist die soziale Phobie. Menschen mit sozialer Phobie fürchten, von anderen abgelehnt oder als lächerlich und inkompetent empfunden zu werden, irgendwie falsch zu sein oder wegen ihres Äußeren auf Ablehnung zu stoßen. Insofern handelt es sich um eine Externalisierung eigener innerer Strenge, einer verfolgenden Gewissensinstanz, die sehr hartnäckig projektiv bei den anderen verortet wird.
Vgl. auch: Angst verstehen – Angststörungen mit Philosophie erklärt
Quellen:
1) Dr. med. N. Schmitt : Schamerkrankungen
2) Krank.de: Scham
3) Dr. Dr. med. Herbert Mück: Scham-Entstehung
4) Dr. med. Gabriele Schöck: Scham (DGBS)
5) Julia Lauer: Mensch, schäm dich!
6) Dipl.-Psych. Micha Hilgers: 5 Fragen an…. (Report Psychologie)
7) Anne Heintze: Stopp: Toxische Scham vergiftet deine Seele
8) Dami Charf: Wie Scham entsteht – der Unterschied zwischen gesunder und toxischer Scham
9) Paracelsus Recovery: Scham und PTSD: Ein zerstörerisches Paar von Emotionen
10) Dorsch Hofgrefe Lexikon der Psychologie: Scham
11) Johanna Stapf: Darum schämen wir uns
12) Ingrid Kupczik: Warum Scham eine gute Sache ist
13) Michael Raub: Scham – ein obsoletes Gefühl? Einleitende Bemerkungen zur Aktualität eines Begriffs
14) Dipl.-Psych. Micha Hilgers: „Scham – behandlungstechnische Aspekte“ (Vorlesungsskript)
15) Andrea Köhler: Die Scham – Eine Spurensuche (Essay)