Stille Ruhe: Warum Stille wichtig – Stille genießen im Kopf
Stille in Ruhe zu genießen ist gesund und hilft gesund zu bleiben. Das beweisen Studien: das Gehirn braucht die Stille, um sich zu erholen. Aber warum ertragen dann so viele Menschen die Stille nicht mehr? Oder anders gefragt: Wie viel Stille brauchen wir? Hier erfährst Du, wieso es Angst vor Stille gibt, warum Dir Momente der Stille gut tun und was sie mit Dir machen.
Die Stille ist wichtig
Für manche unerträglich. Dabei brauchen wir die Ruhe in der Stille, um geistig gesund zu bleiben und den Kopf auszuschalten.
Stille suchen & genießen
Die Stille ist heute ein knappes Gut
Brummende Autos, dudelnde Radiomusik, Stimmengewirr, das Klacken der Tastatur beim Tippen, das Ticken der Uhren – überall summt, klickt und säuselt es um Dich herum. Du und jeder andere Mensch steht im Alltag unter Dauerbeschallung.
Wie wichtig die Stille ist, um den Kopf freizubekommen und dem Körper Erholung zu gönnen, betonen aber nicht nur Buddhisten, sondern auch die moderne Hirnforschung.
Viele Menschen wollen die Stille aber gar nicht finden. Ganz im Gegenteil, sie müssen „die Stille ertragen“. Dabei ist akustische Ruhe nicht nur für Deinen Kopf eine wahre Wohltat, sondern wirkt sich auch auf Dein körperliches Wohlbefinden aus.
Was ist Stille? – Definition
Wenn jemand von Stille spricht, dann meint er keine Geräuschlosigkeit im Sinne von totaler Lautlosigkeit. Es geht hier um eine empfundene Bewegungs- und Lärmlosigkeit, eine Art signalfreier Ruhe.
Etymologisch stammt das Wort aus dem Althochdeutschen „stilli“, mit der Bedeutung ruhig, ohne Geräusch / Bewegung. Auch das Wort stillen kommt daher (weil das Baby beim Trinken ruhig ist).
Diese wohltuende Stille bietet Deinen Sinnen eine Projektionsfläche, durch die Du Dich im Raum orientieren kannst, aber nicht ablenken. Sie drängen sich nicht auf, sondern bleiben im Hintergrund. So kannst Du Dich der philosophischen Muße hingeben, ohne Zeitnot & Zeitmangel, Leistung oder Erwartung.
In dieser Stille kannst Du Dich erholen, reflektieren, wachsen. Darum spielt Stille in vielen Religionen (Buddhismus, Daoismus, Katholizismus, Pietismus etc.) eine große Rolle. Stille kann aber auch bedrohlich wirken.
Wann ist ein Geräusch leise bzw. wann ist es still?
Das Rascheln eine Blattes hat 10 Dezibel = sehr leise
ein normales Gespräch liegt bei 55 Dezibel = normal laut
Verkehrslärm hat ca. 75 Dezibel = laut & störend
Angst vor der Stille
Warum wir keine Totenstille ertragen
Der amerikanische Komponist John Cage (1912–1992) schuf 1952 das Musikstück „4‘33´‘“, in dem keine einzige Musiknote vorkommt. Als der Pianist David Tudor bei der Uraufführung des Musikstücks in New York auf die Bühne trat, klappte er den Deckel seines Klaviers zu und saß dann einfach nur da.
Es folgten 4 Minuten und 33 Sekunden lang Stille. Das Publikum soll so verwirrt und empört gewesen sein, dass einige zu reden begannen und andere aus dem Konzertsaal flüchteten.
So richtige, absolute Stille kann kein Mensch ertragen. Es fehlt die Reflexionsfläche, ohne Geräusche im Raum, ist es für Dich schwer, diesen richtig zu erfassen. Wer längere Zeit vollkommener Stille ausgesetzt ist, bei dem kommt es zu Halluzinationen.
Weiße Folter wird diese Methode bei Verhören und Gehirnwäschen genannt. Sie war bereits im Mittelalter als schweigender Raum (camera silens) bekannt.
Lärm, Hektik, Reize – Was die Reizüberflutung mit Dir macht
Anders als Deine restlichen Sinne, kannst Du Deinen Hörsinn nicht bewusst abschalten oder irgendwie beeinflussen. Ist in evolutionsbiologischer Hinsicht auch wichtig, wir mussten schließlich in der Steinzeit schnell wach werden, wenn ein Säbelzahntiger in der Nähe herumbrüllte.
In unserer modernen Welt ist jeder Mensch an einen hohen Geräuschpegel gewöhnt. Das heißt aber nicht, dass er ihn verträgt. Stressbedingte Krankheiten & Gesundheitsprobleme sind heutzutage weit verbreitet. Dazu gehören Erschöpfungsdepressionen wie auch Herzinfarkte, Verdauungsstörungen und vieles mehr.
Ein permanenter Geräuschpegel versetzt den Körper in Stress. Er ist Tag und Nacht damit beschäftigt, Hormone wie Adrenalin und Cortisol auszuschütten. Non stopp, ohne Pause. Gehirn und Körper 24 Stunden kampf- und fluchtbereit.
Tatsächlich gilt Lärmverschmutzung als „moderne Plage“, wie die WHO in einem Bericht von 2001 zum Besten gab (14)
Mich ruft zuweilen eine Stille,
die alles Tönen überschweigt
bis ein geheimnisvoller Wille
sich über meine Seele neigt.
Der sprengt im Zittern von Sekunden
dies enge Haus – die Welt ist Traum,
in ferne Täler sanken Stunden
und flüsternah ward jeder Baum.
– Gertrud von Le Fort –
Warum Stille wichtig ist
Stille reduziert den Stresspegel
und sorgt für Erholung, da dein Körper sich in der angenehmen Geräuschkulisse entspannen kann und herunterfährt. Damit ist die Stille eine Voraussetzung für Entspannung (vgl. Religion, Meditation). Laut der Attention Restoration Theory der Umweltpsychologen Rachel und Stephen Kaplan kann das Gehirn seine kognitiven Ressourcen besser regenerieren, wenn es möglichst wenig sensorischen Input erhält. Bereits 2 Minuten Stille sollen entspannender sein als ruhige Musik (12).
Stille ist Voraussetzung für eine Reihe von kognitiven Prozessen
und intensiven Denkvorgängen: sie ist Bedingung für Selbstreflexion, stärkt dein Konzentrationsvermögen, erhöht Deine Auffassungsgabe, ist notwendig fürs Lernen und sogar Musizieren. Hintergrund: Bist Du dauerhaft vielen verschiedenen Reizen ausgesetzt, ist Dein Gehirn irgendwann erschöpft und in seiner Funktionsfähigkeit eingeschränkt. »Vgl. Kognitive Verzerrung – über Denkfehler, die wir alle machen.
Stille fördert Deine Kreativität nachhaltig.
Die Forschung konnte belegen, dass Lärm Stress erzeugt und die Kreativität hemmt. Ein langsamer Hirnrhythmus fördert hingegen den Kreativitätsprozess (8).
Stille stärkt Deine kognitive Leistungsfähigkeit.
Allerdings braucht es dazu regelmäßige Auszeiten und eine längere Dauer. Das Ergebnis: Auffassungsgabe und Konzentration wurden besser und schneller.
Stille wirkt wie eine Gesundheitsprävention.
Wie bereits erwähnt, spricht die WHO davon, dass Lärm bei unglaublich vielen Europäern das Leben verkürzt (14). Mit regelmäßiger Entspannung, zum Beispiel durch Stille, lässt sich dem entgegenwirken.
Was macht die Stille mit uns?
Was macht Dein Gehirn, wenn Geräusche abklingen?
Das hat der Neurowissenschaftler Michael Wehr mit seinem Team untersucht (4) – mit Hilfe von Ratten. Das Ergebnis: Beim Verstummen eines Tons wird eine andere Gruppe von Synapsen aktiv als bei seinem Aufklang. Sobald alles ruhig ist, tritt ein bestimmtes Neuronen-Netzwerk in Aktion.
Forscher nennen dieses Areal Default Mode Network oder Ruhezustandsnetzwerk. Stille schaltet in Dir sozusagen andere Hirnregionen frei, die Dir unter normalen Umständen nicht zugänglich sind. Es ist zum Beispiel aktiv, wenn Du tagträumst. Sobald Du anfängst, einen Film zu gucken, also Reize wahrzunehmen, wird es inaktiv.
Mittlerweile existieren viele Studien, die beweisen, dass bei einem aktiven Default Mode Network im Hintergrund Informationen ausgewertet und gesammelt werden. Im Bewusstsein zeigt sich das durch innere Bilder, die plötzlich im Geist auftauchen, Ideen & Geistesblitze, die unerwartet hervorkommen. Das gilt nicht nur für Gedanken, sondern auch Gefühle.
Vgl. Depression: Bilder im Kopf – Intrusive Gedanken loswerden
Die Philosophin Ulla Lenze definiert Stille daher als (6) eine besondere Form von Kommunikation mit unserem Selbst. Vgl. auch Geist und Gehirn – Ich ist nicht Gehirn
Die Stille steht hier als Resonanzraum fürs eigene Denken.
Philosophisch wurde die Stille zwar nicht eigens behandelt (soweit ich weiß), aber sie gilt durch alle Jahrhunderte und Kulturen hinweg als erkenntnisfördernd und ausgleichend.
Nicht außerhalb, nur in sich selbst soll man den Frieden suchen. Wer die innere Stille gefunden hat, der greift nach nichts, und er verwirft auch nichts
- Buddha
Warum ertragen viele die lärmfreie Stille nicht?
Wenn viele Geräusche nicht gut für den Menschen sind, warum ertragen viele die Stille nicht (mehr)? Warum empfinden einige Leute die Stille als unangenehm, egal ob in Gesellschaft oder alleine?
Der Neurowissenschaftler Michel Le Van Quyen in Paris (5) meint, die Stimmen von anderen Personen sind Reize, die wir zur Entwicklung des Gehirns benötigen. „Die Stille stellt eine Leere dar, die bei manchen Menschen die Sorge vor Einsamkeit weckt“.
In den meisten Fällen handelt es sich aber um ein Vermeidungsverhalten. Die Dauerbeschäftigung und permanente Beschallung sorgt dafür, dass unangenehme Fragen, negative Gedanken und Gefühle verdrängt werden. Tatsächlich legen die Menschen in modernen Zivilisationen einen Aktionismus an den Tag, einen Drang nach Erfahrungen und Erlebnissen, der unserer Leistungsgesellschaft geschuldet ist.
Good Vibes Only: negative Gefühle sind nicht erwünscht und sollen aktiv bekämpft werden. Eine ständige Ablenkung durch Geräusche erfüllt genau diesen Zweck. Selbstreflexion verhindern, Problemen und Ängsten keinen Raum geben. Leider ist das nicht die Lösung, wie Du weißt, und führt oftmals zu tiefergehenden Problemen – oder psychischen Krankheiten.
Evtl. auch interessant für Dich: Was Dich nicht umbringt, macht Dich stärker (?)
Der moderne Mensch denkt nicht gern über sich nach
Eine exemplarische Studie von 2014 spiegelt genau diese Tendenz im Menschen wider: Die Teilnehmer mussten die Smartphones abgeben und wurden veranlasst, 15 Minuten lang in einem leeren Raum auf einem Stuhl zu sitzen. 15 Minuten sitzen – still sein – denken.
Das Resultat: Die meisten empfanden die Stille als extrem unangenehm. Es gab eine 2. Variante des Experiments, diesmal mit einer Ausweichmöglichkeit in Form eines Knopfes, mit dem die Testpersonen sich selbst stechende Elektroschocks verpassen konnten. 2/3 der Männer und 1/4 der Frauen fügten sich lieber Schmerzen zu, als die Stille komplett zu ertragen. (17)
Wie viel Stille brauchen wir?
Ein Indiz für diese Frage fand 2013 Gerd Kempermann vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Dresden bei Experimenten mit Mäusen heraus (3)- Dabei zeigte sich: Das Gehirn wuchs dank der Stille bei den Tieren. Und zwar in den Arealen, die für Gedächtnis und Lernfähigkeit zuständig waren.
Ausschlaggebend für das Wachstum neuer Nervenzellen waren 2 Stunden tägliche Stille-Einheiten. Nur dann wuchsen die Gehirnzellen, die für Gedächtnis und Lernfähigkeit zuständig waren. Die Forscher vermuten, dass die gleichen Effekte auch beim Menschen relevant sind und ähnlich funktionieren.
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Fazit: Stille Ruhe finden & genießen
Gönn’ Dir akustische Auszeiten
Wie viel Stille ein Mensch braucht, ist Typsache und eine Frage des Charakters. Wie so oft im Leben kommt es hier aber nicht auf eine besonders lange Dauer an, sondern auf die Regelmäßigkeit.
Du kannst Dir jeden Tag 15–30 Minuten lang Stille gönnen
Du kannst 1–2 x pro Woche 2 Stunden Stille genießen
Du kannst Dich auch ein ganzes Wochenende darin üben (entsprechende Angebote von Klöstern, Meditationslehrern & Co. gibt es genug)
Wichtig ist lediglich, dass Du Dir diese erholsame Zeit für Dich regelmäßig nimmst.
Quellen:
1) Anna von Hopffgarten: Stille: Warum das Gehirn Ruhe braucht
2) M. Franke: Gehirnforschung: Warum Stille für Gesundheit, Erfolg und Glück essentiell ist
3) Steve Ayan: Das Gehirn beim Tagträumen – Flieg, Gedanke, flieg!
4) Michael Wehr et.al.: "Nonoverlapping Sets of Synapses Drive On Responses and Off Responses in Auditory Cortex" (Studie 2010)
5) Gehirn & Geist – Stille: Warum unser Gehirn akustische Auszeiten braucht (Hrsg. Spektrum der Wissenschaften)
6) Ulla Lenze: Ein Ort in uns – Warum die Stille immer schon da ist
7) L Bernardi et.a.: Cardiovascular, cerebrovascular, and respiratory changes induced by different types of music in musicians and non‐musicians: the importance of silence (Studie 2006)
8) Andreas Fink und Mathias Benedek: EEG alpha power and creative ideation (Studie 2014)
9) Imke Kirse et.al: Is silence golden? Effects of auditory stimuli and their absence on adult hippocampal neurogenesis (Studie 2013)
10) Burkhard Heidenberger: 4 Gründe, warum Stille wichtig ist & 5 Tipps für den Alltag
11) Lisa-Marie Jeschina: Ruhephasen fördern das Gehirn und schützen vor stressbedingten Krankheiten
12) Stephe Kaplan: the restorative benefits of nature: Toward an integrative framework (Studie 1995)
13) Frederike Ostermeyer: Was im Gehirn passiert, wenn es still wird
14) World Health Organization: Burden of desease from environmental noise. Quantification of healthy life years lost in Europe (Studie 2011)
15) Linda Berger: Pssst: Warum Stille unserem Gehirn guttut
16) NORAH-Lebensqualitätsstudie (2015)
17) Timothy D. Wilson et.al: Just think: The challenges of the disengaged mind (Studie 2014)