Muße – Muße haben ist mehr als Self-Care & Erholung

Die Kunst der Muße wird in Zeiten der Selbstoptimierung neu entdeckt. Doch nicht als Selbstzweck nach philosophischer Tradition, sondern als Mittel zum Zweck & dem Ziel, besser zu werden (worin auch immer). Muße zu haben, ist gesund, doch nur wenn sie nicht unter dem Scheffel der Effektivität & Leistungsorientierung stehen.

Muße in der Philosophie

Muße & Müßiggang

galten in der antiken Philosophie als Ideal & Privileg. Heute steht Muße für eine Art Self-Care & Erholung. Doch eigentlich ist Muße viel mehr als das, frei von jedem Zweckgedanken.

Die Muße als Selbstwert

Muße ist der schönste Besitz von allen“, sagte einst Sokrates (11). Der hatte in der Antike natürlich gut reden. Denn Muße konnten sich in früheren Zeiten nur Menschen leisten, die sich dank Sklaven- und Frauenarbeit von Pflichten und Aufgaben befreien konnten.

Das ist auch heute noch so: Echte Muße können sich meist nur Menschen leisten, deren sozioökonomischer Status sie von finanziellen Sorgen und Nöten befreit. Trotzdem haben sich die Möglichkeiten, Muße zu finden, vergrößert.

Einige Menschen können sich jetzt bewusst für Muße entscheiden. Allerdings ist das nicht ganz so einfach, wie es klingt.

Denn Du und ich haben das Leistungsprinzip der heutigen Gesellschaft mit der Muttermilch aufgesogen.

Zwar hat die Muße heute ein Comeback erfahren und wird unter dem Zeichen der Achtsamkeit und Entschleunigung wieder In, aber diese “produktive Muße” hat mal wieder überhaupt nichts mit der philosophischen Muße zu tun.

 

Inhaltsverzeichnis: Muße - Muße haben

  • Muße Definition

  • Muße als sinnerfüllte Zeit

  • Merkmale der Muße

  • Wirkung von Muße

  • Was Muße nicht ist

    • Muße vs. Freizeit

    • Muße vs. Entspannung & Erholung

    • Muße vs. Langeweile

    • Muße vs. Quality-Time

  • Muße vs. Faulheit

  • Muße vs. Self-Care (Selbstfürsorge)

  • Mut zur Muße – der Mensch als Arbeitstier

  • Freizeitstress anstatt Ressourcen-Pflege

  • Muße ist frei von Selbstoptimierung

  • Fazit: Muße & Muße haben

 

Muße: Definition – Was ist Muße?

Muße Definition

Gehen wir zurück in die Antike, in jener Zeit findest Du nämlich die ersten Zeugnisse von Muße. Bei den alten Griechen war Muße (griech. Σχολή = Muße, Ruhe, Studium, Verzögerung, Langsamkeit) die Bedingung schlechthin für Philosophie und Wissenschaft.

Der Mensch öffnet sich in seinen Mußestunden den höchsten Erkenntnissen, die zu einem glücklichen Leben beitragen. Für Sokrates war Muße die „Schwester der Freiheit“.

Klingt im ersten Moment vielleicht nach einem Ziel, ist aber zielfrei gedacht. Es ging darum, dass sich der Mensch in einen zweckfreien Raum begibt (2), herausgelöst aus der gesellschaftlichen Vereinnahmung und so frei zur Selbstbesinnung & Sinnfindung.

Muße ist eine Freiheit des Individuums zur charakterbildenden und kreativen Möglichkeit.

 

Muße als sinnerfüllte Zeit – ohne Leistungsdruck

Muße schafft Sinn

Muße kann Nichtstun bedeuten oder sinnerfüllte Aktivität.

Gärtnern, Schreiben, Lesen, Tagträumen – Muße ist eine Form der Selbstentfaltung. Ein Versinken, entweder in eine Tätigkeit, die ihren Sinn in sich selbst trägt, oder in Gedanken, die frei flottieren.

Aristoteles sagte, „dass Muße die Möglichkeit dazu bietet, etwas um seiner selbst willen zu tun.

Sie ist eine Voraussetzung für Selbstreflexion, hat aber nichts damit zu tun, gezielt Glücksmomente zu sammeln. Muße dreht sich um die gelungene Lebensführung – und zwar um ihrer selbst willen.

Im Kern der Muße ist eine bestimmte Beziehung zum Zeit-Erleben. Die modernen westlichen Gesellschaften sind geprägt davon, dass die meisten Menschen einen großen Teil ihrer Zeit in einem Reiz-Reaktions-Modus erleben und verleben.“, sagt Elisabeth Cheauré, Professorin und Sprecherin des Sonderforschungsbereiches „Muße. Konzepte, Räume und Figuren“ in Freiburg (7). Muße ist demnach eine selbstbestimmte Erfahrung von Zeit.

 

Merkmale der Muße

Merkmale der Muße
  • frei von Fremdbestimmung (kein Zwang, kein Erwartungsdruck)

  • erfülltes Tun (freie Entfaltung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten)

  • Gedanken schweifen lassen (kein Willensdruck, Versunkensein)

  • selbstbestimmtes Gelassensein (keine Pragmatik)

  • Erleben von freien Zeiträumen (keine Zeitnot, alles ist ungezwungen)

  • kontemplativ (kein Lösungsfokus)

 

Wirkung von Muße

Mit dem Nichtstun ist das so eine Sache. Es fällt nicht leicht, obwohl es sich eigentlich einfach anhört. Tatsächlich hat Muße, während der Du Deine Gedanken schweifen lässt, eine wohltuende Wirkung auf Deine Psyche.

Ebenso wie bei der Stille wird bei der Muße das sogenannte Ruhe-Modus-Netzwerk im Gehirn aktiv. Die Wissenschaftler nennen das Default-Netzwerk, das sich nur dann einschaltet, wenn Du Dich nicht beschäftigst. Die langfristige Wirkung von Mußestunden hat es in sich:

  • Verarbeitung von Erfahrungen

  • Stärkung von Kreativität (die bekannten Geistesblitze)

  • Regenerierung geistiger & körperlicher Kräfte

  • Kräftigt das Immunsystem

  • trägt zur Resilienz bei

  • fördert Gelassenheit

 

Was Muße nicht ist

Ich weiß, Begriffe wie Quality-Time und Self-Care klingen cooler und moderner als der antiquierte Begriff Muße. Doch sie sind keine Synonyme, sondern verfolgen alle einen bestimmten Zweck.

Genau davon soll die Muße aber frei sein. Also hier ein paar Beispiele, was Muße nicht bedeutet und wo die Unterschiede zu den Buzzwords liegen.

 
Was Muße haben nicht ist

Muße vs. Freizeit

Freizeit kann mit Muße gefüllt werden, so wird sie meist aber nicht verstanden.

Freizeit ist für viele die Abwesenheit von Arbeit und ist im Kontrast zur Arbeit gedacht (4).

Dabei wird in der freien Zeit dann mehr nach Abwechslung und Abenteuer gesucht als nach selbständigen Gedankenläufen.

Ein Zeitvertreib anstatt ein Versunkensein in eine erfüllende Tätigkeit oder genüssliches Nichtstun. Muße bedeutet aber, der freien Zeit einen eigenen Wert beizumessen. Als Selbstzweck.

 

Muße vs. Entspannung & Erholung

Viele verwechseln Muße mit Entspannung oder nennen es produktives Nichtstun. Damit ist diese Zeit aber kein Selbstzweck, sondern hat den praktischen Effekt der Erholung im Blick. Produktives Nichtstun ist leider auch falsch gedacht, denn es geht ja eben um ein freies Nichtstun – unabhängig von Zielen, Leistung und Erwartungen.

Außerdem kann Muße auch sinnstiftende Tätigkeit sein. Sie auf Entspannung oder arbeitsfreiem Nichtstun zu reduzieren, wird der philosophischen Muße nicht gerecht.

 
Muße ist nicht Langeweile

Muße vs. Langeweile

In der Psychologie wird Langeweile definiert als unangenehmer Gefühlszustand oder „seelischer Zustand der Unzufriedenheit und der Abneigung zum Handeln, auch beschrieben als ein Zustand der mangelnden Ansprechbarkeit durch Anreize, oft verbunden mit innerer Unruhe und Reizsuche“ (6) Langeweile ist also genau das Gegenteil von Muße.

 

Muße vs. Quality-Time

Quality-Time ist ein Konzept, das aus Amerika zu uns übergeschwappt ist. Die Deutsche Entsprechungen wären Familienzeit, Paarzeit oder Freundeszeit. Hier dreht sich alles um freie Zeit, in der Du Familie, Partner und Freunden eine besondere Aufmerksamkeit schenkst.

Dabei geht es um die Verbesserung und Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen. Doch auch hier steckt der Effektivitätsgedanke unserer Leistungskultur drin.

Margrit Stamm, Professor für Erziehungswissenschaften, mahnt deshalb zu Recht: „denn sie suggeriert, dass man die häusliche Zeitfalle mit Quality Time überwinden könne. Das ist jedoch eine falsche Verheißung und nichts anderes als ein machtvolles und folgenreiches Wortspiel einer Gesellschaft ohne Zeit, dafür mit einem großen schlechten Gewissen.“ (8)

 

Muße vs. Faulheit

Die Journalistin Theresa Bäuerlein (1) plädiert für Faulheit, denn für sie ist Muße als philosophischer Rückzug definiert, der an einen Zweck gebunden sei. Sie spricht lieber von Faulheit mit dem Sinn „das Recht zu existieren, ohne zu produzieren.“ Ich verstehe den Gedanken. Doch der Begriff faul sein ist leicht missverständlich und negativ geprägt.

Wovon die Kollegin hier spricht, ist ein freies Nichtstun, in dem die Gedanken einem freien, unbestimmtem Lauf folgen dürfen – Das ist Muße, ja.

Hat aber nichts mit Faulheit zu tun. Wenn Du faul bist, dann verweigerst Du Dich – bei Muße versinkst Du in eine selbstbestimmte Tätigkeit oder genüsslichem Nichtstun, denen Du Dich frei zuwendest anstatt irgendetwas zu negieren.

 
Muße ist mehr als Self-Care

Muße vs. Self-Care (Selbstfürsorge)

Selbstfürsorge wird heute leider sehr salopp mit Wellness gleichgesetzt. Wieder mit Bezug auf Erholung und Entspannung zur Selbstoptimierung. Das Konzept bietet aber mehr als ein heißes Bad nach einem stressigen Tag.

Selbstfürsorge heißt, all Deine geistigen und körperlichen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu erfüllen.

Muße hat nicht direkt etwas mit Bedürfnisbefriedigung zu tun. Sie ist ja Selbstzweck, auch wenn sie den erfreulichen Nebeneffekt hat, zum Lebensglück & innerer Zufriedenheit beizutragen.

 

Mut zur Muße – der Mensch als Arbeitstier

Was genau ist das Problem heute mit dem Müßiggang? Naja, die heutige Gesellschaft definiert sich über Arbeit (4). Das ging schon im Mittelalter los unter dem Motto „Ora et labora“, oder in den harschen Worten Luthers: „Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen. Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot, der hier Arbeit befohlen hat.

Muße in der Philosophie

Im Alt- und Mittelhochdeutschen hatte „muoza/muoze“ ursprünglich den Sinn von Gelegenheit und Möglichkeit. Wurde später von Mönchen aber mit Trägheit und Faulheit gleichgesetzt, eines der 7 Hauptlaster.

Karl Marx (2) haute in die gleiche Kerbe, indem er den Menschen als Produkt seiner Arbeit definierte. Ebenso wie Immanuel Kant und andere Philosophen, die sich einer strengen Sittenpflicht & Moral verpflichteten.

Und da findest Du auch schon das essentielle Problem mit der Muße: in unserem kulturellen Glaubenssystem gilt freies Nichtstun als Wertlosigkeit und Faulheit.

Im Gegensatz dazu halten wir an Produktivität fest. Du bist nur etwas, Du bist nur dann moralisch gut, wenn Du leistest.

 

Freizeitstress anstatt Ressourcen-Pflege

Es ist schon echt verrückt, was alles unternommen wird, um sich auch in der Freizeit Stress zu machen. Viele Menschen müssen jede Minute mit Sport, Erlebnissen, Urlaubserfahrungen (vgl. Fernweh), Meditieren, persönliche Weiterentwicklung oder sonst einer Aktivität füllen – mit dem Ziel, sich gut zu fühlen. Effektivität, die Zeit optimal nutzen, lautet hier die Devise, die leider bei ebenso vielen Menschen zu einem Phänomen namens Freizeitstress führt.

Muße haben

Wie bereits erwähnt, ich stehe hier nicht mit erhobenem Zeigefinger und nehme mich davon aus. Ich bin als freie Journalistin & Philosophin selbst allzu oft getrieben, mich aktiv selbst zu beschäftigen, Erkenntnisse zu gewinnen, mein Leben selbstbestimmt zu gestalten, mich gesund zu halten.

Dagegen ist auch nichts zu sagen: Kein Philosoph behauptet, Du sollst Deine Freizeit nur mit Nichtstun verbringen.

Es lohnt sich aber, Deine Auszeiten immer mal wieder, regelmäßig mit Muße zu verbringen. Ich spreche ausdrücklich von „verbringen“, nicht gestalten, denn dann wärst Du wieder im Effektivitätsmodus.

 

Muße ist frei von Selbstoptimierung

Ein ganz wichtiger Punkt. Die Kulturwissenschaftlerin Yvonne Robel (1) berichtet von einem Muße-Hype, der seit den 1990er Jahren an Fahrt gewinnt. Vorher war der Begriff in der Moderne nicht erwähnenswert.

Muße ist zweckfreie Zeit

Muße als Mc-Mindfullness – es geht nicht um ein genießerisches Nichtstun, sondern um gewinnbringendes Nichtstun, um danach besser zu funktionieren. Dazu gehört auch der Meditationstrend.

Viele praktizieren Muße mit aktiver Erholung, die mit Meditation, Self-Care Ritualen, Naturerlebnissen usw. gestaltet wird. Die Freizeit ist nicht frei, sondern wird instrumentalisiert und organisiert.

Wahnsinn: Da gibt es Ratgeber und Apps, die Dich an die Aufgabe erinnern sollen, Pause zu machen, Achtsamkeit zu üben und mehr.

Bitte nicht falsch verstehen, das alles sind sinnvolle Dinge, die jeder gerne beherzigen darf. Nur hat das mit echter, philosophischer Muße nichts zu tun, wenn Du das alles nur unternimmst, um besser zu werden – ob körperlich oder geistig.

 

Fazit: Muße & Muße haben

  • Muße ist ein freier Zeitraum, in dem Du Dich völlig frei und unabhängig fühlst. Oft braucht sie einen Raum (Ruheraum, Rückzugsort), um sich einstellen zu können. Auch Allein-sein gibt meist erst den Freiraum für Muße.

  • Die Muße ist sich selbst genug, sie hat keinen Nutzen, kann aber sinnvoll sein.

  • Muße kannst Du nicht erzwingen, sie muss aus Dir heraus entstehen.

  • Muße kann eine freie Tätigkeit sein, die Dich erfüllt, oder ein Nichtstun, in dem Du die Gedanken frei schweifen lässt.

  • In der Muße verselbständigt sich das Denken, das so Freiräume für Kreativität, Selbstreflexion und neue Perspektiven schafft.


Quellen:

1) Theresa Bäuerlein: Was für eine blöde Idee: Stress als Statussymbol
2) Metzler Lexikon Philosophie: Muße
3) Wikipedia: Muße
4) dfk: Philosophie des guten Lebens: Warum wir für mehr Muße streiten sollten – Christian Möller im Gespräch mit Jochen Gimmel und Tobias Keiling
5) dfk: Denken im Urlaubszustand: Muße für neue Perspektiven – Thomas Macho im Gespräch mit Britta Bürger
6) Spektrum Lexikon der Psychologie: Langeweile
7) Cajo Kutzbach: Forschungsprojekt Muße – Die Kunst, die Gedanken fliegen zu lassen
8) Magrit Stamm: Die Lüge der Quality Time
9) Günther Figal: Muße als Forschungsgegenstand (In: Muße. Ein Magazin)
10) Freiburger Sonderforschungsbereich 1015 im Überblick: Muße. Konzepte, Räume, Figuren (2014)
11) Klaus Bartels: Veni, vidi, vici. Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen
12) Janina Herberger und Franziska Hackl: Kreative Quarantäne – Zur Muße gezwungen?
13) Wilhelm Schmid: Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst
14) Cordula Puchwein: Warum man beim Nichtstun Kraft tankt

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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