Schuldgefühle bei Depression – permanente Selbstvorwürfe & Scham

Schuldgefühle bei Depressionen sind überaus häufig und sogar typisch für die Krankheit. Dazu muss nicht einmal eine konkrete Schuld vorliegen, allein die Krankheit besetzt diesen Platz und redet Dir Schuldgefühle ohne Schuld ein. Oft verbirgt sich dahinter auch tiefe Scham.

Schuldgefühle bei Depression

Schuldgefühle & Selbstvorwürfe

sind „normal“, aber nehmen bei Depressionen monströse Züge an.

 

Depressive Schuldgefühle sind typisch

Schuldgefühle sind bei Depression so häufig, dass sie zu den Diagnose-Kriterien der Krankheit zählen (6). Als depressiver Mensch quält Dich immerzu ein schlechtes Gewissen, das Dich regelrecht mit anklagenden Selbstvorwürfen überschüttet. Manchmal, ohne zu wissen, warum Du Dich so erbärmlich schuldig fühlst (Stichwort: Schuld ohne Schuld).

Andererseits stürmen Selbstbeschuldigungen (self-blaming) über Dich herein, sobald irgendetwas missglückt. Und sei es nur, dass Du es nicht schaffst, den Haushalt zu machen oder jemand schlechte Laune hat.

 

Schuld als persönliches Versagen

Vor allem Dein Krankheitszustand ist für Dich eine absolute Schuld, so tiefgehend und existenziell, dass Du glaubst, das Leben nicht verdient zu haben, Deiner Familie & Deinem Partner nicht zu genügen. Schließlich leidest nicht nur Du unter Deiner Depression, sondern auch Dein gesamtes Umfeld bis hin zu den Kollegen.

Jeder Missstand, jedes Nicht-Leisten-Können wird zum offensichtlichen Zeugnis Deiner Wertlosigkeit & tiefsten Schuld – jedenfalls durch die Brille der Depression gesehen.

 

Depressive Schuldgefühle haben 2 Seiten:

sozial-nützlich & individuell-plagend

Schuldgefühle zeichnen sich auf zweifache Weise aus

1. haben sie eine sozial-nützliche Seite, die zum Beispiel zu Entschuldigungen oder einer Wiedergutmachung führt und auf diese Weise den sozialen Zusammenhalt stärkt.

Zum 2. hat Schuld eine sehr unangenehme und belastende Wirkung für Dich als Betroffene oder Betroffener. Die Last kann dabei so groß werden, dass sich psychische Probleme ergeben.

 

Depression & Selbstverurteilung:

„Ich bin schuld, nicht krank“

Schuld und Depression

Einige Mediziner sprechen bei Depressionen von einem Schuld- und Versündigungswahn.

Jetzt nicht in dem Sinne, dass Du in einer Depression halluzinierst. Sondern, dass Dein depressiven Gedanken wie ein teuflischer Zeigefinger immer wieder auf Dich deutet.

Du fühlst Dich als depressive Person zutiefst schuldig an Deinem eigenen miserablen Zustand.

 

Psychische Depressionssymptome

Diese Selbstbeschuldigungen sind ein Krankheitszeichen, das sich leider nicht einfach abschalten lässt. Bei einigen Betroffenen ist es sogar so schlimm, dass sie jegliche Hilfe ablehnen und sich nicht helfen lassen wollen, da sie ja die Ursache für ihr gesamtes Leid im eigenen Charakter und Leben sehen.

In diesen Fällen wird die Depression vorrangig als eine Art Bestrafung verstanden anstatt sie als psychische Störung anzusehen.

 

Selbstbeschuldigung & Autoaggression

Du verurteilst Dich dafür, dass es ist, wie es ist.

Meist mit dem Gedanken, Du hättest nicht alles versucht, seist zu schwach, zu dumm, zu hässlich usw. Selbstbeschuldigungen nehmen in einer Depression eine sehr aggressive Fratze an: sie sind zutiefst verletzend, beleidigend und grausam.

Zusammen mit den Gedankenschleifen rauben sie den Schlaf und zermartern auf Dauer. Vgl. auch Depression: Aggressionen in 50 % aller Fälle

 

Je schwerer die Depression, desto stärker auch die Schuldgefühle. In einigen Fällen sind sie so gravierend, dass sie unerträglich erscheinen… und depressive Menschen in den Selbstmord treiben. (vgl. Selbstmordgedanken) So extrem sind die Gedanken & Gefühle über Schuld, oft verbunden mit vernichtender Scham.

 

Depressive Selbstbeschuldigung:

„Ich bin an allem schuld“

Selbstbechuldigung

Fremde Not, frühere Ereignisse, aktuelle Katastrophen – das alles ist nur Deiner Schwäche und Lebensunfähigkeit zu verdanken.

Leider verwechseln das viele Außenstehende mit einer Art Egozentrik, Heischen nach Aufmerksamkeit oder Selbstmitleid.

Diese Idee greift aber viel zu kurz: Ja, das Denken von Depressiven ist auf sich und ihr Inneres ausgerichtet. Eben ein krankhaftes Denken.

 

Übergeneralisierung von Verantwortung

Das heißt aber nicht, dass Du als depressiver Mensch egoistisch bist. Ganz im Gegenteil: Du lädst sämtliche Verantwortung auf Dich. Dein Gehirn nimmt nur noch das Negative wahr oder verkehrt alles Gute in Deinem Leben ins Schlechte. Dabei verknüpft es alles Mögliche mit Deinem Selbstwert als Mensch & Person.

Katastrophisieren ist ein Denkmuster bei Depressionen, das Dich immer wieder in einen Gedankenkreis aus Angst, Selbstbeschuldigung & Scham zieht.

 

Die Depression sucht sich ihr Material

Egal ob frühere Erfahrungen oder aktuelle Ereignisse, egal ob unbedeutend oder lustig – die Depression packt sich alles, was ihr unter die Krallen kommt und verzerrt es in ein groteskes Bild, das sich Dir immer wieder aufzwingt. Darum wirken depressive Gedankengänge für gesunde Menschen oft überzogen, grundlos und unlogisch.

In Deinem depressiven Welt- und Selbstbild bist Du der Dreh- und Angelpunkt für alles Negative, alles Schlechte und alles Unzureichende. Klingt nach einem schlechten Traum? Ja, fühlt sich für einen depressiven Menschen aber verdammt real an!

Oder besser gesagt: Dieses Prinzip bildet die Realität von depressiven Menschen.

 

Schuldgefühle & Self-Blaming in der Psychologie

Selbstbeschuldigung oder engl. self-blaming ist ein geistiger Mechanismus (3): Etwas passiert und Du schreibst Dir im Nachhinein die Verantwortung dafür zu. Unter normalen, nicht-krankhaften Umständen, ist dieser kognitive Trick durchaus sinnvoll.

Übernimmst Du Verantwortung, dann kannst Du auch deine Kontrollmöglichkeiten besser wahrnehmen. Das soll Dir bei zukünftigen Ereignissen helfen, diese von Vornherein richtig einzuschätzen und Dein Verhalten entsprechend anzupassen.

 

Selbstbeschuldigung schafft Illusion der Kontrolle

Leider hat das Ding negative Effekte bei psychischen Belastungen bzw. Störungen. Zum Beispiel geben sich Vergewaltigungsopfer selbst Schuld am Übergriff auf ihre Person. Das erzeugt die Illusion von Kontrolle, so dass beim nächsten Mal eine Vergewaltigung verhindert werden könne.

Ein ähnlicher Film läuft in Deinem Kopf ab, wenn Du depressiv bist. Du hast große – ach was, monumentale Schuldgefühle, weil Du die Erwartungen der anderen nicht mehr erfüllen kannst. Deine eigenen Erwartungen nicht mehr erfüllst.

Da die Depression für Dich und andere aber nicht greifbar und visuell erfassbar ist, sucht Dein Denken nach einem Schuldigen. Und das ist Dein Versagen als Mensch.

 

Schuldgefühle haben eine Funktion

Warum machen wir so was? Also Schuld suchen?

Liegt an unserem schlauen Geist 😉 Es ist darauf ausgerichtet, überall nach Ursachen und Gründen zu suchen. Das hilft nämlich, wie oben erwähnt, Fehler in Zukunft zu vermeiden, wenn ähnliche Situationen auftreten.

Außerdem haftet der Schuld ja ein sozialer Faktor an: gemeinsame Normen & Regeln unterstützen das Zusammenleben in einer funktionierenden Gemeinschaft.

Schuldgefühle sind damit eine biologische Grundausstattung, die wir zur Motivation benötigen, um Schuld bzw. Regelverletzungen zu vermeiden. Evtl. auch interessant für Dich: Psychosoziale Faktoren der Depression – Stress & Überforderung als Auslöser.

 

Hinter Schuldgefühlen können aber auch andere Gründe stecken:

  • negative Glaubenssätze aus der Kindheit (Minderwertigkeitskomplexe)

  • ständige Schuldzuschreibungen durch toxische Beziehungen

  • Schutzmantel-Phänomen: Verdrängung von Trauer, Ohnmacht, Angst etc. (vgl. Depression als Schutz-Mechanismus?)

  • traumatische Erlebnisse

 
Schuld oder Scham

Schuld oder Scham – woraus speist sich das depressive Schuldgefühl?

"Schuldgefühle haben einen konkreten Anlass, die Menschen haben etwas getan, was sie nicht tun wollten oder sollten, und wollen das möglichst schnell wiedergutmachen",

sagt Karen Kocherscheidt, Psychotherapeutin am Zentrum für psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums Heidelberg.

"Bei der Depression tritt besonders klar hervor, dass hinter dem, was Menschen für Schuldgefühle halten, in Wahrheit eine tiefere Scham steckt, der viel schwerer beizukommen ist (...)".

 

Schuld & Scham zählen zu den moralischen, sozialen Gefühlen

Wobei Scham bei Depressionen ebenso an der Tagesordnung ist und sich mit diffusen Schuldgedanken verquickt, wie:

  • Ich bin ein schlechter Mensch, weil…

  • Ich bin ein totaler Versager, weil….

  • Ich bin es nicht Wert, zu dieser Gemeinschaft zu gehören, weil...

 

Die Unterschiede zwischen Schuld und Scham liegen im Ansatz: Schuld ist Folge einer negativen Bewertung von Verhalten (Das habe ich falsch gemacht), Scham ist Folge einer negativen Bewertung des eigenen Selbst (Ich bin ein schlechter Mensch).

 

Schuldgefühle ohne Schuld

Falsche Schuldgefühle bei Depressionen

Schuldgefühle ohne Schuld bei Depression

Beim Psychiater und Neurobiologen R. M Bonelli heißt es, Schuldgefühle sind ein Alarmsignal, ähnlich wie Schmerzen. Während Dir Schmerzen zeigen, dass Dein Körper verletzt ist, zeigen Schuldgefühle einen sozialen Schaden an.

Zitat Bonelli: "Normalerweise hat man aber Schuldgefühle, weil man schuldig geworden ist. Es ist völlig normal, schuldig zu werden. Das menschliche Leben besteht darin, Unrecht zu erleiden und Unrecht zu tun.

Schuldbewusstsein, Schuldgefühle, Gewissensbisse und ein schlechtes Gewissen sind an und für sich Zeichen für psychische Gesundheit." (9)

 

Pathologie der Gefühle

Bei einer psychischen Störung erhält das Ganze noch einmal eine andere Dimension: Phantomschmerzen deuten auf eine Fehlfunktion des Nervensystems hin.

Ähnlich verhält es sich mit pathologischen Schuldgefühlen: Schuldgefühle, ohne Schuld quasi.

Es ist zumindest neurobiologisch bewiesen, dass Menschen mit (Major) Depressionen stärker als psychisch „gesunde“ Menschen auf Schuldgefühle reagieren (14). Ob die überbordenden Selbstvorwürfe & Selbstbeschuldigungen die Mit-Ursache oder Symptom der Depression sind, bleibt wissenschaftlich noch unklar (15).

 

Philosophie über depressive Schuldgefühle

In der philosophischen Interpretation zeigen sich Schuldgefühle bei Depressionen gleichzeitig mit einer Störung von Zeitlichkeit: Die Vergangenheit erhebt sich zu einer monumentalen Präsenz, die jedes Missgeschick, jeden Fehler, alle Versäumnisse und negativen Erinnerungen ausgräbt und als absolute Schuld in den Fokus rückt.

Vgl. Depression: gestörtes Zeitgefühl – Zeitverlust oder Stillstand

 

Depression & Schamgefühle

Die klassische „Schamkrankheit“ ist eigentlich die soziale Phobie. Doch die meisten Therapeuten sind sich einig, dass auch bei Depressionen ein Schamgefühl hinter den Selbstbeschuldigungen steckt.

Wenn Du Scham empfindest, dann hat das etwas mit der Herabsetzung Deines Selbstwerts zu tun. Bei Depressionen verachtet und verhöhnt Dich Deine eigene Wert-Instanz (um es bildlich auszudrücken).

 

Scham ist wie Schuld ein universelles Gefühl

ein Selbstaffekt, sehr individuell. Und ebenso wie die Schuld wirkt gesunde Scham selbstregulativ und gleichzeitig sozialregulativ (12).

Die Schuld in der Depression

Experte Dr. Micha Hilgers sagt dazu: „Scham ist das Gefühl, dass uns auffordert, unsere Konzepte vom Selbst, den anderen und der Umwelt immer wieder zu aktualisieren, im günstigen Fall so, dass man selbst und das soziale Netzwerk profitieren.

Von dieser normalen Scham sprechen wir bei Depressionen aber nicht mehr.

Ich selbst beschreibe meine Scham, vor jemanden zu weinen, oft als „Gesichtsverlust“, eine Demütigung, in der alle Hüllen fallen und Du bloßgestellt und wehrlos bist.

Du bist ohnmächtig dem Gegenüber ausgeliefert und verlierst jede Kontrolle über Dich und die Situation.

 

Schämst Du Dich, dann wirst Du Dir selbst seltsam fremd

Die Schamgefühle sind dann so überwältigend, dass Du sie nicht mehr zur Selbstreflexion nutzen kannst. An diese Stelle tritt nämlich die Selbstbeschuldigung und Selbstverurteilung.

Vernichtend, unheimlich und erbarmungslos.

 

Schuld- und Schamgefühle bei Depressionen – Was hilft?

Was hilft bei depressiven Schuldgefühlen

Das ist leider nicht so einfach zu beantworten. Bei Depressionen gibt es immer Gründe, warum Dein Selbstwertgefühl brüchig und schwach ist.

vgl. kein Selbstwertgefühl – Symptome & Übungen

Und die liegen meist tief vergraben, kommen aus der Kindheit oder anderen Erfahrungen, die nur schmerzhaft an die Oberfläche getrieben werden können.

Grundsätzlich braucht Scham und die damit verbundene Schuld jedoch viel viel Arbeit. Also eine intensive Psychotherapie, in der alle Faktoren aufgearbeitet werden können.

 

Bitte hole Dir psychotherapeutische Hilfe

Je besser die Therapie verläuft, umso schwächer werden auch Deine Scham- und Schuldgefühle, das kann ich Dir aus eigener Erfahrung sagen. Bitte nimm’ Dir diese Hilfe 🙏

Du brauchst sie und hast sie verdient! Nicht nur weil Du krank bist, sondern weil Du ein Mensch bist, mit allen Ecken und Kanten, die dazugehören.

 

Quellen:
1) Mediclin Kliniken Bad Wildungen: Depressionen erkennen und behandeln: Eine Hilfe zur Selbsthilfe (PDF)
2) Rehabilitations- & Präventionszenrum Bad Bocklet: Depression: Symtpome – Anzeichen von Depressionen
3) Spektrum Lexikon der Psychologie: Selbstbeschuldigung
4) Christian Schwägerl: Die Macht des Gewissens
5) Dipl.-Psych. Susanne Ackermann: Depression – ein Fallbeispiel (PDF)
6) Hardtwaldklinik I: Schuldgefühle und psychische Erkrankungen
7) Bevölkerungsstudie: Was Schuldgefühle mit uns machen
8) Bevölkerungsstudie zu Schuldgefühlen bei Erwachsenen (SRH Hochschule für Gesundheit Marketing / PR)
9) Wikipedia: Schuldgefühle
10) Stangl Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik: Schuldgefühle
11) Dr. phil. Vera Kattermann: Psychotherapie und Schuldfähigkeit: Wege aus der Schuld (Deutsches Ärzteblatt PP)
12) Micha Hilgers, Dipl.-Psych., im Interview mit Susanne Koch (report-psychologie) über Scham und Schuld
13) Katrin Brenner: Sagen Sie mal, Frau Kernstock-Redl: Warum fühlen wir uns so schnell schuldig? (Autoren-Interview auf Psychologie Heute)
14) E Karen et al: Self-blame–Selective Hyperconnectivity Between Anterior Temporal and Subgenual Cortices and Prediction of Recurrent Depressive Episodes (Studie 2015)
15) Ärzteblatt: Depressionen: „Schuldgefühle“ im Kernspint sagen Rezidiv voraus

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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Agitierte Depression – 25 % aller Depressiven sind rastlos, hyperaktiv & getrieben

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