Entmenschlichte Menschenbilder – Die Grenzen der Wissenschaft

1958 warnte A. Huxley noch vor der “Standardisierung des Produkts Mensch”. Doch heute scheint genau das Realität geworden zu sein. Die empirischen Wissenschaften spielen dabei eine wesentliche Rolle.

Entmenschlichte Menschenbilder

Werner Heisenberg, 1955:

Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich eigentlich nicht um ein Bild der Natur, sondern nur um ein Bild unserer Beziehungen zur Natur”

Der Mensch als Produkt

Ist die Welt durchsetzt und exakt geregelt über Naturgesetze? Lässt sich jeder Wirkung eine Ursache zuzuordnen? Ist der Mensch ein Produkt der Evolution? Wer diese Fragen mit Ja beantwortet, gehört zu den vielen Menschen, die das deterministische Welt- und Menschenbild, welches seit bald 400 Jahren in unserer westlichen Kultur vorherrscht, unbewusst reproduzieren.

Dass es sich dabei um metaphysischen Materialismus per excellence handelt, ist wohl ebenso wenig klar. Hintergrund ist der Siegeszug der Naturwissenschaften, die eine besondere Präsenz in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit genießen.

Das Resultat: Welt, Gesellschaft & Individuen werden auf eine materielle, quantifizierbare Dimension reduziert.

Im Kontrast zur Berufung auf vermeintlich „naturwissenschaftlich fundierte“ Methoden findet man ein Beharren auf Prinzipien, welche den Höhepunkt des mechanistischen Weltbildes des 19. Jahrhunderts kennzeichnen.“, konstatiert der Psychologe & Professor Jürgen Kriz (3), der seit Jahren das experimentelle Paradigma in der Psychotherapie-Forschung kritisiert.

Vgl. auch Dialektische Menschenbilder: Marx – Fromm – C. G. Jung – Schmitz – Mehrgardt

Vgl. auch Geist und Gehirn – Ich ist nicht Gehirn

 

Vernunft, der Leitgedanke der Wissenschaften, erschöpft sich aber nicht in einer Zweckrationalität.

Vernunft ist ein geistiges Vermögen des Menschen zur Erkenntnis. Sie ist nach abendländischer philosophischer Tradition sein Wesensmerkmal.

Rationalität bezeichnet dagegen ein Verfahren zur Optimierung von möglichen Ergebnissen (auch ein Begriff aus der Wirtschaft). In den Naturwissenschaften wird Rationalität zunehmend instrumentell verstanden, sie ist im Grunde ein Prinzip der Nutzenmaximierung.

Genau diese Verengung der Rationalität wurde von Philosophen wie Nietzsche, Heidegger oder Adorno kritisiert. Auch Soziologen, wie Max Weber, sahen in Rationalisierung keine Durchsetzung von besserem Wissen oder Anwachsen von Wissen. Er erkannte darin eher die Durchsetzung einer bestimmten Weltsicht.

Zweckrationalität als Handlungsmotiv führe die Menschheit in ein „stählernen Gehäuse der Hörigkeit“, wenn andere Motivationen wie zum Beispiel Tradition wegfallen.

 

Jaspers: die Grenzen der Wissenschaft

„Wir können das, was geschehen ist, nicht als notwendig erkennen, so wenig, wie wir die Zukunft als notwendig kommend, ansehen können (…) Denn was in der Vergangenheit geschah, hat immer seine Ursprünge auch in menschlichen Handlungen, und diese menschlichen Handlungen beruhen irgendwo auf Freiheit.“

Der Philosoph nannte den Glauben an die vollständige Überschaubarkeit der Welt durch die Wissenschaften den “wissenschaftlichen Aberglauben”.

Es ist gerade Mal ca. 50 Jahre her, da warnte Jaspers davor, die partikulare und perspektivische Sicht der empirischen Wissenschaften als Weltganzes anzusehen. Das ist s. E. schon daran erkennbar, dass uns Weltwissen & Technik in Grenzsituationen (Kampf, Leid, Tod etc.) nicht weiterhelfen.

All die Warnungen brachten jedoch wenig. Stattdessen wird der Fortschrittsoptimismus durch die Ökonomisierung aller Lebensbereiche (des Menschen) weiter ausgeweitet und als ideal zementiert.

Die neoliberale Ideologie des unendlichen Wachstums, der unendlichen Weiterentwicklung zum Besseren, gipfelt im Selbstoptimierungswahn, der nichts anderes ist als eine moderne Art der Selbstentfremdung.

Evtl. interessant für Dich: Was dich nicht umbringt, macht stärker – Wachstum nach Trauma?

 

Leben & Welt sind nicht hinlänglich durch quantifizierbare Werte erklärt.

Auffällig ist die heutige Analogie-Setzung zu technischen Entwicklungen. Alles Menschliche & Soziale wird mit technischen Begriffen umschrieben und mit Technik durchwirkt.

Eine Entwicklung vom mechanistischen Menschenbild zum technischen Menschenbild. Ist das nicht ein naiver, utopischer Fortschrittsoptimismus, der längst überholt sein sollte?

 

Reduktionismus der (Natur-) Wissenschaften

Gerade die Allgemeinheit weiß jedoch gar nicht, wie reduktionistisch die Naturwissenschaften sein müssen, um zu ihren Beschreibungen und Deutungen zu gelangen.

Eine wissenschaftliche These oder Experiment hat reproduzierbar zu sein, um anerkannt zu werden. Und das setzt ein determiniertes Setting voraus, das explizit mit technischen Mitteln analysiert wird.

Klar, empirische Experimente müssen ihrem Namen nach so gestaltet sein, dass sie messbare Ergebnisse liefern. Notwendige Voraussetzung: eine Situation wird soweit von der Lebenswelt und ihren Fluktuationen isoliert, um Versuche wiederholbar und quantifizierbar zu machen.

Experiment (als Kunst-Welt) und Alltagswelt unterscheiden sich aber stark

Von einer Studie unter bestimmten, konstruierten Bedingungen lassen sich Erkenntnisse ableiten. Doch diese Erkenntnisse dürfen nicht eins zu eins auf die natürliche Welt übertragen werden. Allein schon, weil dann allerlei Variablen auftauchen, die im Experiment problemlos ausgeschlossen wurden.

Bereits die Rolle der Wissenschaftler*innen ist eine beeinflussende Variable:

„Niemand, der auch nur als einigermaßen methodologisch reflektiert gelten will, kann heute mehr so tun, als könne er quasi unbeteiligt, objektiv und unschuldig diese Welt in ihren geografischen oder psychologischen Aspekten beschreiben oder gar vermessen.“ (Kriz, 3)

 

Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich eigentlich nicht um ein Bild der Natur, sondern nur um ein Bild unserer Beziehungen zur Natur”

– Heisenberg


Medikalisierung und Evidenzbasierte Medizin (EbM)

Dennoch kritisieren Fachleute seit Jahren eine Medikalisierung der Gesellschaft. Medikalisierung beschreibt, grob gesagt, die naturwissenschaftliche Erklärung von gesundheitlichen und krankhaften Phänomenen, die sich ausschließlich auf somatische Ursache-Wirkungs-Prinzipien konzentriert.

Die Folge ist eine Vormachtstellung der Evidenzbasierten Medizin, die sich allein auf „die Wirksamkeit von abgegrenzten Einzelfaktoren, bezogen auf abgegrenzte Symptome, unter streng kontrollierten Laborbedingungen“ (1) stützt und keine anderen Wirksamkeitsnachweise anerkennt. Woran kommerziell orientierte Pharma-Unternehmen übrigens nicht unbeteiligt waren. (Vgl. auch Pathologisierung)

Aber: „Man kann auch einen Fehler begehen, wenn man glaubt, die durch Forschung gewonnene Evidenz spreche für sich. Die gewonnenen Daten müssen wahrnehmbar gemacht, wahrgenommen, interpretiert, diskutiert werden, um handlungsleitend wirken zu können. Diese Ebene ist der Wissenschaft inhärent, nicht äußerlich. In der Konzentration auf die Evidenz kann die Gefahr liegen, dass die Bedeutung des Prozesses der Interpretation und Vermittlung der Daten unterschätzt wird.“ (6).

Vgl. Ursachen psychischer Erkrankung – Warum werden Menschen psychisch krank?

 

Der neuronale Determinismus

Eine Folge von ökonomisierter Wissenschaft & Medikalisierung ist der (immer noch) weit verbreitete neuronale Determinismus. Die meisten Naturwissenschaftler und Mediziner sind der Ansicht, Willens- und Handlungsfreiheit sind nur subjektive Konstruktionen. In Wirklichkeit sei der Mensch von neuronalen Prozessen geleitet, den messbaren Gehirnaktivitäten.

Das Subjekt ist determiniert, von informationsverarbeitenden Vorgängen im Zentralen Nervensystem bestimmt, das wie eine Art Computer funktionieren soll. Das populärste Paradigma der Psychologie ist immer noch die klassische Konditionierung gemäß Pawlow.

  • mit dem sogenannten Libet-Experiment: Der Physiologe entdeckte, dass Entscheidungen und Handlungen ein elektrisches Signal im Gehirn vorausgehe. Neurobiologen und Psychologen begründen mit diesem Experiment eine Absage an den freien Willen (Singer, Roth). Libet selbst soll diese Annahme nicht geteilt haben und neue Versuche zeigen, dass der Mensch sehr wohl nach neurologischer Stimulation noch gewisse Wahlfreiheit hat (5).

Erst im Jahr 2007 bemerkte J. G. Reich, mit welcher Leichtigkeit viele Mediziner Kausalität & Determination auf ein metaphysisches Prinzip übertragen.

Der Biologe erinnerte an die Entstehung der Evolutionswissenschaft: Sie war eine historische Beschreibung, keine Faktizität. Kausalzusammehänge wurden nur indirekt diskutiert (1).

Heute in der Moderne ist das freilich anders.

Die Erkenntnisse der Evolutionswissenschaft werden als zentrale Ursachen für das körperliche, psychische und geistige Setting des Menschen interpretiert (zum Beispiel die beliebte Polyvagaltheorie).

 

Fazit: Entmenschlichte Menschenbilder

Was ist jetzt genau das Problem? Was will ich mit diesem Text sagen? Mir geht es um die Rolle der (Natur)Wissenschaft und ihre Bedeutung für unsere Lebenswelt. Ich habe den Eindruck, die meisten Menschen in unserer Gesellschaft setzen wissenschaftliche Aussagen mit einer absoluten, eindimensionalen Wirklichkeit gleich.

Die Wissenschaften haben aber (normalerweise) ein ganz anderes Selbstverständnis: sie dienen der Deskription, sie ordnen und kategorisieren Wissen.

Wissenschaftliche Experimente sind damit der Heuristik verbunden (= Methoden, die Erkenntnisse erweitern, aber selbst kein hinlänglicher Beweis oder eine Lösung sind). Wissenschaft bildet keine physischen oder metaphysischen Entitäten ab bzw. ist mit dem Seienden identisch.

Der Kategoriefehler besteht in der Deutung, der Übertragung von experimentellen Ergebnissen auf die Lebenswelt: ein methodisches Prinzip, das Verständnis & Aufklärung fördern soll, wird zu einem metaphysischen Normprinzip, das den Blick einschränkt anstatt erweitert.

Die empirischen Wissenschaften liefern uns Ausschnitte der Wirklichkeit unter Berücksichtigung einer speziellen Perspektive.

Das ist gut so, hat aber auch Grenzen, die ganz klar erkannt werden müssen.

Nicht nur vom Einzelnen & der Gesellschaft als Ganzes, sondern vor allem von den Wissenschaften selbst, Politik und Gesundheitswesen.


Quellen:

1) Jan-Christoph Heilinger: Naturgeschichte der Freiheit
2) Yvonne Friedrich: Willensfreiheit aus der Neuro-Perspektive. Interview mit Prof. Dr. Kai Kaila
3) Jürgen Kriz: Evidenzbasierte Medikalisierung: Folgen der methodischen Monokultur
4) Johannes Heinle: Neuronaler Determinismus
5) Christof Goddemeier: Philosophie und Psychotherapie: Das Problem des freien Willens
6) M. Eichler, R. Pokora, L. Schwentner, M Blettner: Evidenzbasierte Medizin: Möglichkeiten und Grenzen (Dtsch Arztebl 2015; 112(51–52): A 2190–2)
8) Oswald Schwemmer: Wahrheit und Wissenschaft
9) Metzler Lexikon der Philosophie: Rationalität

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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