Fernweh – Die Flucht vor sich selbst (Psychologie & Reisesucht)

Viele reden von Fernweh – aber was ist Fernweh eigentlich genau? Es gibt auf jeden Fall einen Unterschied zwischen normaler Reiselust und ausgeprägtem Fernweh. Wissenschaftler haben sich mit dem Phänomen beschäftigt und interessante Dinge über das Fernweh herausgefunden.

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Fernweh oder schon Fernsucht?

Fernweh sagt eine Menge über Dich aus. Das Problem dahinter ist keine normale Reiselust, sondern kann eine Art Sucht sein.

Je nach Ausprägung der Symptome und den Leidensdruck, den Du verspürst.

 

Fernweh während Corona-August

Warum können so viele nicht daheim Ferien machen?

In zahlreichen Bundesländern stiegen durch die Urlaubswelle die Corona-Zahlen wieder. Einer der größten Faktoren beim Anstieg der Infektionen waren die Reiserückkehrer / Urlauber.

Warum haben so viele Menschen Fernweh, anstatt Ruhe und Erholung Zuhause zu finden? Auf mich wirkt das wie eine weitere Form von Konsum ohne Mehrwert: Erfahrungen und Erlebnisse – so viel wie nur möglich, in so kurzer Zeit wie nur möglich!

Schauen wir uns einmal an, was die Wissenschaft bisher über Fernweh sagt. Ich kann Dir schon mal eins verraten: Fernweh ist noch nicht besonders gut erforscht.

 

Fernweh Definition – Was ist Fernweh?

Wikipedia sagt dazu:

„Fernweh beschreibt die menschliche Sehnsucht, vertraute Verhältnisse zu verlassen und sich die weite Welt zu erschließen. Das Wort „Fernweh“ steht im wörtlichen Gegensatz zu Heimweh, der Sehnsucht nach der Heimat.“ (1)

Und im Spektrum Online-Lexikon der Psychologie wird Fernweh unter Sehnsucht verortet:

“1) Heimweh, Fernweh, Sich-Verzehren nach einem anderen Menschen. Sehnsucht haben wir, wenn wir nicht glücklich sind. Wenn wir aber glücklich sind, merken wir es nicht. Heimweh, Fernweh, Verliebtheit, Kunst, Mode, Autos und mancherlei mehr sind Manifestationen der Sehnsucht (...)

2) der Wunsch, zu einem Urzustand zurückzukehren. Dieses Erinnern an Vergangenes ist fest verankert in der familiären oder kulturellen Tradition, der Geschichte oder in der erlebten Erfahrung eines Glückszustandes. Die Sehnsucht ist nur solange mächtig wie das, was verloren ist, als etwas Unwiederbringliches erlebt wird. In dem Moment, wo man es wiederhaben kann, erlischt die Sehnsucht und wird zu Neugier und Interesse. (...)

4) Neben der Nostalgie ist die Utopie ein wichtiges Element in der Modernen und wird zunehmend wichtiger. Alle Utopien beschreiben eine vorwärts gerichtete Sehnsucht.”

 

Okay, Fernweh & Heimweh sind 2 Seiten der gleichen Medaille. Klingt jetzt aber nicht krankhaft, oder? Etwas anders interpretierten Literatur- & Medien-Experten 2014 das Phänomen Fernweh (7):

 

1) Fernweh ist eine Sehnsucht nach dem Hier und Jetzt

Menschen mit Fernweh sind durch einen subjektiven Leidensdruck charakterisiert. Sie empfinden Unzufriedenheit mit der momentanen Lage. Häufig angeführte Beispiele sind Leute, die sich in einem normalen Alltag, trotz einem gelungenen Leben, eingeengt fühlen und nicht erfüllt.

 

2) Fernweh ist keine Reiselust

Gerade in der Reise- und Tourismusbranche wird viel von Fernweh gesprochen. In der Marketingsprache ist Fernweh ein Reizwort. Das Ding ist: Die Forscher meinen, Fernweh und Reiselust sind deutlich zu differenzieren. Beim Fernweh geht es nämlich nicht ums Reisen an sich, sondern um eine Sehnsucht.

 

3) Fernweh ist ein deutsches Phänomen

Der Begriff Fernweh ist seit 1835 belegt, Heimweh sogar seit dem 17. Jahrhundert. Fernweh wird zum ersten Mal in den Reise-Erzählungen des Fürsten Pückler-Muskau gebraucht. Auch bei Goethe taucht schon früher eine Beschreibung für Fernweh auf, auch wenn es nicht explizit als solches benannt wird. Interessant ist: Die Worte Heimweh, Fernweh, Wanderlust und Reiselust gibt es in dieser Bedeutung nur im Deutschen.

 

Wieso sind Medienwissenschaftler Experten für Fernweh?

Ich lasse mal eine Expertin antworten:

Fernweh ist etwas, das sich in literarischen Texten und Filmen ausdrückt. Anders als das Heimweh, das von Medizinern als Krankheit aufgegriffen und behandelt wurde, findet man das Fernweh vor allem in Poesie und Kunst.

Auf der anderen Seite kann ich beim Lesen oder im Kino in fiktionale Welten eintauchen. Dadurch stille ich mein Fernweh einerseits und gebe ihm andererseits auch immer wieder neue Nahrung. Fernweh ist also sehr stark an Literatur und Medien gebunden.“

– Dr. Irmtraud Hnilica (4)

 

Ist Fernweh eine Krankheit?

Veranlagung könnte eine Rolle spielen

Kein Witz, Forscher haben tatsächlich ein Gen ausgemacht, das Grund dafür sein könnte, warum manche Menschen schmerzhaftes Fernweh haben und andere nicht. Es ist sogar unter dem Namen Wanderlust-Gen bekannt, heißt aber eigentlich DRD4-7R (9).

Das Fernweh-Gen beeinflusst unter anderem den Dopamin-Ausschuss im Körper und potenziert bestimmte Eigenschaften der Person. Darunter: Abenteuerlust, Neugier, Risikofreude und Rastlosigkeit. Die Forscher vermuten, das ca. 20 % der Bevölkerung dieses Gen in sich haben.

Eine Krankheit ist Fernweh nicht, auch wenn es früher eine Diagnose namens “Dromomanie” gab (Drang zum Gehen, Wandern). Laut Wikipedia wurde diese Bezeichnung umgangssprachlich auch für häufiges Reisen und Fernweh verwendet.

Fernweh als Flucht vor dem Alltag

Natürlich gibt es viel mehr Theorien zum Fernweh und Reisefieber, auch von Psychologen und Soziologen. Hans-Magnus Enzensberger beschrieb 1969 in seiner Theorie des Tourismus:

»Indem wir auf die Rückfahrkarte in unseren Taschen pochen, gestehen wir ein, dass Freiheit nicht unser Ziel ist, dass wir schon vergessen haben, was sie ist.«

Reisen als sozialer Druck

Der Soziologe Hans-Joachim Knebel spricht hingegen vom Reisezwang. Kollegen, Bekannte, Freunde, Familienmitglieder verreisen ständig. Gerade auf Social Media finden sich zahlreiche Eindrücke urlaubswütiger Fernsuchtler. Und als Sozialwesen möchte der Einzelne mit diesem Standard mithalten können, um sich als wertig zu begreifen.

Reisen als Differenzerfahrung

Tourismusforscherin Dr. Kristiane Klemm der Freien Universität Berlin hat einen anderen Ansatz gefunden. Mit Differenzerfahrung meint sie Reisen, um sich „vom Alltagsblues abzuwenden und eine Andersartigkeit zu erfahren.“ Dinge wie Bergwandern, Fallschirmspringen, Natur-Abenteuer – sie alle bilden einen krassen Gegensatz zu unserer Alltagsroutine und der Heimat.

Freiheit durch neue Erlebnisse, Eindrücke, Menschen und Natur – das klingt doch ziemlich gut, finde ich. Was ist also das Problem mit dem Fernweh?

Wenn Du Dich nie lange Zuhause aufhalten kannst und auch nicht sein möchtest und leidest, wenn Du nicht in fremden Gefilden Urlaub machen kannst, ja dann ist das ganze Unterfangen nur eine Flucht vor sich selbst.

Die Sorgen des Alltags schnell hinter sich lassen: Sachen packen und davon. Und überhaupt, bevor man ins Grübeln übers eigene Leben und das eigene Verhalten gerät, lieber neue Eindrücke tanken. Die schieben alles andere nämlich weg und beschäftigen gut.

 

Interessante Gedanken dazu gibt auch der Jugendforscher Philipp Ikrath (8):

spiegelt das Fernweh der jungen Deutschen eine gewisse Zerrissenheit wieder. Das hängt vermutlich mit den Möglichkeiten zusammen, die jüngere Generationen heutzutage haben: Es baut sich ein gewisser Erwartungsdruck auf, sich selbst zu verwirklichen. Daher seien auch gerade die Angehörigen der Generation Y ständig auf dem Sprung.

Das ständige Ausleben von Fernweh führt bei einigen zur regelrechten Depression: Nach ihrem Urlaub kehren sie zurück nach Hause, an denselben Bürotisch, mit denselben Kollegen, derselben täglichen Routine, derselben Wohnung und denselben Freunden.

Wo bis vor kurzem noch ein Feuerwerk an Impressionen die Synapsen stimulierte, ist nun grauer Arbeitsalltag. Kein Wunder, dass gerade sensiblere Gemüter dann in ein Loch fallen.“

 

Nostophobie - die Angst vor der Heimkehr

Eine psychische Krankheit, die der Beschreibung ähnelt ist die Nostophobie. Definiert als:

“Die Nostophobie ist eine spezifische Angststörung und bezeichnet die Angst vor der Heimkehr, vor dem Heim, vor dem nach Nachhausekommen.

Man könnte also auch sagen, dass der Nostophobiker immer den Drang hat zu reisen, Ziele anzusteuern, um nicht nach Hause zurückkehren zu müssen.

Eventuell treibt also viele Globetrotter, Permanentreiser und Dauerndunterwegsseinmüsser eine Art Nostophobie.” (11)

 

Fernweh Symptome

  • diffuser Wunsch nach Abwechslung & Ablenkung

  • häufiges Schmieden von Reiseplänen

  • oft über Zukunft an anderen Orten nachdenken

  • Reisefieber und Rastlosigkeit

  • Gefühl von Langeweile und Unruhe im Alltag

  • nicht lange Zuhause bleiben können

  • gute Gefühle & Freiheitsempfinden nur durch Reisen möglich

 
Was steckt hinter Fernweh?

Was steckt hinter dem Fernweh-Wahn?

Hinter all den Reisewünschen und dem Fernweh steht in Wirklichkeit ein Gefühl, dass etwas fehlt. Es geht gar nicht um die Südsee, den Traumstrand oder den Städtetrip: Es geht nur um das Gefühl, welches die Menschen mit diesem Ort oder dem Reisen verbinden.

Keine Frage, das ist natürlich nicht per se schlecht.

Wäre ja schlimm. Aber ich bemerke, wie viele an ferne Orte „flüchten“, weil sie Zuhause nicht zufrieden sind. Da wird etwas im „Außen“ gesucht, das man innerlich stillen muss. (Vgl. meinen Beitrag: Die Stille – Was sie mit Dir macht)

Das ist schade und passt perfekt zum Selbstoptimierungswahn unserer Zeit.

 

Fazit: Fernweh oder Reisesucht

Entspannung, Abenteuer, Freude und Freiheit findet man nicht nur auf Reisen. Ganz im Gegenteil:

Die größten Ereignisse sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden“ (Nietzsche)


Quellen:

1) Steffi Adam, Mentorin für Persönlichkeitsentwicklung Hamburg
2) Gesa Neitzel: Fernweh – ein Krankheitsbild
3) Wikipedia
4) Janna Degene-Storr: Interview mit Dr. Irmtraud Hnilica auf UNICUM
5) Spektrum der Wissenschaften
6) Elisaveta Schadrin-Esse, Chefredakteurin „The Fernweh Collective“: Interview mit Zeit online
7) Fern-Universität Hagen: Experten-Tagung 2014 „Fort von hier, nur fort von hier!“ Fernweh von 1830 bis zur Gegenwart
8) Anja Rassek: Fernweh – Goodbye Deutschland! (Artikel)
9) The Genetic Architecture of Selection at the Human Dopamine Receptor D4 (DRD4) Gene Locus
10) Petra Herr: Fernweh – warum es uns in die Ferne zieht (Artikel)

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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