Sokratischer Dialog: Psychotherapie mit Sokrates
Die Denkweise des Sokrates ist nicht nur in der Philosophie von großer Bedeutung, sondern hat auch ihren Platz in der Psychotherapie erobert. Doch wie geht das eigentlich: Sokratisch philosophieren? Und inwiefern hilft ein sokratischer Dialog bei der Persönlichkeitsentwicklung und bei psychischen Problemen?
Sokrates (469 – 399 v.Chr.)
“Ein Leben, das nicht kritisch untersucht wird, ist es nicht wert, gelebt zu werden.”
Sokratischer Dialog – Definition
Was ist ein Sokratischer Dialog? Einfach erklärt, ist der Sokratische Dialog eine Technik, die durch gezielte Fragen dabei unterstützt, im Gespräche Widersprüche und Denkfehler selbst zu erkennen. Im Grunde ist der Sokratische Dialog ein Anstoß zur Selbstreflexion.
Philosophie in der Psychotherapie
Der sokratische Dialog ist nicht nur eine kognitive Methode, sondern auch ein zwischenmenschlicher Prozess (“Hebammenkunst”).
Zwar bedient sich heute die kognitive Verhaltenstherapie dieser Technik – und das mit vielversprechenden Erfolgen –, gleichzeitig entfernt sie sich vom ursprünglichen Sokratischen Dialog, wie er in der Philosophie verstanden wird.
Doch worin liegen die Unterschiede zwischen dem sokratischen Dialog in Therapie, Coaching & Unterricht und Philosophie?
Dazu müssen wir ein wenig ausholen und die Philosophie des Sokrates anreißen.
Inhaltsverzeichnis: Sokratischer Dialog
Themen für Sokratische Dialoge
Normative Sokratische Fragen
Funktionaler Sokratischer Dialog
Explikative Sokratische Fragen
Die Sokratische Fragetechnik in der Psychotherapie von Depressionen
Die Effekte des Sokratischen Dialogs in Philosophie & Psychotherapie
Unterschiede zwischen philosophischen und therapeutischen Diskursen
Sokrates zur Einführung
Sokrates war etwas anders unterwegs als die üblichen Philosophen: Er vermittelte nicht Wissen und Dogmen, sondern half anderen, Wissen und Werte selbst zu finden.
Auch brachte er mit den Sophisten erstmals die Philosophie unter die Menschen auf die Straße. Zum 1. Mal in der Geschichte kam die Philosophie im Alltag des Menschen an (die sogenannte anthropologische Wende)
Dazu hing der alte Sokrates ständig auf dem Marktplatz Athens herum, der Agora. Dort verstrickte er dann jeden, den er konnte, in einen höflichen, philosophischen Dialog – am allerliebsten die Mitglieder des Adels und Gelehrte.
Sein Ziel: Das Nichtwissen zu entlarven
Seine Mittel: das Gespräch / der Dialog
Mithilfe pointierter Nachfragen schaffte er es immer wieder, das Wissen seines Gesprächspartners als unvollständig oder falsch aufzudecken.
Die sokratische Philosophie (Kurzfassung)
Aus guten Gründen philosophierte Sokrates in Dialogen und Gesprächen. Es ging dem alten Philosophen um einen Erkenntnisgewinn über das Selbst & das richtige, gute Leben, das sich nur im Zusammenleben verwirklichen lässt.
Nach Sokrates hat die Seele vor ihrer Geburt alle Dinge, die existieren, bereits gesehen. Der Mensch besitzt also aus sich heraus wissen, er muss es nur wieder in sein Bewusstsein zurückrufen. Und das gelang ihm mit Hilfe von Dialogen.
Paradox kann daher Sokrates Ausspruch klingen: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“, der aber nicht auf Begriffsdefinitionen abzielte, sondern auf tiefgreifendes Verständnis & Wissen.
Vielleicht wollte Sokrates mit diesem verkürzten Sinnspruch auch zeigen, dass Philosophie immer den Austausch mit einem Du braucht, um entdecken zu können.
Die Rolle der Frage im sokratischen Gespräch
Formell gesehen handelt es sich beim sokratischen Dialog um eine tradierte Frage-Antwort-Technik, die umschweifende Diskussionen verhindern soll und das Wesentliche auf den Punkt bringt.
Das Fragen hat bei Sokrates aber auch einen didaktischen Sinn: Anstatt durch Belehrung möchte Sokrates durch Fragen Erkenntnisse fördern (vgl. Mäeutik) und so den Menschen zur Selbstreflexion anstoßen.
Sokrates’ Mäeutik (Hebammenkunst)
Sokrates betont die eigene Initiative und Aktivität beim Erkenntnisgewinn. Darum bezeichnet er seine didaktische Vorgehensweise auch als „Hebammenkunst“ (griech. Mäeutik, Maieutik).
Anstatt wie im klassischen Unterricht die Schüler zu belehren, vermittelte Sokrates gewisse Kenntnisse, indem er durch geeignete Fragen die Gesprächspartner dazu brachte, in einem selbst-reflexiven Prozess falsche Vorstellungen zu entlarven und die wirklichen Gegebenheiten aufzudecken.
Sokrates ist die Hebamme, die hilft, das Wissen aus dem eigenen Geist bzw. der Seele hervorzuholen. Seine eigene Rolle im Hintergrund betonte Sokrates mehrmals: er teilt kein Wissen mit, sondern leiste „Geburtshilfe“, wenn Seelen eine Einsicht „gebären“.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang das Grundprinzip von Sokrates Mäeutik:
Es geht nicht um das zielgeleitete Fragen, sondern um das Vermögen, zu erkennen, welche Menschen zu wertvollen, echten Erkenntnissen fähig sind und diese zu fördern.
Ja, Platon und Sokrates waren elitär geprägt und vertraten daher auch elitäre Ansichten.
Der sokratische Dialog nach Platon
Die sokratischen Dialoge, wie sie von Platon überliefert werden, haben einen typischen Ablauf:
Sokrates stellt dem Gegenüber die Haupt-Frage, meist geht es darum, wie ein bestimmter Begriff zu definieren ist. Der Gesprächspartner antwortet.
Daraufhin stellt Sokrates einige weitere Fragen, die wichtig sind, um die Antwort auf die Eingangsfrage zu finden.
Jetzt weist Sokrates Schritt für Schritt auf, dass die Antworten von Nr. 2 mit ursprünglichen Antwort von Nr. 1 nicht vereinbar sind.
Im nächsten Schritt wird diskutiert, inwiefern die erste Antwort nicht stimmen kann, falls die Antworten von Nr. 2 richtig sind. Hier wird der Standpunkt des Gesprächspartners nachvollziehbar widerlegt.
Im Anschluss muss sich die Definition ändern. Entweder das Gegenüber bekennt seine Ratlosigkeit (Aporie) oder formuliert eine neue Antwort auf Frage 1.
Beispiel-Themen für Sokratische Dialoge (3)
Normative Sokratische Fragen
Normative sokratische Gesprächsführung dient der Beantwortung der „Darf ich das?“-Frage
„Darf ich mich von meinem kranken Partner trennen?”
„Darf ich abtreiben?“
„Darf ich lügen, wenn es mir nützt?“
„Darf ich meine Eltern/mein Kind nicht mögen?“
„Darf ich den Pflegewunsch meiner Mutter/meines Vaters ablehnen?“
Darf ich aus Profitgründen einen 50-jährigen Familienvater entlassen, der danach vermutlich keine neue Anstellung finden wird?“
„Darf ich meine Kinder unterschiedlich gern haben?“
„Darf ich etwas tun, obwohl ich weiß, dass andere dann traurig wären?“
Funktionaler Sokratischer Dialog
Funktionale sokratische Gesprächsführung dient der Beantwortung der „Soll ich das?“-Frage
„Soll ich heiraten?“
„Soll ich dieses Kind abtreiben?“
„Soll ich (weiter-)studieren?“
„Soll ich mich vorzeitig pensionieren lassen?“
„Sollte ich diese Beziehung aufgeben, um nach einer besseren zu suchen?“
“Soll ich eine andere Beschäftigung suchen?”
Explikative Sokratische Fragen
Explikative sokratische Gesprächsführung dient der Beantwortung der „Was ist das?“-Frage
“Was wollen wir unter Gleichberechtigung verstehen?“
„Was ist Vertrauen?“
„Was ist Verantwortung?“
“Was macht ein sinnvolles Leben aus?“
„Was ist für mich ethisch?“
„Was ist für mich ein guter Freund?“
„Was ist das: Gerechtigkeit?“
„Was ist ein wertvoller/wertloser Mensch?“
„Was ist sicher?“
Sokrates & kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich den sokratischen Dialog angeeignet. Insbesondere in der Behandlung von Depressionen wird er oft genutzt. Durch die sokratische Gesprächstechnik werden kognitive Verzerrungen der Patienten effektiv aufgedeckt.
Psychotherapeutischer Sokratischer Dialog – Was ist das?
Der therapeutische Sokratische Dialog definiert sich als Gesprächsstil, der auf philosophischen Prinzipien basiert. D. h. er zeichnet sich durch eine nicht-wissende und akzeptierende Haltung des Therapeuten aus, der darum bemüht ist, zu verstehen.
Das Hauptziel: alte Sichtweisen im Spiegel der geleiteten Fragen des Therapeuten zu reflektieren. Wenn dabei Widersprüche oder Mängel erkannt werden, können diese auf Alternativen geprüft werden.
Dysfunktionales Denken
Nach der kognitiven Verhaltenstherapie können negative Gedanken (dysfunktionales Denken) zu psychischen Störungen führen, sie fördern oder aufrechterhalten. Darunter Depressionen, Ängste, Neurosen und vieles mehr.
Was genau ist dysfunktionales Denken? Alle unrealistischen, extremen, belastenden Gedanken.
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Entweder-Oder bzw. Schwarz-Weiß, dazwischen gibt es nichts
“Ich bin entweder ein Gewinner oder ein Verlierer.”
“Ich hasse meine Mutter, meinen Vater liebe ich.”
“Es gibt nur Gut oder Schlecht.”
“Alles oder Nichts.”
“Wenn ich das nicht schaffe, bin ich ein Loser.”
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Erwartung negativer, dramatischer Ereignisse
“Ich werde beim Vortragen bestimmt wieder knallrot und alle werden mich auslachen.”
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trotz Gegenbeweisen, werden unlogische Schlussfolgerungen gezogen.
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alles wird auf die eigene Person bezogen, insbesondere negative Ereignisse oder die Stimmung von anderen Menschen.
“Weil ich zur Welt kam, wollen sich meine Eltern trennen.”
“Sabine ist sauer. Was habe ich denn nur getan?”
“Mein Freund hat abgesagt, bestimmt weil ich heute nicht so gut drauf war und gejammert hab.”
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negative Erlebnisse werden übertrieben, positive untertrieben. Angenehmes wird so weniger wahrgenommen.
“Danke für das Lob. Aber jeder kann das, der das öfter gemacht hat.”
“Klar, hier ist es schön - aber bei der Rückfahrt werden wir wieder Probleme mit dem Stau haben.”
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Betroffene glauben zu wissen, wie andere reagieren oder denken, ohne Beweise.
“Ich weiß, dass meine Frau von mir enttäuscht sein wird”
“So wie der mich anschaut, mag er mich sowieso nicht.”
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unangemessene Schlussfolgerung durch ein einziges Ereignis
“Tom hat mich nicht eingeladen. Niemand lädt mich ein”
“Der Kollege mag mich nicht. Niemand mag mich”
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ein Aspekt wird überbetont, um die Situation zu bewerten.
“Sie hat mich so komisch angesehen. Das ist ein Zeichen, dass sie mich nicht mag.”
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Die Intuition oder das Bauchgefühl sind Beweis für die Richtigkeit der negativen Gedanken.
“Ich fühle, dass dem Kunden dieser Vorschlag nicht gefallen wird.”
“Ich habe ein ungutes Gefühl, bestimmt gibt es nachher Ärger.”
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eine Handlung umfasst gleich das ganze Wesen einer Person. Und auch nicht so tolle Eigenschaften werden als unveränderbar angesehen
“Ich kann das halt nicht und werde es nie lernen.”
“Ich bin zu schüchtern für Small Talk.”
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Nur ein Aspekt ist vorherrschend, alles andere wird ignoriert. Meistens wird ein Erfolg relativiert.
“Prüfung geschafft, aber dieser Fehler in Aufgabe 2 hätte mir nicht passieren dürfen!”
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Du-sollst und Du-musst Denken
“Ich muss immer lieb und höflich sein.”
“Ich sollte nicht Nein sagen.”
“Ich muss das oder jenes machen, damit alles im Lot bleibt.”
Sokratischer Dialog & kognitive Umstrukturierung
Dysfunktionales Denken systematisch verändern
Die Verhaltenstherapie geht davon aus, das Deine gewohnten und automatischen Gedanken, Emotionen und Dein Verhalten auf Lernerfahrungen zurückgehen.
Was bedeutet das? Je nachdem, welche Erlebnisse ein Mensch hatte, so sieht er auch die Welt. Ist ihm viel Leid und Unglück überfahren, dann sieht er die Dinge pessimistisch und ängstlich.
Wenn negative Gedanken- und Verhaltensmuster erlernt wurden, dann lassen sie ich auch wieder verlernen. Einfach gesagt: So wie Du Dein Gehirn im Alltag nutzt, so formt es sich auch (Stichwort: Neuroplastizität).
Die Fachleute sprechen von kognitiver Umstrukturierung, weil Sie Gedanken mit kognitiven Faktoren wie Wahrnehmung, Erinnerung, Lernen, Aufmerksamkeit) gleichsetzen.
Die Sokratische Fragetechnik in der Psychotherapie von Depressionen
Die Sokratische Fragetechnik wird in einfacher Form wirklich von einigen Therapeuten erfolgreich angewendet. Denn depressive Menschen sind in negativen Gedankenspiralen gefangen.
Das Denken dreht sich in äußert negativer Weise ständig um Unvermögen, Schwäche, Wertlosigkeit, die der eigenen Person zugeschrieben wird.
Mit der Sokratischen Unterhaltung können diese negativen Gedanken als unrealistisch entlarvt werden.
Klingt im ersten Moment komplizierter als es ist. Viele wenden die Methode auch intuitiv an.
Beispiel für einen sokratischen Dialog
Du hast eine schmerzhafte Trennung zu verkraften.
Depressive Gedanken in Deinem Kopf geben Dir ein, Du seist schwach und nicht liebenswert. Diese pessimistischen Glaubenssätze könntest Du so hinterfragen:
Ist jeder Mensch, der verlassen wurde, nicht liebenswert?
Wer fällt Dir ein, bei dem das nicht stimmt?
Was hat eine Trennung mit Deinem Wert als Mensch zu tun?
Was hast Du bisher im Leben schon alles geschafft?
Welche Erinnerungen zeigen Dir, dass Du kein Versager bist?
Mit Sokrates’ Mäeutik Selbstwirksamkeit erfahren
Sokrates ging nicht wertend vor. Er versuchte durch ein geschicktes Hinterfragen, das autonome, selbstbestimmte Denken seines Gegenübers zu wecken.
Es geht also nicht darum, was ein Depressiver lassen oder tun sollte (Suggestivfragen).
Eigenständiges Denken durch inspirierende Fragestellungen fördern – das ist der Clou.
Es gibt viele Studien, welche die Sokratische Methode bei Depressionen als sehr wirksam belegen. Zuletzt kam eine Untersuchung von 2015 zu dem Ergebnis:
Je öfter die sokratische Fragetechnik eingesetzt wurde, desto größer waren die Verbesserungen bei den depressiven Symptomen.
Nach den Forschern erlernten viele Patienten den Sokratischen Frageprozess anzuwenden und so negative Gedankenmuster aufzubrechen. (1)
Effekte in der Psychotherapie
nachhaltige Veränderung zum positiveren Denken
In einer Therapie: verbessert die Beziehung zwischen Therapeut und Patient, was die Therapie effizienter macht
Erfahrung von Selbstwirksamkeit
Stärkung des Selbstvertrauens
fördert selbständiges Denken (vgl. Zirkelschlüsse – naturalistisch, dogmatisch & gar nicht logisch)
verringert die Manipulierbarkeit der Person durch andere
Vgl. auch: Was ist Philosophie?
Unterschiede zwischen philosophischen und therapeutischen Diskursen
In der Philosophie begegnen die Gesprächspartner einander auf Augenhöhe – Sokrates verkörpert den Prototyp: Er ist der naive Frager, der nicht vorgibt, Wissen zu besitzen, sondern gemeinsam mit dem Gegenüber systematisch nach Verständnismöglichkeiten forscht. Der gesamte interaktive Prozess ist anti-hierarchisch und es gibt kein bestimmtes Ziel, auf dass der Dialog hinauslaufen muss.
Anders im therapeutischen Kontext. Nach Definition soll sich auch hier der Fragende als Nicht-Wissender begreifen – doch praktiziert wird diese Haltung nicht.
Viele Psychotherapeuten argumentieren von einer Position mit impliziten Annahmen und glauben sich im Besitz von übergeordnetem Wissen. Der Therapeut stellt nicht sein eigenes Wissen zur Disposition, sondern hinterfragt nur die Aussagen, Gedanken und Gefühle der Patienten.
Zwar ist die therapeutische Beziehung in modernen Ansätzen zunehmend durch Egalität gekennzeichnet, dennoch arbeitet sie mit der Hypothese, dass der Therapeut einen Prozess moderiert, in dessen Verlauf der Patient zu Einsichten geführt wird, die therapeutisch intendiert sind (= vorgegebenes Ziel).
Quellen
1) Ohio State University, Behaviour Research and Therapy; August 2015
2) Franziska Luschas, Diplom Psychologin
3) H. Stavemann – Sokratische Gesprächsführung in Therapie und Beratung: Eine Anleitung für Psychotherapeuten, Berater und Seelsorge
4) Stangl Lexikon der Psychologie & Pädagogik - Online-Enzyklopädie
5) Universität Düsseldorf - Schädliche Denkmuster Beispiele