Schriftsteller mit Depression – Über Genie & Wahnsinn
Gibt es die sprichwörtliche Verbindung zwischen Genie & Wahnsinn wirklich? Dichter, Romanautoren, Essayisten – es ist auffällig, wie viele berühmte Autoren mit Depressionen & anderen psychischen Problemen kämpften. Aber warum sind Literaten so oft betroffen?
Psychische Krankheiten & Literaten
Überdurchschnittlich oft sind Schriftsteller von psychischen Krankheiten betroffen. Aber warum?
Depressionen in der Literatur
Virginia Woolf hatte es. Kafka hatte es. Und auch Hesse hatte es.
Eine außergewöhnliche Schaffenskraft, die mit einem seelisch-psychischen Leiden einherging.
Und sie sind nicht die einzigen Vertreter aus der Zunft der berühmten Schriftsteller, bei denen die Verbindung von psychischer Krankheit und Kreativität so offensichtlich wirkt.
Sind Autoren häufiger psychisch krank?
Zumindest scheint es so. Verschiedene Untersuchungen (1) belegen, dass unter den berühmten Künstlern früherer Epochen die Schriftsteller zahlenmäßig am stärksten von psychischen Krankheiten betroffen waren. Ebenso ist die Rate an Alkoholabhängigkeit und Suizid in dieser Gruppe exorbitant groß.
Tatsächlich bestätigt eine schwedische Langzeitstudie aus dem Jahr 2012 (4) genau das. Autoren scheinen wirklich ein höheres Krankheitsrisiko zu haben. Dazu wurden kreative Berufe mit anderen verglichen und die Daten von Wissenschaftlern, hauptberuflichen Künstlern, deren Verwandten und anderen Berufszweigen untersucht.
Das Ergebnis überrascht: denn die Forscher bescheinigen allen Kreativberufen ein höheres Risiko an einer bipolaren Störung zu erkranken. Die Schriftsteller unter den Kreativen haben sogar noch zusätzlich ein großes Risiko für andere Krankheiten, zum Beispiel Depressionen.
Im Vergleich zu Forschern, Fotografen oder Tänzern zeigten sich Literaten als besonders stark gefährdet. Zudem war bei ihnen die Wahrscheinlichkeit für Selbstmord um satte 50 % größer als bei nicht-kreativtätigen Vergleichsgruppen.
Braucht das Genie den Wahnsinn?
In Soziologie, Biologie, Literaturwissenschaft und Philosophie kommen daher immer wieder die Fragen auf:
Haben Menschen mit psychischen Abweichungen ein besonderes Talent?
Befähigt sie die psychologische Auffälligkeit erst dazu, außergewöhnliche Werke zu schaffen?
Kurz-Überblick: Studienergebnisse zum Thema “Genie & Wahnsinn”
Mittlerweile gibt es mehrere Studien, die diese These bestätigen (13):
Auffällig ist, dass große kreative Leistungen wirklich sehr sehr häufig mit psychologischen Auffälligkeiten zusammenfielen
Der Autismusforscher Simon Baron-Cohen fand zum Beispiel heraus, dass verschiedene kreative Berufsgruppen aus dem Bereich Technik (v.a. Mathematik, Physik und Informatik) höher auf einer Autismusskala punkten als Berufsgruppen, die sich eher mit dem Menschen befassen (z. B. Medizin, soziale Berufe)
Zudem konnte Forschung zeigen, dass außergewöhnliche „Kreativköpfe“ oft aus Herkunftsfamilien stammen, die ihrerseits erhöhte Neigung zu psychopathologischen Symptomen aufwiesen.
Tatsächlich fand die genetische Forschung erste Hinweise darauf, dass dieselben Gene, die Psychopathologien wahrscheinlicher machen, auch mit Kreativität in Verbindung stehen.
Genie als genetische Veranlagung?
Für viel Aufsehen hat folgende Hypothese (7) im Jahr 2002 gesorgt, die eine Verbindung von hoher Kreativität und Depression nahe legt. Das entscheidende Gen nennt sich Neuregulin 1 und existiert in 2 Varianten (C und T).
Menschen, die auf beiden Chromosom-Kopien die T-Variante tragen, sind anfälliger für psychische Erkrankungen, finden aber auch kreativer Lösungsansätze.
Was passiert da im Kopf?
Die Neuregulin-These soll natürlich nicht als Endlösung herhalten, aber könnte ein Faktor sein, warum kreative Menschen häufiger psychisch erkranken. Das Gen hemmt den präfrontalen Cortex, was zu einer schwächeren Filterung von Reizen führen soll.
Anders als gesunde Menschen verfügen Betroffene deswegen über eine geringere “latente Inhibition” = die Fähigkeit, die Umwelt auszublenden und sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Zum Beispiel beim Gespräch im Café oder Lesen in der U-Bahn.
Gleichzeitig weiß man, dass Personen mit schwacher latenter Inhibition sehr kreativ sind.
Kreative Menschen können gut assoziieren, sie funktionieren nicht nach Schema F und sind bereit, über Grenzen zu gehen. Mit anderen Worten: Sie denken weniger gefiltert.
Es scheint also, dass der Mechanismus, der psychisch Gesunde davor bewahrt, verrückt zu werden, gleichzeitig auch die Kreativität einschränkt.
Viele Forscher vermuten, dass für künstlerische Leistungen der Filter weder zu eng noch zu weit eingestellt sein darf.
Denn wenn etwa ein Schizophrenie-Patient einen Krankheitsschub hat, dann kann er kaum malen oder dichten. Aber bei einer milden Ausprägung kann er seine Gedanken freier fliegen lassen, als es den Normalen möglich ist. (11)
Braucht das Genie den kreativen Wahnsinn?
Man könnte fast meinen, der sprichwörtliche Grat zwischen Genie und Wahnsinn sei eben bei Künstlern & Schriftstellern besonders schmal. Aber ist das wirklich so?
„In der Psychiatrie und der Medizin allgemein wird Krankheit in Kategorien von Schwarz und Weiß gesehen und man ist bestrebt, den Patienten so zu behandeln, dass alles beseitigt wird, was krankhaft erscheint“,
sagt Erstautor der schwedischen Studie, Simon Kyaga, vom Karolinska Institut in Stockholm.
Er und seine Kollegen möchten der Schwedischen Forschergruppe möchten jedoch einen anderen Ansatz sehen: die Verbindung von Kreativität & psychischen Störungen:
So könnten bestimmte Aspekte einer Krankheit vorteilhaft sein. Eben die außergewöhnliche Kreativität.
Bahnbrechende, neue Idee?
Nope. Die Idee hat einen uralten Bart. Aber so richtig uralt. Dass Melancholie (so wurde die Depression in früheren Epochen genannt) ein Merkmal von Genialität ist und erst zu großen Taten beflügle, ist keine Erfindung der Neuzeit.
Mehr dazu: Depression in Antike, Mittelalter & Neuzeit
Das melancholische Genie hat Tradition
Bereits in der antiken Philosophie erfuhr die Krankheit gegenüber der medizinischen Sicht (bei Hippokrates & Co.) eine Aufwertung und galt als herausragendes Merkmal großer Geister.
Theophrast, ein Schüler von Aristoteles, schrieb vor mehr als 2.300 Jahren:
„Warum sind alle überragenden Männer Melancholiker?“
Wir brauchen aber gar nicht soooo weit zurück in die Vergangenheit, um dem Genie-Melancholie-Kult auf die Spur zu kommen.
Auch Goethe steht zum Beispiel unter Verdacht, seine Schaffenskraft aus seelischen Krisen bezogen zu haben. Das gleiche gilt für Schiller, Herder, Heine und viele viele mehr.
Und auch von anderen großen Geistern sind Aussagen wie die von Schopenhauer bekannt: „Das Genie wohnt nur eine Etage
höher als der Wahnsinn“
Genie dank Wahnsinn
– Führen Krankheiten der Psyche zu mehr Schaffenskraft?
Zuletzt hatte 2011 der amerikanische Psychiater Nassir Ghaemi die These vertreten, dass geistig instabile Personen die besten Krisen-Manager seien.
Laut ihm soll auch Ghandi unter Depressionen gelitten haben, ebenso wie es von Churchill bekannt war. Beide hätten ihre Führungskraft aus ihrem seelischen Leiden heraus gebildet.
Das Ganze ist natürlich an den Haaren herbeigezogen.
Daneben existiert eine Studie (8), die anscheinend beweist, dass Menschen mit kreativen Berufen ein um 25 % höheres Risiko für geistige Erkrankungen besitzen. Weitere Studien haben gezeigt, dass Menschen in kreativen Berufen auffallend oft eine bipolare Störung haben (9).
Mildes Inhibitionsdefizit stärkt Kreativität, ohne krank zu machen
Die Studie des schwedischen Karolinska Istituts (8) scheint genau diesen Umstand direkt belegen zu können.
Die Verwandten der Kranken, die ebenfalls untersucht wurden, waren häufiger Künstler und Wissenschaftler. Die Forscher vermuteten, dass auch sie eine geringe latente Inhibition besaßen. Sie seien nicht krank, weil das Filtersystem stark genug wäre.
Aber sie wären kreativer, weil das Filtersystem etwas schwächer ausgeprägt sei, verglichen mit anderen nicht-kreativen Berufen.
Weitere Theorien über Literatentum & Krankheit
Warum trifft es gerade Schriftsteller so oft?
Zwar gibt es zahlreiche Studien zu bekannten Persönlichkeiten mit psychischen Problemen (Kafka, Nietzsche, Woolf etc.), aber es existieren lediglich Vermutungen, wie Autorenschaft und psychische Leiden zusammenhängen.
1) Schriftsteller überlasten ihr Gehirn
Eine wahnsinnig geistreiche These 😂
Laut dem britischen Psychiater Felix Post (12) überlasten Schriftsteller ihr Gehirn durch ihre Vorstellungskraft, wodurch es zu „Kurzschlüssen“ im Gehirn kommt, was zu psychischen Störungen führt. Dazu untersuchte er 100 amerikanische und britische Autoren.
2) Ständiges Nachdenken über sich selbst
Um einiges schlauer ist der nächste Kandidat.
Der Psychiater Andrew Solomon meint, dass Schriftsteller besonders häufig an Depressionen leiden, da sie durch ihre Arbeit von Natur aus damit beschäftigt sind, sich dauernd über sich und die Welt Gedanken zu machen und alles in Frage zu stellen.
Vielleicht ein Faktor, der mitspielt…jedenfalls plausibler als die Theorie von Post.
3) Durch Werke angreifbar & ungeschützt
Die nächste These ist ist auch nicht berauschend. Aber zur Vollständigkeit will ich sie erwähnt haben.
Die angeblich am häufigsten vertretene Meinung zu diesem Thema ist, dass Schriftsteller, da sie sich durch ihre Werke am offensten, am ungeschütztesten offenbaren können, sich dadurch innerlich sehr stark belasten. Und das führt zu seelischen Störungen.
Geistige Krankheiten sind nicht produktiv
Ehrlich, Leute, ich würde zwar gerne etwas anderes sagen, aber Depressionen und andere psychische Störungen hemmen in der Regel die Produktivität. Geistig und körperlich.
Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, sieht das ähnlich: „Depression ist eine schwere Erkrankung, bei der kleinste Aufgaben zu einem großen Berg werden und die Betroffenen oft kaum mehr in der Lage sind, sich selbst zu versorgen.“
Gleichzeitig bemerkt Hegerl aber auch: „Depressionen führen wie jedes schwere Leiden zu einer inneren Differenzierung, zu tieferem Nachdenken über unser Leben, und das ist ja Voraussetzung für künstlerisches Schaffen. (…) „Wir haben als Menschen das Bedürfnis, allem einem Sinn zu geben, selbst dem Leiden in einer Depression. Deshalb kann es gut möglich sein, dass Menschen diese Erkrankung nicht wie einen Fremdkörper, sondern als Teil ihres Lebensgemäldes wahrnehmen.“
Der letzte Satz hat es durchaus in sich.
Ich zitiere nur Virginia Woolf, die sich in kreativen Schaffensphasen beim Schreiben so sehr erschöpfte, dass sie danach monatelang Erholung brauchte. Sie selbst sah ihre Krankheit aber mythisch-therapeutisch:
„Wenn ich noch zwei Wochen im Bett zubringen könnte (Es ist aber unmöglich), so meine ich, würde ich „Die Wellen“ beenden.....ich glaube, in meinem Falle sind diese Krankheiten gewissermaßen mythisch. Etwas geschieht mit meinem Geist (…) Es ist ein einziges Leiden, und dann entsteht etwas daraus.“ - Virginia Woolfs Tagebuch, Eintrag im Jahre 1930.
Psychologische Auffälligkeiten als Begabung sehen?
Interessant ist der Ansatz alle mal! Im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung, sollen psychische Krankheiten wie Autismus, ADHS und Narzissmus nicht als gesellschaftsschädlich angesehen werden, sondern als Begabung, die in einem bestimmten Kontext positive Wirkungen zeitigt.
Erinnert mich an die kognitive Verhaltenstherapie: auch dort werden Menschen nicht als krank abgestempelt, sondern als Menschen mit schlechten Lernerfahrungen bzw. falsch gelernten Bewältigungsstrategien.
Positive Umdeutungen sind übrigens ein gängiges Verfahren in der Psychologie. Und es hat mittlerweile Eingang in die Arbeitswelt gefunden.
Prof. Dr. Martin Obschonka berichtet: Auch im Kontext Arbeit gibt es Anzeichen für ein Umdenken in Bezug auf die konstruktive Seite von Abweichungen. Verschiedene IT-Firmen suchen heute bereits explizit MitarbeiterInnen mit diagnostiziertem Autismus, weil diese durch ihre Detailverliebtheit und Fokussierung auf komplexe Probleme besonders geeignet für die Arbeit mit Software erscheinen.
Kritik an der These vom psychisch kranken Genie
Muss man psychisch krank sein, um außergewöhnliche Werke hervorzubringen? Muss man irre sein, um besonders kreativ zu werden?
So sehr es Dir und vielen anderen Menschen, die sich zum kreativen und geistreichen Schlag zählen, auch schmeichelt…
Sorry, so läuft es nicht..
1) Was ist zum Beispiel mit den restlichen Schriftstellern, die gesund & kreativ erfolgreich waren? Das ist immerhin noch die Mehrheit. Und auch außerhalb des Schriftstellertums finden sich sehr viele Künstler, die kreative Höchstleistungen erbringen, ohne Psychopathologien zu entwickeln.
2) Außerdem hat die Untersuchung von historischen Persönlichkeiten immer ein methodisches Problem: Die Leute können nicht persönlich befragt werden. Vielmehr bemüht man sich um Ferndiagnosen anhand der literarischen Hinterlassenschaften des Autors und Beschreibungen von Zeitgenossen.
3) Und vielleicht suchen nicht nur die Kranken selbst, sondern auch die Zeitgenossen und Forscher gerne einen Sinn in den psychischen Krankheiten anderer, wie Hegerl oben meinte. Insbesondere wenn man sie für ihr geniales Können bewundert und schätzt.
4) Wichtig erscheint mir noch der Leidensdruck & das Suizidrisiko der Betroffenen, die sich nicht positiv interpretieren lassen - ich kann das schließlich aus eigener Erfahrung sagen. Viele Schriftsteller litten immens unter ihrer Krankheit und nicht wenig begingen Selbstmord (vgl. Selbstmordgedanken) Da nützt eine besondere Begabung dann auch nichts mehr…
Zum Schluss ein schönes Zitat von Viktor Frankl zum Thema “Schriftsteller & Pathologie” (14):
“So sehr es aber auch richtig sein mag, dass Pathologie an sich noch lange nicht gegen ein Werk spricht, sowenig spricht Pathologie als solche zugunsten des Werkes. Wann immer ein Schriftsteller geisteskrank war – ein bedeutendes Werk von ihm ist nie wegen, sondern trotz seiner Psychose zustande gekommen.
Krankheit selbst ist niemals schöpferisch.”
Evtl. auch interessant für Dich: Melancholische Depression
Krise als Chance? – Mythos: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker
Quellen:
1) Sophie Haidacher: Depressive Schriftsteller, 2003
2) Miriam Zeh: Depressionen in der Literatur: Das erschöpfte, handlungsunfähige Selbst
3) Prof. Dr. Volker Faust: Genie und seelische Störungen
4) Joachim Czichos: Genie und Wahnsinn: Schriftsteller besonders gefährdet durch psychische Störungen (wissenschaft-aktuell.de)
5) Business Insider: Forscher untersuchten Tausende Menschen mit Depressionen – sie fanden eine völlig unerwartete Gemeinsamkeit (27.09.2019)
6) Valentina Resetarits: Es gibt eine seltsame Verbindung zwischen Depression und Erfolg
7) Genes for Psychosis and Creativity: A Promoter Polymorphism of the Neuregulin 1 Gene Is Related to Creativity in People With High Intellectual Achievement, 2009
8) Karolinisches Institut – Link between creativity and mental illness confirmed
9) Robert A Power et. al.: Polygenic risk scores for schizophrenia and bipolar disorder predict creativity (nature neuroscience 2015)
10) Andrew Solomon: Die dunklen Welten der Depression (S. Fischer Verlag)
11) Ragnar Vogt: Kunst, Kreativität und Depression
12) Deutsches Ärzteblatt: Schriftsteller leiden oft unter psychischen Problemen
13) Prof. Dr. Martin Obschonka: Die “dunkle Seite” der Talentierten (The Inquisitive Mind 2015)
14) Viktor Frankl: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn (1986)
Depressionen ziehen schwere Folgen nach sich und bilden massive Beeinträchtigungen in allen Lebensaspekten der Betroffenen und Mit-Betroffenen. Nicht nur für Einzelne sind sie eine Gefahr: Bereits seit den 1990er-Jahren gelten Depressionen als eine der psychischen Erkrankungen, welche die Gesellschaft am stärksten belasten.