Kohärenzsinn (Kohärenzgefühl) – Trend oder Krisenkraft?

Das Kohärenzgefühl ist laut Salutogenese nach Antonovsky ein entscheidender Faktor für die psychische Gesundheit des Menschen. Doch was ist der Sinn für Kohärenz eigentlich? Und stärkt ein gutes Kohärenzgefühl in Krisen und Not wirklich die Psyche?

Kohärenzgefühl und Kohärenzsinn

Der Sinn für Kohärenz (sense of coherence)

Kohärenzgefühl und Vertrauen ins Dasein sind besondere Eigenschaften des Menschen. Verstehen, Vertrauen und Zuversicht fördern unsere Gesundheit. Doch wie gut schützt das Kohärenzgefühl in Krisen?

 

Inhaltsverzeichnis: Kohärenzgefühl / Kohärenzsinn

  • 1) Verstehbarkeit & Kohärenzgefühl

  • 2) Bewältigbarkeit & Kohärenzgefühl

  • 3) Sinnhaftigkeit & Kohärenzgefühl


Salutogenese: Was macht Menschen gesund?

Was lässt Menschen die widrigsten Umstände überstehen, während andere daran zugrunde gehen?

Welche Fähigkeiten helfen dem Menschen nach unerträglichen Erfahrungen, wieder gesund zu werden oder gesund zu bleiben?

Kohärenzgefühl / Kohärenzsinn nach Antonovsky

Damit beschäftigt sich die Salutogenese, von Aaron Antonovsky begründet. Sein Konzept soll eine Alternative zur Pathogenese bilden, in der die Frage nach der Ursache von Krankheiten den Schwerpunkt bildet. Die Salutogenese fragt dagegen:

  • Warum bleiben Menschen trotz potenziell gesundheitsgefährdender Einflüsse gesund?

  • Wie schaffen es Menschen, sich von Krankheiten wieder zu erholen?

  • Was ist das Besondere an Menschen, die trotz extremer Belastung nicht krank werden?

Kohärenzsinn als psychische Ressource

Der Gesundheitswissenschaftler Antonovsky interessierte sich vor allem für die psychosozialen Ursachen von Heilung und Gesundheit. Diese Widerstandsressourcen sind bspw. im Individuum und in seiner sozialen Umwelt, aber auch in seiner Lebens- und Arbeitswelt zu finden.

  • Im Individuum: Immunsystem, Intelligenz, Bildung oder Bewältigungsstrategien.

  • In der sozialen Umwelt: Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen, soziale Zugehörigkeit, aber auch materielle Ressourcen: Geld und Arbeit.

    Evtl. auch interessant für Dich: Psychosoziale Faktoren der Depression

Das Modell der Salutogenese ist komplex

 

Besonders bekannt ist seine Arbeit mit Frauen, die das Konzentrationslager der Nazis überlebt hatten. Nicht nur das: einige von ihnen blieben sogar bis zum Lebensende seelisch und körperlich gesund – trotz all der krassen Erlebnisse.

Antonovsky untersuchte, was genau diesen Frauen geholfen hatte, wieder gesund zu werden oder zu bleiben. Die Antwort: ihr Kohärenzgefühl.

Kohärenzsinn Definition Bedeutung

Kohärenzsinn: Definition – Was ist das?

Das Kohärenzgefühl (engl. Sense of coherence) beschreibt eine Grundhaltung zum Leben und der Welt, die davon getragen wird, dass das Leben sinnvoll und erfolgreich zu leben ist, selbst wenn Rückschläge und Schwierigkeiten auftreten.

Antonovsky selbst beschrieb es als:

„… Eine grundlegende Lebenseinstellung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß jemand ein alles durchdringendes, überdauerndes und zugleich dynamisches Gefühl der Zuversicht hat, dass eine innere und äußere Erfahrenswelt vorhersagbar ist und eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich die Angelegenheit so gut entwickelt, wie man vernünftigerweise erwarten kann.“ (1979)

 

Kohärenzsinn bzw. Kohärenzgefühl bedeutet:

Das Leben als verstehbar, bestehbar und sinnvoll zu erfahren. Ein starkes Gefühl für Kohärenz, also ein gutes Kohärenzgefühl, beeinflusst die Gesundheit positiv. Ein geringer Kohärenzsinn wirkt sich negativ aus.

 

3 Säulen des Kohärenzgefühls

Der Kohärenzsinn gründet sich auf 3 Ebenen. Die 3 Komponenten stehen in einer dynamischen Wechselbeziehung, sie beeinflussen sich gegenseitig:

  1. Verstehen

  2. Handlungsfähigkeit

  3. Sinnhaftigkeit

 

1) Verstehbarkeit (comprehensibility)

Kohärenzgefühl als Urvertrauen

Wie wir aus der Psychologie wissen, spielt es eine entscheidende Rolle, wie Du die Welt siehst. Wie Du die Dinge interpretierst, die Dir und anderen passieren.

Das bedeutet, dass Du Erlebnisse nicht als willkürlich und chaotisch wahrnimmst, sondern in einen geordneten und erklärbaren Zusammenhang bringen kannst. Es geht darum, zu begreifen, was um Dich herum geschieht und es auch zu verstehen.

Ein Blitzanschlag ist dann keine willkürliche Laune Gottes, sondern ein naturwissenschaftliches Phänomen.

 

2) Bewältigbarkeit (manageability)

Kohärenzgefühl & Bewältigbarkeit

Ich spreche hier lieber von Selbstwirksamkeit. Du bist kein passives Opfer der Umstände, Du gestaltest viele Situationen und Verhältnisse aktiv mit.

Klar, nicht immer hast Du einen Einfluss, doch Dein Spielraum zeigt sich oft in den kleinen Entscheidungen, Gedanken und Haltungen.

Es geht nicht um Kontrolle, sondern um das Vertrauen darin, dass Du Fähigkeiten und Möglichkeiten hast, widrige Umstände zu meistern. Dass etwas machbar ist. Zu diesen Ressourcen zählen auch Vertrauenspersonen wie Ehepartner, Familie oder Freunde.

Wie entsteht das Bewusstsein für Bewältigbarkeit? Durch das richtige Maß an Herausforderung. Nach manchen Forschern (6) spielt hier das Erleben von ausgewogener Belastung statt Unter- und Überforderung eine entscheidende Rolle.

 

3) Sinnhaftigkeit (meaningfulness)

Kohärenzgefühl und Sinnhaftigkeit

Ohne Sinn gibt es kein Warum und dadurch keine Kraft, keine Energie, kein Leben, keinen Willen.

Wir kennen das von Krankheiten wie der Depression. Ohne Bedeutung und Ziel neigt der Mensch zum Selbstmord, so schrecklich ist diese Leere.

Das Gefühl der Sinnhaftigkeit macht erlebbar, dass sich Anstrengungen und Mühen lohnen. Es ergibt Sinn, sich für etwas zu engagieren, auch wenn es Kraft und Nerven kostet.

Dazu Frankl: “Mensch-Sein ist immer auf etwas gerichtet, das nicht wieder es selbst ist – auf etwas oder auf jemanden, auf einen Sinn, den da ein Mensch erfüllt, oder auf anderes menschliches Sein, dem er da begegnet.

 

Kohärenzsinn & Stressoren

Man besitzt einen stabilen hohen oder niedrigen Kohärenzsinn, wenn alle 3 Säulen stark oder schwach ausgeprägt sind.

  • Hohe Handhabbarkeit ist von hoher Verstehbarkeit abhängig. Wenn Du alles für chaotisch, unberechenbar und nicht zu erklären hältst, wirst Du nicht glauben können, dass Du in der Welt zurechtkommst.

  • Ein hohes Maß an Verstehbarkeit bedeutet nicht zwangsläufig, dass man ein hohes Maß an Handhabbarkeit besitzt.

  • Die motivationale Komponente der Sinnhaftigkeit hat den größten Einfluss.

 

Kohärenzsinn stärken bedeutet:

Selbstwertgefühl & Selbstvertrauen stärken

Wie lässt sich das Kohärenzgefühl im Erwachsenenalter stärken? Was kannst Du tun, um Dein Urvertrauen bzw. mangelndes Selbstwertgefühl aufzubauen?

Obwohl sich laut Antonovsky der Kohärenzsinn hauptsächlich bis zum 30. Lebensjahr ausbildet, vermuten viele Forscher, dass er sich danach auch noch beeinflussen lässt.

Hier helfen Maßnahmen, die Dein Selbstwertgefühl steigern und Dein Selbstvertrauen festigen. Zum Beispiel:

  • Übungen zur Achtsamkeit, zum Beispiel Meditation, Yoga, Qigong

  • Zeit in der Natur verbringen und mit allen Sinnen erleben

  • Selbstreflexionen, zum Beispiel Tagebuch führen

  • körperliche Bewegung, regelmäßig

  • soziale Kontakte pflegen, die guttun

  • sich kreativ betätigen, zum Beispiel Schreiben, Singen, Tanzen, Malen, Töpfern etc.

 

Kohärenzsinn wirklich ein Schutzfaktor?

Okay, jetzt wissen wir zwar: Die innere Einstellung zum Leben wirkt sich schützend auf die seelische Gesundheit aus. Aber wie stark ihr Schutz ist, bleibt fraglich.

Denn spätere Untersuchungen (8, 14) weisen darauf hin, dass besonders traumatische Erlebnisse eine enorme Auswirkung auf Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und auch Bewältigbarkeit haben und sie im Laufe des Lebens herabsenken.

 

Ein vereinender Ansatz lautet:

Ein guter Kohärenzsinn kann bei alltäglichen und chronischen Stressoren schützen, durch traumatische Erfahrungen aber ausgehebelt werden.

Vgl. auch Entwicklungstrauma – Wenn Menschen ein negatives Selbstbild prägt

Auch interessant: neuere Studien zeigen, dass ein niedriges Einkommen und geringer Bildungsgrad zu schlecht ausgeprägten Gefühlen von Kohärenz führen (– kein sehr überraschender Befund, wenn Du mich fragst).

 

Der Einfluss von Lebensumständen

Unterschiedliche Lebensumstände beeinträchtigen das Kohärenzgefühl eines Menschen erheblich – und damit die mentale Gesundheit. Zentrale Aspekte sind dabei:

1. Soziale Benachteiligung: Menschen aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen haben nur eingeschränkten Zugang zu Ressourcen, darunter Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Netzwerke, die für ein starkes Kohärenzgefühl wichtig sind.

2. Trauma und Verlust: Traumatische Erlebnisse, wie Gewalt, Missbrauch oder der Verlust eines geliebten Menschen, prägen die Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit der eigenen Erfahrungen stark. 

3. Kulturelle Unterschiede: Kulturelle Kontexte spielen ebenfalls eine Rolle bei der Wahrnehmung des Kohärenzgefühls. In Kulturen, die weniger Wert auf Individualität und persönliche Erfüllung legen, wird der Kohärenzsinn auf andere Weise definiert und gestärkt. 

5. Lebensereignisse und Übergänge: Lebensveränderungen, sei es eine Scheidung, der Verlust des Arbeitsplatzes oder der Eintritt in den Ruhestand, bringen oft Unsicherheiten mit sich, die das Gefühl von Verstehbarkeit und Kontrolle untergraben. Inwieweit ein Mensch mit diesen Veränderungen umgehen kann, hängt u. a. von seinem Umfeld ab.

 

Fazit: Kohärenzgefühl / Kohärenzsinn

  • Das Kohärenzgefühl (engl. Sense of coherence) ist eine Grundhaltung zum Leben: Die Welt wird als verstehbar, bewältigbar und sinnhaft verstanden. Im Grunde handelt es sich also um ein Synonym für Urvertrauen.

  • Sinnhaftigkeit ist der wichtigste Faktor für ein stabiles Kohärenzgefühl.

  • Dein Kohärenzsinn lässt sich festigen, indem Du an Deinem Selbstwertbewusstsein arbeitest. Dadurch unterscheidet sich das Konzept aber nicht wesentlich von anderen psychotherapeutischen Maßnahmen.

  • Gute Möglichkeiten, Deinen Selbstwert zu stärken, sind zum Beispiel:


Quellen:
1) Andreas Stock: Was uns gesund macht
2) IDAG: Institut für präventive Diagnostik, Aktivitäts- und Gesundheitsförderung
3) Viktor E. Frankl: ...trotzdem Ja zum Leben sagen – ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (sehr lesenswert!)
4) Viktor E. Frankl: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn (1986)
5) BzgA: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
6) Antonovsky, A.: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit (1997)
7) Mertens, G.: Balancen – Pädagogik und das Streben nach Glück
8) Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung
9) Dorsch Lexikon der Psychologie
10) Andreas Müller: die Schule schwänzt das Lernen – Kohärenzgefühl
11) Dr. med. Eckhard Schiffer: Wie Gesundheit entsteht
12) Jesper Dieckmann: Mit Resilienz das Leben meistern
13) Prof. Dr. Leischik: Präsentation „Das salutogenetische Modell und der Tod“ (Universität Witten/Herdeck)
14) Dr. Ilona P. Kryl: Salutogenese und Coaching – Positive Ressourcenbildung

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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Erschöpfungsdepressionen – ausgebrannt, müde & überlastet

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