Leid & Schmerz – Was ist Leid & das Leiden? Warum leiden wir?

Leid & Schmerz kennt jeder Mensch. Doch ab wann wird etwas zum Leid & wann leiden wir? Wie zeigt sich Leid? Auf jeden Fall gibt es Unterschiede zwischen Leid & Leiden, sowie evtl. zu Schmerz, die von Bedeutung sind und bei der Selbstreflexion helfen.

leiden-leid-schmerz.jpg

Ich habe ein Leid oder ich leide an…

„Suche im Leiden den Samen deines künftigen geistigen Wachstums, sonst ist das Leben sehr bitter.“

- Leo Tolstoi -

Was ist Leid? – Definition & Erklärung

Leid beschreibt all das, was einen Menschen belastet.

Leid ist das Erleben und Durchleben von geistig, körperlich oder sozial (Armut) empfundener Schmerzen. Die Interpretation spielt hier eine wichtige Rolle. Leid entsteht durch ein Ereignis, unabhängig, wie lange diese Phase anhält.

Der Leidende spürt bewusst oder unbewusst meist:

  • Verlust

  • Frustration

  • Angst

  • Trauer

  • Verletzlichkeit

 

Leid & Schmerz – unterschiedlich oder gleich?

Im Internet finden sich häufig Aussagen wie:

Schmerz hilft uns und will uns am Leben halten. Leiden hilft niemandem und will nur sich selbst am Leben halten. Und auch seelisch will der Schmerz uns etwas sagen: kümmere Dich, schau nicht weg, verarbeite das Geschehene, lerne dazu, sieh die Dinge auf eine neue Weise, wachse. Wenn wir das tun, heilen wir und der Schmerz verschwindet.

Kümmern wir uns hingegen nicht oder nicht ausreichend oder auf die falsche Weise, dann wird aus dem sinnvollen Schmerz sinnloses Leiden. (4)

Diese Auffassung stammt aus der buddhistischen Philosophie: Schmerz als physische und biologische Tatsache. Leid & Leiden als psychische Reaktion auf unvermeidlichen Schmerz.

Leiden entsteht demnach, weil wir den Schmerz ablehnen, anstatt ihn zu akzeptieren. Das Leid fixiert sich auf den Schmerz und kämpft quasi sinnlos dagegen an (5).

 

Aber ist das wirklich so?

 

Leid & Schmerz in der Neurophilosophie

In der Neurophilosophie ist man sich relativ einige (6): Schmerz ist eine körperliche Empfindung, Leiden ist ein Gefühl (also psychisches Phänomen). Schmerz zu fühlen war und ist evolutionsbiologisch eine Taktik, um das Überleben zu sichern. Das leuchtet ein: Der Körper zeigt uns durch den Schmerz, wo Gefahr für den Körper droht.

Irgendwann ließ sich die Evolution dann den schlauen Trick einfallen, Schmerz und Leiden zu verbinden. Leiden als Bewertung des Schmerzes, die uns ermächtigt, nicht reflexartig bei jedem Schmerz zurückzuzucken, sondern abzuwägen.

Evtl. auch interessant für Dich: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker (?)

 

Leid ist damit aber kein Festhalten am Schmerz, das sich negativ auf uns auswirkt. Leid ist somit eine Art von Reflexionsfähigkeit auf emotionaler Ebene. Welche Folgen das Leiden hat und wie es sich gestaltet, das ist individuell.

 

Leiden ist eine menschliche Grunderfahrung

In welcher Tiefe Leid empfunden wird, ist subjektiv und hängt vom Einzelnen ab, also von den eigenen Erfahrungen und Einstellungen. Ähnlich wie der Schmerz hat auch das Leid eine physische und psychische Dimension, denn Schmerz- und Leidempfinden sind neurobiologisch miteinander verbunden.

Soziologen, Philosophen und Theologen glauben, Schmerz ist überwiegend individuell. Die Existenz des Leides aber geht über das Individuelle hinweg und verbindet uns mit unseren Mitmenschen.

 

Die Kernfähigkeit:
Mitleid (Empathie)

Übrigens: Trauer ist ein Phänomen, das sich auch bei Tieren findet.

 

Ist Leid spezifisch menschlich?

Das wollten viele „Fachleute“ lange Zeit glauben: sowohl Theologen und Biologen. Doch Leid ist kein spezifisch menschliches Ding. Der Neurophilosoph Sascha Fink betont zu Recht:

"Ich denke, dass die Evolutionsgeschichte von unserer Art Leiden wahrscheinlich weit zurückreicht. Dass zumindest alle Säugetiere in einem ähnlichen Maß leidensfähig sind. Wenn wir uns anschauen, welche Formen von Leiden bei anderen Tieren möglich sind, ist wahrscheinlich die wichtigste Sache, zu fragen, als was können die sich verstehen?

Die meisten haben eine Repräsentation von ihrem Körper. Das heißt, alle werden körperlich leiden können. Manche haben auch eine Repräsentation von ihrer Stellung in der Sozialhierarchie. Das heißt, sie werden unter sozialen Umständen leiden können.

Fast alle Tiere, die so etwas haben wie Brutpflege, haben natürlich auch eine Repräsentation von ihren eigenen Kindern." (6)

Meerestiere, Reptilien, Fische, Vögel, Säugetiere – sie alle zeigen Verhaltensweisen, die auf Schmerzempfinden und eine Art Leiden hinweisen. „Vermutlich ist dies eine Welt voller Leiden. Ob wir das wollen oder nicht.“ (Fink)

 

Etymologie: Leid und Leiden (Wortherkunft)

Laut Wortgeschichte gibt es wichtige Unterschiede, die heute noch in den Begriffen mitschwingen:

  • Das Substantiv Leid ist etymologisch nicht mit dem Verb leiden verwandt. Leid geht auf die Bedeutung „Frevel, Widerwille, Böses tun, Schmerz, Sünde“ zurück. 

  • Das Verb leiden stammt dagegen von „weggehen; fahren, reisen“; im weiteren Sinne „durchmachen, durchstehen (also erleiden), dahingehen, sterben“ (3). 

  • ist nicht mit leiden verwandt

    1. von germ. *laiþa- ‘schädigend, kränkend, widerwärtig, unangenehm’

    2. verwandt mit griech. alé͞itēs (ἀλείτης) ‘Frevler’, alité͞in (ἀλιτεῖν) ‘freveln, fehlen, sündigen’, air. li(u)s ‘Ekel, Widerwille’ vergleichen und daher wohl zur Wurzel ie. *leit- ‘verabscheuen, freveln, Böses tun’ stellen.

    3. ahd. leid (9. Jh.), mhd. leit ‘das angetane Böse, Unrecht, Schädigung, Kränkung, Beleidigung, Sünde’,

    4. und in der 2. Bedeutung auch ‘durch Schädigung hervorgerufener Kummer, Schmerz, Betrübnis, Sorge

    • mittelhochdeutsch līden, althochdeutsch līdan, wohl rückgebildet aus:

    • irlīdan = erfahren, durchmachen; ursprünglich = gehen, fahren, reisen

    • germ. *leiþ–a– „weggehen; fahren, reisen“

    • Die Bedeutungsverschiebung setzt im 13.Jh. an in Richtung "ertragen, erdulden, Schaden nehmen".

 

Wenn ich also leide, dann bedeutet das nicht zwingend, dass ich abwehre oder mich widersetze (= das Leid). Im ursprünglichen Sinne bezeichnet leiden einen Prozess: Ich stehe Widrigkeiten durch, die mir notwendigerweise auf jeder Reise begegnen. Darum ist es nur richtig, das Leiden als menschliche Grunderfahrung zu verstehen.

Evtl. auch interessant für Dich: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker (?)

 

Was sind typische Leiden?

Leid ist immer noch ein recht weiter Sammelbegriff. Er beschreibt wie gesagt all das, was einen Menschen körperlich und seelisch belastet. Darunter fallen vor allem Nöte wie:

  1. Unerfüllte Bedürfnisse und Erwartungen,

  2. Verlust von geliebten Menschen

  3. Ausgrenzung von der Gemeinschaft

  4. äußere Zwänge und Einschränkungen,

  5. Alter, Krankheit und Schmerzen

 

Leidensdruck ein oder das Anzeichen von Leid?

Leid ist im heutigen Bedeutungsgebrauch eng mit Leidensdruck verbunden. Wie stark der Leidensdruck ist, hängt wiederum von unserem subjektiven Erleben ab, das Leid zum Leid macht. Sind die Folgen des Leids mit negativem Einfluss auf unser Leben und Wohlbefinden, dann ist Leidensdruck gegeben.

Leidensdruck ist aber kein Synonym für Schmerz oder Schmerzempfinden. Viel mehr spielt beim Leidensdruck die negative Konsequenz eine größere Rolle als das akute Leiden.

Leid ist da, wenn ich so sehr körperlichen oder seelischen Schmerz empfinde, dass es mein Leben negativ beeinflusst

 

Sinn des Leidens

Warum gibt es Leid? Was verursacht Leid?

Leiden ist also eine menschliche Grunderfahrung, eine tagtägliche Erfahrung. Nicht immer und permanent, doch jeder Mensch kommt ausnahmslos damit in Berührung.

Um die Frage nach dem Sinn des Leidens zu beantworten, gibt es verschiedene Ansätze:

 

1) Warum gibt es das Leid von Unschuldigen?

Berühmteste Vertreter: Christentum und Islam. Aber eigentlich befindet sich diese Fragestellung im Kern monotheistischer Religionen an sich. Das Theodizee-Problem geht immer von der Frage aus: Warum lässt Gott Leid (als Unrecht) zu?

Soll leiden einen Sinn haben, dann muss er demnach in der Askese, Lust oder seelischen Reinigung bestehen. Es ist aber auch möglich, ihm keinen Sinn anzudichten, sondern es einfach hinzunehmen, da der Wille Gottes oder des Schicksals vom Menschen nicht durchschaut werden kann.

 

2) Wie entsteht Leid? Und wie kann ich es vermeiden?

Im Buddhismus lautet die Frage dagegen: Was sind die Ursachen des Leidens? Darauf formulierte der schlaue Buddha seine berühmten 4 Wahrheiten:

  1. Es gibt kein Leben ohne Leiden

  2. die Ursache des Leidens ist die Gier nach Leben und Lust

  3. das Leiden wird aufgehoben durch die Vernichtung der Begierde

  4. die Vernichtung der Begierde wird erreicht durch das Beschreiten des edlen 8-fachen Pfades.

 

Leid & Depression – hoher Leidensdruck

Körperliche Leiden sind relativ einfach zu identifizieren. Aber wie ist es mit seelischen? Die können sich gut hinter physischen Beschwerden tarnen. Außerdem: Hochs und Tiefs kennt wirklich jeder. Und viele von uns kommen damit klar, gehört schließlich zum Leben.

In den meisten Fällen beraten wir uns dann mit Ehemann oder Ehefrau, Freunden, Familie etc. und finden zurück zur inneren Balance.

Fühlst Du Dich allerdings über Wochen psychisch und körperlich angeschlagen, leidest Du und es sind keine medizinischen Gründe zu finden, dann könnten psychische Ursachen dahinter stecken.

 

Ein Psychologe oder Psychotherapeut kann feststellen, ob Du unterschwellig psychisch leidest. Wenn Du Dir nicht ganz sicher bist, können folgende Fragen vielleicht helfen (2):

  • So kenne ich mich nicht! Fühle ich mich anders als sonst?

  • Beunruhigt mich diese Veränderung?

  • Gibt es eine Erklärung für die Veränderung?

  • Reicht diese nicht aus, um die Dauer und Heftigkeit der Beschwerden zu begründen?

  • Kann ich meine tägliche Arbeit nur noch mit Mühe verrichten?

  • Mache ich mir immer Sorgen und habe ich viel Angst?

  • Leide ich unter körperlichen Beschwerden?

  • Ist mein Schlaf gestört, schlafe ich zu wenig oder zu viel?

  • Fühle ich mich oft aggressiv, hasserfüllt, gereizt oder bin ich sehr intolerant?

  • Bin ich oft krankgeschrieben?

  • Habe ich Selbstmordgedanken?

  • Habe ich kaum noch Menschen, mit denen ich über meine Probleme sprechen kann?

  • Helfen Gespräche mit Freunden nicht mehr?

  • Fällt die Veränderung auch anderen deutlich auf?

  • Ist das schon länger als drei Monate so?

  • Ist mir das alles egal?

Die versteckte Depression

Falls Dich Deine Antworten jetzt stutzig machen, empfehle ich Dir den folgenden Blogpost (ja - natürlich auch von mir :-)

Fazit: Leid & Schmerz

Da Leid eine menschliche Grunderfahrung ist, gehört es zur Aufgabe & Herausforderung des Lebens, damit umgehen zu lernen.

Leid vermeiden, verdrängen, mit verschiedenen Mitteln betäuben oder als sonst was zu verklären, raubt Dir Deine größte Chance: Nämlich Dich daran weiterzuentwickeln.

Das ist allerdings kein Muss und nicht immer möglich: Evtl. auch interessant für Dich »Mythos: Was Dich nicht umbringt, macht Dich stärker – Wachsen wir wirklich an Krisen/Traumata?


Quellen:

1) Kaiser P. (1999) Leid/leiden. In: Auffarth C., Bernard J., Mohr H., Imhof A., Kurre S. (eds) Metzler Lexikon Religion
2) Rosemarie Piontek: Mut zur Veränderung. Methoden und Möglichkeiten der Psychotherapie. Bonn, 2009
3) Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 1993 Akademie Verlag Berlin, (dtv 3558)
4) Tim Schlenzig (mymonk): Diesen Unterschied zwischen Schmerz und Leid solltest Du kennen
5) Sabine Terhorst: Der Unterschied zwischen Schmerz und Leid
6) Karsten Möbius: Schmerz und Leid in der Evolution (Neurophilosophie)
7) Conrad Horst: Etymologie-Info. Auf www.wortherkunft.de, abgerufen am 08.12.2022

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

Zurück
Zurück

Wie fühlen sich Depressionen im Kopf an? – Die surreale Leere

Weiter
Weiter

Meditation bei Depression gefährlich - Risiken & Nebenwirkungen